Westernhagen vs. Grönemeyer – Das deutsche Duell

Januar 2009 Seit den 80er-Jahren sind Marius Müller-Westernhagen und Herbert Grönemeyer die prägenden (und verfeindeten) Figuren der deutschen Rockmusik. Eine Annäherung.

Der weltfremde Armani-Rocker Westernhagen? Der nahbare Tresen-Mensch Grönemeyer? Nun, wie auch immer, jedenfalls sind oft ja interessanter als Verkündigungen selbst: die Orte der Verkündigungen. Wo also man etwas – auch das ist aufschlussreich – von wem erfährt. Zwei Berliner Szenen, Sommer und Herbst 2008: Nach einer Modenschau des amüsanten Glam-Proleten Michalsky in irgendeiner dieser zahllosen brachliegenden und nur noch nachts anlässlich sogenannter Events manchmal belebten Berliner Fabrikhallen; gerade waren die letzten Klänge von einem wumsenden Höllenritt des ewig guten DJ Hell verklungen und die letzten Models durch einen Vorhang gehungerhakt, die lächerlichen Wedel-Fächer in der ersten Reihe waren eingesteckt worden, man hatte etwas ratlos geklatscht, und nun begann das allgemeine Rumgestehe, Zugeproste und Verhandeln mit dem Türsteher über den Einlass noch draußen stehender Freunde – wie das eben immer so ist auf solchen Veranstaltungen. Man ist ja wirklich nicht wegen der, huhu, Mode da.

Und da stand nun mit durchgängig nickendem Kopf und einem Nuckelbier in der Hand: Tim Renner. Als der noch Musikindustrieller in großem Stil war, habe ich mal ein Jahr lang bei ihm gearbeitet, danach wurde er Musikindustrieller in noch größerem Stil und ich irgendwas anderes; heute ist auch Tim Renner irgendwas anderes, er hat sich selbstständig gemacht, betreibt einen Radiosender, ein Künstlermanagement und alles Mögliche, am liebsten: im Internet. Guten Abend, Tim, was läuft denn so? Unter anderem, zählte er auf, berate er jetzt Marius Müller-Westernhagen. „Herrn Westernhagen“, sagte Renner, der allzeit ironisch auf der Hut ist. Aha, soso, na, da gibt es sicherlich einiges zu tun. Also, sagte Renner und stellte sein Bier auf einen Lautsprecher, um mithilfe beider Hände alles ganz genau erklären zu können; es war nun klar, dass innerhalb der nächsten Sekunden das Wort „Internet“ fallen würde. Das Problem sei ja, dass Westernhagen überhaupt keine Fan-Adressen habe. Bitte – was? Ja, da sei über Jahre geschlampt worden, und wenn man nun mit einem neuen Album an den Markt ginge, heutzutage!, dann brauchte man vor allem Mailadressen von Anhängern, um die gescheit informieren zu können. Dynamik und so.

Daher werde man nun mehrstufig vorgehen, erst könnten sich die Westernhagen-Fans online ihre Lieblingslieder aussuchen, diese werde Westernhagen dann auf Konzerten spielen und zeitgleich ein Best-of-Album veröffentlichen, ebenfalls auf Basis dieses Volksentscheids, von Renner „Fan-Voting“ genannt. Durch die Stimmabgabe gebe der Fan auch seine Mailadresse her und sein Einverständnis, auf diesem Wege über nächste Karriereschritte Westernhagens informiert zu werden. Termin, perfekter Termin für all dies sei Westernhagens 60. Geburtstag im Dezember.

Oh, lustig, da schreibe ich was drüber, sagte ich. Schön, zuständig für die Pressearbeit sei übrigens eine gute alte Bekannte aus seligen Hamburger Motor-Music-Zeiten, die Gaby – na logo, die Gaby, die rufe ich dann mal an, schönen Abend noch, Tim. Er nahm seine Bierflasche, ich meinen Mantel, Kopfnicken, bis später.

Einige Wochen darauf, am Tresen der Paradieskantine Grill Royal in der Berliner Friedrichstraße. Ich stand mit meinem Kumpel Moritz dort an unserem Stammplatz, wir blödelten mit den Jungs hinterm Tresen herum und blickten durch den Gastraum, ob denn jemand da ist, der uns interessiert. Irgendwer ist immer da, das unter anderem ist das Schöne am Grill Royal. Ziemlich in der Mitte saß mit einer Freundin von uns, die ihn seit Jahren berät: Herbert Grönemeyer. Jetzt hingehen, Hallo sagen? Erst mal winken, wenn die gucken. Sie guckten, wir winkten, und als sie sich zum Gehen aufmachten, standen wir natürlich immer noch am Tresen, wir sind in der Hinsicht, um mit Jogi Löw zu sprechen, „konditionell sehr gut aufgestellt“.

