Während Pulp Pause machen, hat Jarvis Cocker eine neue Identität als Provinz-Proll angenommen und die Elektro-Rockband Relaxed Muscle gegründet

Wahrscheinlich hat der kleine Schüler Jarvis Cocker in Sheffield den Deppen aus Doncaster immer Senf auf die Autotürgriffe geschmiert. Beautiful London lacht über das hässliche Sheffield, Sheffield lacht über das, was eine gute Autofahrt entfernt noch hässlicher ist. Darren Spooner von Relaxed Muscle wohnt in Doncaster. Er ist 44 Jahre alt, Jarvis Cocker ist auch schon 40. Spooner geht nicht oft aus, Cocker wohl auch nicht mehr, denn er hat Frau und Kind. Spooner singt, Cocker auch, und sie haben beim Singen dieselben hübschen Wangenknochen. Hätte Cocker ernsthaft verhindern wollen, dass die Leute merken, dass er selbst Darren Spooner ist, hätte er das hinbekomEnde 2002 gezwungenermaßen aus dem Vertrag bei Island verabschiedeten, lief übeL Das klang, als sei die Band aufgelöst – bis Cocker dem „Observer“ erklärte, dass Pulp wieder eine Platte machen würden, wenn sie etwas Vernünftiges zu sagen hätten. Zwischendurch ging er als DJ mit dem lustigen Chor The Polyphonic Spree auf Tournee, heiratete eine Frau namens Camille, zeugte einen Sohn namens Albert. Der junge Jarvis hätte gemutmen. Aber er wollte nicht. Ironie ist zurück, hallo!

Als Jarvis Cocker vor gut zwei Jahren das letzte Album seiner Band Pulp promotete, durfte man sich mit dem „Zillo“-Korrespondenten 20 Gesprächsminuten teilen. Heute bietet die neue Plattenfirma ohne Umstände eine Dreiviertelstunde Einzel-Interview, allerdings nur am Telefon. Cocker müsse sich ganz in das Rollenspiel vertiefen, erklärt der Kontaktmann, das sei Auge in Auge zu schwierig. Das Label nennt in den Anzeigen für die Platte „A Heavy Night With Relaxed Muscle“ keine echten Namen, zitiert bloß vielsagend aus der britischen „Sun“: „It’s Jarvis Shocker!“ Man müsse ihn beim Interview als Darren Spooner ansprechen und dürfe auf keinen Fall über Pulp reden. Sonst legt er auf, und das wäre schade.

Es gibt gar nichts zu reden über Pulp. Bekannt ist, dass die Band vom Britpop-Start-up und Stolz Englands zum untragbaren kommerziellen Flop wurde. Sogar das Best-of-Album, mit dem Pulp sich maßt, dass ein solcher Lebenslauf alle Poesie wegschluckt. Es gibt keinen Grund mehr, eine Band zu haben.

Keinen lebenspraktischen Grund, künstlerische schon. Beim Lee-Hazlewood-Konzert in London Ende September 2002 traten „Jarvis Cocker & Friends“ im Vorprogramm auf. Die Friends waren Pulp-Kollege Richard Hawley und zwei Mitglieder der Elektro-Punks Fat Truckers, Cocker zerschlug sich angeblich eine Flasche auf dem Kopf und sang zu Synthesizern extrem harsche, monotone neue Songs. Drei davon kamen im April als erste Relaxed Muscle-Single heraus, ab sofort mit falschen Namen und Kriegsbemalung.

Melodiegeile Pulp-Fans mögen das Album höchstens wegen der vertrauten Stirnme, ansonsten klingt es heftig, schaurig und mehr nach Rock’n’Roll als alles von Pulp. Blur-Damon hat die Gorillaz, Noel Gallagher hat die Chemical Bromers. Cocker hat Leute, die ihm richtigen Underground-Beat programmieren. Nicht alles ist geglückt, aber lyrisch ist er ganz auf der Höhe („This is when the rabbit teaches the eagle a lesson/ With his Smith & Wesson“). Zum grandiosen Elektro-Twist „Tuff It Out“ kann man schön auf den Tischen tanzen wie zu „Wooly Bully“ von Sam The Sham & The Pharaohs.

Das Telefon. Cocker sagt mit tief verstellter Stimme guten Morgen, er sei Darren Spooner, 44, aus Doncaster, und verbeißt sich dasselbe Lachen wie sein Gesprächspartner. Leider trägt Spooner wenig zur Klärung der Sache bei: Er habe früher in Arbeiter-Freizeitheimen Rock’n’Roll-Klassiker gesungen, Relaxed Muscle seien der erste Versuch mit jungen Musikern. Privat höre er Barry White,Indie-Stuff kenne er nicht, und von Britpop hat er nichts mitgekriegt, weil er damals Alkoholprobleme hatte.

In vielen Pulp-Liedern hat Cocker davon gesungen, wie die Mittelschicht die Arbeiterklasse für ein paar cheap thrills missbraucht. Spielt er deshalb nun aus Trotz den Einfältigen? Im Interview darf der Charakter Spooner zwar reden, auf der Bühne ist er eins zu eins das Sprachrohr Cockers, denn der wäre viel zu arrogant, um eine wirkliche Proll-Platte zu machen. Und das ist sehr, sehr gut so.

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