Während das deutsche Schlagerkartell mauert, avanciert England zum europäischen Brückenkopf des Rock’n’Roll

Die Kritik war sich einig: „Aggressiver Schund“, urteilte die „Times“, und die Pop-Postille „NME“ geiferte: „Gewalttätiger, hüftewackelnder, primitiver Exhibitionismus von obszöner Vulgarität“. Anlaß für das kollektive Entsetzen war der Auftritt des 18jährigen Cliff Richard in Jack Goods Fernseh-Show „Oh Boy“. Die Mädchen kreischten & kippten gleich reihenweise um, der Rock’n‘ Roll hatte nun in Europa endgültig Fuß gefaßt.

Das Jahr: 1958.

Natürlich war Elvis längst Leitbild, Bill Haley hatte getourt, folglich war der Boden bereitet für den kulturellen Umbruch. Zudem hatte es davor bereits etliche europäische Eigengewächse gegeben, die dem giftigen amerikanischen Efeu nacheiferten, doch waren das nur halbherzige Versuche oder platter Etikettenschwindel. Während in Frankreich der junge Johnny Hallyday den Spagat zwischen Chanson und Rock’n’Roll noch probte und dabei ständig auf die Nase fiel, was seiner späteren Popularität freilich keinen Abbruch tat, hatte sich hierzulande das Schaugeschäft auf deutsche Weise an die Rockzipfel der globalen Musikrevolution gehängt. Für Peter Kraus und Ted Herold, beide nette Jungs von nebenan, bodenständig und blitzsauber, wurden US-Hits eingedeutscht und in Ermangelung einschlägig vorbelasteter Musiker mit dem Sound flotter Tanzorchester unterlegt. Oder man peppte heimische Schlager etwas auf, reicherte sie mit authentischen Sprachkrümeln an („Baby“ verfehlte seine Wirkung nie), setzte Ted aufs Motorrad und gab Peter eine Conny zur Seite, die so frisch und unschuldig war und so herzig sang, daß jeder linde Antagonismus zwischen den Generationen durch ihre Kiekser im Keim erstickt wurde.

Von einem harten Kern halbstarker Rocker abgesehen, die ihre Kicks ausschließlich von den Originalen bezogen, war Rock’n‘ Roll in Germany gegen Ende der Fifties kaum mehr als Futter für die Tanzschulen. Diese allerdings bekamen Zulauf von jungen Leuten, die sich lieber zu „Rock Around The Clock“ drehten als zu Glenn Miller und Max Greger. Auf den Labels der in Deutschland gepreßten R’n’R-Scheiben fanden sich dazu nützliche Anleitungen in Klammern: „Whole Lotta Shakin‘ Goin‘ On“ (Schneller Foxtrott).

Nur auf der Insel gingen die Uhren etwas anders. Skiffle war das große Ding und hatte die Tür weit aufgestoßen für schnelle, laute und überbordende Musik. So hatten schon die frühesten britschen Rock’n’Rou-Aufhahmen ganz eigene, unzweifelhafte Qualitäten, von Tony Crombies stampfenden Rhythmen und Tommy Steeles vaudevilüanisch-zupackenden Hits über Terry Denes nervöse Energie bis zu Marty Wildes engagiert rokkenden Pop-Perlen. Was nur noch fehlte, waren die Faktoren Sex und Rebellion, eine Identifikationsfigur, die in der Lage gewesen wäre, den Rock’n‘-Roll als way of life zu verkörpern.

Als die bessere englische Gesellschaft ihre Fassung verlor ob diesem Jungen mit wilder Tolle und spitzen Schuhen und seltsamen Verrenkungen und die Publizisten den Untergang des Abendlandes heraufziehen sahen, war der Katalysator gefunden. Im August 1958 erschien mit „Move It“ die erste perfekte Kristallisation britischer R’n‘ Kultur: „Ballads and calypsos have got nothing on/ Real country music that just drives along.“

Es war Cliff Richards durchschlagender Erfolg und der charakteristisch twangige Rockabilly seiner Drifters, die eine genuin britische Rock’n’Roll-Tradition begründeten: Dikkie Pride, Vince Taylor, Johnny Kidd, Adam Faith und Billy Fury.

England war nun gewappnet, England war gewarnt und gerüstet für eine wilde, ungewisse Zukunft voller Unwägbarkeiten – und die Sixties konnten kommen.

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