Grönemeyer ist ja, wenn man ihn an so Orten der Beiläufigkeit trifft, immer sehr lustig, geradezu albern. „Steht ihr hier immer rum, oder was?“, fragte er, wir bejahten, und so ging es heiter hin und her. Seine Beraterin berichtete dann, weil sie weiß, dass ich mich seit meiner Kindheit immer sehr für Grönemeyers Musik interessiert habe: „Herbert hat einen neuen Hit geschrieben.“ Echt wahr, ja? Ja, der Titel sei „Glück“. Oha, klingt herrlich. Alex Silva, der Produzent, stand auch dabei und sagte, dass bei „Glück“ erstmals der Remix vor der endgültigen Version des Lieds fertig geworden sei. Ein Premix also, verdammt, man hätte ihn eigentlich genau so nennen sollen, schade, nun sei es zu spät. Erscheinen, und zwar bald, werde dieser Hit auf einem Best-Of-Album, Herberts erstem überhaupt, man habe sich immer dagegen gewehrt, aber nun in Gottes Namen käme es also, und so sei man auch auf den Albumtitel gekommen: „Was muss muss“. Mit Komma oder ohne, fragte ich Herbert, und der giggelte: Komma, was’n für’n Komma? Komma, klar! Ohne Komma natürlich. Aber mit neuem Hit.

Herr Westernhagen und Hey Herbert also? Modenschau und Tresen. So ist das heute. Ja, das kommt schon hin.

Im Frühwerk ist die Kneipe ganz eindeutig der Westernhagen-Ort. Da hieß er noch Müller-Westernhagen (und Grönemeyer sang: „Hier in dem Lokal“, Lokal – nicht Kneipe!). Auf seinem Weg zu dem, über dessen Pläne man am Rande einer Modenschau informiert wird, legte Marius 1987 den „Müller“ ab, nannte sich fortan nur noch Westernhagen, und merkwürdigerweise begann genau damit eine große zweite Erfolgsphase des Sängers. Müller, Meyer nicht ohne Komik, dass die beiden exponierten deutschen Musikhelden, von denen hier die Rede sein soll, diese Allerweltsnamen mit sich herumschleppen. „Müller, Meyer“ – das ist die Titulierung nicht näher bekannter Durchschnittsvertreter der anonymen Masse, der Clique um Erika Mustermann. Und als Summanden vielleicht doch ganz geeignete Namensbestandteile für unsere Volkssänger?

Diese beiden miteinander zu vergleichen, lag immer nah und war doch nie gestattet, zumindest von den beiden nicht gern gesehen. Kann man auch verstehen. Und es gibt genug Gründe, beide als Solitär zu akzeptieren. Andererseits: So viele Rockschaffende dieser Größenordnung haben wir nun auch wieder nicht in Deutschland. Genau genommen: niemanden sonst. Lindenberg ist ein Sonderfall. Kunze ist Kunze, und Niedecken eben Niedecken, die zählen hier nicht (und bei Bushido wollen wir noch Teil zwei seines Lebensberichts abwarten).

Aktuell ist Grönemeyer sicherlich ohne Konkurrenz, und Westernhagen gewissermaßen außer Konkurrenz, außen vor. Nimmt man als Grundlage für etwaige Größenbemessungen Prosaisches wie Verkaufszahlen, ob von Platten oder Konzertkarten, ist wertfrei festzustellen, dass mal der eine, mal der andere vorn lag. Zeitgleich waren sie nie ganz oben, wie auch – es scheint also die Geschichte dieser Differenz auch eine der Verdrängung zu sein.

Beide sind oder waren Schauspieler, beide haben eine Zeitlang parallel Filme gedreht und Platten aufgenommen, Westernhagen fuhr im LKW, Grönemeyer im U-Boot über die Kinoleinwände. Oder der eine saß als Robert Schumann mit Nastassja Kinski am Klavier, während der andere als „Dorn“ (in Fausers Roman-Vorlage natürlich „Blum“) mit einem Drogen-Koffer durch Frankfurt taperte – und jetzt bitte mal raten, welcher von beiden hier der eine und welcher der andere war. Heute jedenfalls sind die Drehbücher zu schlecht, sagen beide.

Und ist nicht allein die Menge herrlicher Anekdoten, die es über die selbstverständlich niemals offen bekannte Rivalität zwischen ihnen gibt, hinreichend als Begründung für einen Vergleich? Warum nicht die Koinzidenz ihrer Werkschau-Veröffentlichungen zum Anlass nehmen, das Verbotene eben doch zu tun? Natürlich keine Punkte vergeben, aber doch die Werke der beiden, von der ersten Platte bis heute, mal nebeneinanderhalten, mal dran entlang erzählen, wie die Zeit so verging. Wäre es nicht schön, mit einem Karton Gesamtwerk sich mit beiden (natürlich nicht zusammen!) hinzusetzen und es Platte für Platte mal durchzugehen? Was war und bleibt groß, was waren die Irrtümer, wofür schämt man sich heute, woran kann man sich gar nicht mehr erinnern? In der Vergangenheit habe ich den beiden, wann immer ich ihnen begegnete, stolz wie einer dieser seltsam einseitig begabten oder trainierten Wettkandidaten bei „Wetten, dass ..?“ meine Werkkenntnis vorgeführt, ihnen irgendwelche Textsprengsel ihres Frühwerks aufgesagt, und sie fanden das immer ganz amüsant.

Januar 2005, Zürich: In einem mittelhippen Keller stellt Grönemeyers Label Grönland den in Maßen stets aufgeschlossenen Schweizern einige seiner Künstler vor. Und da ist ja auch Herbert, hallo, Herbert! Bisschen rumalbern und ihn jetzt quälen: Texte seiner ganz frühen Platten aufsagen! Auf denen hat er einst viele Fremdtexte eingesungen, logisch, dass er die heute nicht mehr im Ganzen parat hat, aber für mich waren es immer Grönemeyer-Lieder, und die habe ich als Kind so oft gehört, dass ich sie bis heute lückenlos auswendig hersagen kann.

Also, Herbert, los – in welchem deiner Lieder kommt die Schweiz vor? Keine Ahnung, sagt er, Schweiz? Weiß er nicht, ist ihm auch herzlich wurscht. Das hatte ich gehofft, und los geht’s: „Wir woll’n vom Ruhrpott nach Wien/ Eine Fahrt in die Schweiz/ Hätte auch seinen Reiz …“ Na? „Stau“, das erste Lied auf deiner Platte „Zwo“. Ach Gott, dieses alte Zeug, warum kennst du das denn, fragt Grönemeyer belustigt und einen Tick mitleidig.

Frühjahr 2004, Hamburg: auf einem Sofa zu Hause bei Westernhagen. Er arbeitet gerade an einer neuen Platte, die ein Jahr später erscheinen,, ,Nahaufnahme“ heißen und kein großer Erfolg werden wird. Was ich immer mit diesen Uraltsachen wolle, fragt er nett über den Rand der Espressotasse, es ehre ihn ja, dass ich die so im Kopf habe, aber die neuen Sachen hätten eine ganz andere Qualität und so weiter. Mag alles sein, aber ich möchte doch so gern ein bisschen mit ihm genau dieses alte Zeug singen oder zumindest die Texte aufsagen und mir die Geschichten dazu anhören. Lieber Marius, die neue Platte wird bestimmt prima, aber sei bitte nicht nervös deshalb, du bist immerhin der Autor zum Beispiel dieser Zeilen: „Marion aus Pinneberg, du fährst jeden Samstag in die Stadt zum Tanzen/ Du ziehst die engsten Hosen an, klebst Wimpern, du musst nicht zu Firma Franzen“. Der Autor dieser Zeilen muss doch niemandem mehr irgendwas beweisen, Marius! Eine nette Geschichte erzählt er dann zu einer älteren Platte, also, die Band habe im Studio derart schnell gespielt, dass er mit dem Singen kaum hinterhergekommen sei. Erst später habe er erfahren, dass außer ihm alle im Studio abgefüllt waren mit beschleunigenden Betäubungsmitteln, er sei in dieser Hinsicht immer sehr naiv gewesen, habe da nie mitgemacht.

Solche Geschichten möchte man doch hören! Und es ist zugleich klar, dass man sie nicht direkt bekommen wird. So freundlich beide im persönlichen Umgang sind, so kompliziert wird es, wenn man sie offiziell interviewt. Da wird dann alles sehr vorsichtig, langweilig, achtmal gegengelesen, umgeschrieben und zu Tode korrigiert. Das ist ihr gutes Recht, natürlich. Aber schade ist es. Trotzdem der Versuch, die Best-of-Alben sind doch ein schöner Anlass, mal entspannt auf das Werk zurückzuschauen.

Im Frühjahr 1998, zur Veröffentlichung von „Bleibt alles anders“, interviewten mein alter Gefährte Arne Willander und ich in Berlin gemeinsam für dieses Blatt Herbert Grönemeyer. Der verlässlich top ausgerüstete Willander hatte im Hamburger Bahnhofs-Drogeriemarkt extra noch die allererste Grönemeyer-CD gekauft, und Grönemeyer hat uns dann im Hotel Adlon schwungvoll erzählt, wie „relativ unerträglich“ er diese Platte mittlerweile fände, dass er das Cover zum ersten Mal gesehen habe, als er die fertige Platte in der Hand hielt – und auf seine Beschwerde hin, das sehe ja scheußlich aus, orange, gelb, dazu dieses Zivildienstleistendenfoto von ihm, habe ihm die Plattenfirma erklärt, nein, ganz im Gegenteil, das seien Sonderfarben. Sonderfarben!

So unterschiedlich ihre aktuelle Beliebtheit auch sein mag, über die Jahrzehnte haben doch Grönemeyer und Westernhagen so viel Großes und logischerweise auch manch Nichtiges in die Welt gestellt, anders geht es doch gar nicht, kann man das jetzt nicht mal, mit der Distanz der Jahre, gelassen auffächern, bisschen stolz, bisschen selbstironisch?

Nein. Anfragen in dieser Richtung werden umgehend abschlägig beschieden, von beiden.

„Herbert geht nur zu, Wetten, dass ..?“‚ – „Marius gibt nur ein Interview, und zwar der, BILD‘-Zeitung.“

Bei Grönemeyer hat es gar keinen Zweck zu betteln, er hat ein perfekt organisiertes Abschirmsystem um sich herum installiert, das zu respektieren man gut beraten ist. Ich probierte es im Falle Westernhagens aber noch mal bei besagter Gaby. Als sie mich zurückrief, stand ich gerade im Berliner Zoo und beobachtete am Gehege des Eisbären Knut die Kranzniederlegungen der um den verstorbenen Eisbärenpfleger Thomas Dörflein trauernden Berliner, eine einigermaßen groteske Telefonierumgebung also. Nein, sagte Gaby, schade, aber aus diesem Interview-Plan werde nichts. Es habe ein Gespräch mit einer Illustrierten gegeben, das so blöd verlaufen sei, dass man es zurückgezogen habe und nun überhaupt gar nichts mehr mache, bis auf eine Serie in „BILD“.

Ja, aber, sagte ich, liebe Gaby: „Und glaub an mich, Schatz, wenn ich in die Saiten dresche …“

„Wie bitte?“, fragte Gaby.

Ich zitierte weiter: „Ich sing‘ den Blues, und du machst die Wäsche.“

Was denn das jetzt heißen solle, fragte Gaby, und wo ich mich überhaupt gerade befinde, da seien hintergrundwärts so komische Geräusche zu hören.

Nun, sagte ich, ich stehe am Gehege des Eisbären Knut – und das eben war der riesige Marius-Text „Geiler is‘ schon“.

Ob es mir aber ansonsten gut gehe, fragte die Gaby irritiert.

„Keine Ahnung, keine Meinung, kein Konzept/ Keine Lust, um aufzustehen“ hätte ich jetzt das leider sehr dämliche Westernhagen-Lied „Es geht mir gut“ zitieren können. Aber wozu? Wenn nicht mal „Geiler is‘ schon“ als bekannt vorausgesetzt werden kann, erübrigt sich der Rest.

Weil sie klugerweise nicht jeden Klimbim mitmachen, gelten Westernhagen und Grönemeyer hier und da als „schwierig“. Das ist Unsinn, und ein bisschen ist es doch auch wahr. Sie sind einen anderen Weg gegangen als beispielsweise Udo Lindenberg, der immerzu und mit jedem spricht, dessen Handy-Nummer praktisch jeder dritte Deutsche besitzt, und der alle Vor- und Nachteile dieses permanenten Basiskontakts mit Wonne erträgt.

Schön, also allein hinsetzen mit zwei Kartons aller CDs, DVDs und Bücher von, mit und über Westernhagen und Grönemeyer. Werk, sprich! Mal der Reihe nach:

Frühe Schandtaten

Die erfolglosen Anfänge, das vergurkte Frühwerk – linear verlaufende Erfolgsgeschichten bieten den Vorteil, dass der Künstler später gütig lächelnd zurückschauen und kokett seine Fehltritte eingestehen kann: Seht mal, ich war nicht immer schon gut und erfolgreich. Aber ich habe mich durchgebissen. Vor zehn flipperspielenden, saufenden, buhenden Leuten gespielt, Flop-Platten aufgenommen, von keinem Radiosender gespielt, in der Jugendherberge übernachtet. Doch dann, „über Nacht“ – und eben auch nicht über Nacht, alles hart erarbeitet und so weiter. Westernhagen hatte drei, Grönemeyer sogar vier erfolglose Alben in die Welt gestellt, bevor dann das kam, was allgemein Durchbruch genannt wird. „Das erste Mal“, Westernhagens Debüt-Platte aus dem Jahr 1975, ist – heute gehört – nicht gar so blamabel wie „Grönemeyer“, die erste Herbert-Platte (eben jene sonderfarbene), die 1979 herauskam. Westernhagen steht mit etwa bis zur Brust hochgezogener weißer Hose und weißem T-Shirt da auf seinem ersten Cover herum, die Hände hinterm Rücken versteckt, Jungfrau durch und durch. Beinahe alle Kompositionen auf dieser Platte stammen von ihm, rührende Liedchen, eins über den Papa, eins über die Mama – aber hier und da blitzt schon etwas auf, der Großstadt-Cowboy, Held seiner späteren besten Lieder, ist in Umrissen erkennbar. Es muss gesagt werden, gegen das Bild an, das Westernhagen heutzutage öffentlich von sich entwirft: Er hatte Humor. Er war lässig. Sexy sowieso.

Grönemeyer hat seine erste Platte mittlerweile leider „vom Markt nehmen lassen“, man bekommt sie nur noch im Gebrauchthandel. Es steckt ordentlich Power in dieser Formulierung „etwas vom Markt nehmen“, das klingt und ist mächtig, überhaupt ist Grönemeyer neben allem anderen ein großer Vom-Markt-Nehmer, dazu später mehr. Nicht nur das Cover missfällt ihm heute, auch die Lieder dieser ersten Platte, und das versteht man gut. Eigentlich, erzählt er heute, habe er da eine völlig fremde Platte aufgenommen, die meisten Kompositionen waren von zwei Herren erdacht, die später folgerichtig als Autoren für den Schlager-Grand-Prix auffällig wurden. Über seinen ersten eigenen deutschen Liedtext lacht Grönemeyer heute bereitwillig, erzählt auch gerne, wie ihn seine Kinder zu Hause manchmal mit Zitaten dieses dürftigen ersten Versuchs foltern: „Guten Morgen, Herr Bäcker, frische Brötchen!“ – lachender Grönemeyer. Er wurde dann nicht schlagartig, aber stetig besser, die Platten „Total egal“ und „Gemischte Gefühle“ sahen nicht nur besser aus, sie klangen auch weniger läppisch, einige Lieder haben bis heute überlebt, die Texte handelten nicht mehr von frischen Brötchen. Wie warme Semmeln verkauften sie sich trotzdem noch nicht.

Vor dem ersten großen Erfolg also: junge Männer, fast noch Jungs, die hörbar gerne singen. So ganz haben sie den Bogen, damit auch ihre späteren Manierismen, noch nicht raus. Hat das Charme? Natürlich, klar, Charme hat es, Charme und Scham halten sich die Waage.

Rumms – Der erste Erfolg

„Draußen ist es grau/ Ich sitz mit dir hier blau“ – das war, wie sagt man, eine Ansage. Westernhagens „Mit Pfefferminz bin ich dein Prinz“ brachte ihm 1978 völlig zu Recht den großen Ruhm. Gegen diese Platte waren die vorangegangenen zielloses Gehampel, jetzt stand er da, sauber zu Ende gedacht, in Jeans und Lederjacke, mit einer Flasche Rum in der Hand, im Hintergrund das ganz klassische Kneipenpersonal (eine scharfe Blondine mit Kippe im Maul, ein Geschäftsmann am Münzfernsprecher, ein wanstiger Biertrinker). Mit diesem Typen, das war klar, wollte man durch die Nacht toben. Er sang über Hehler, Nutten, Suff, Spießer, Denunzianten – und er sang, wie es sich für geniale Frühwerke gehört, ein Lied, das ihm heutzutage übel in die Quere kommt; „Mit 18“ heißt es, und darin singt Westernhagen prophetisch luzid über das Dilemma seines Spätwerks: „Jetzt sitz ich hier, bin etabliert/ Und schreib auf teurem Papier (…) Ich möcht‘ zurück auf die Straße/ Möcht‘ wieder singen, nicht schön, sondern geil und laut.“ Damals war er genau das: geil und laut. Und alle grölten mit. Heute singt er schön. Das (und nicht: das teure Papier) ist das Problem.

Grönemeyers erster Hit kam noch überraschender, pointierter: Nach den ersten vier Versuchen hatte seine Plattenfirma aufgegeben und den Vertrag nicht verlängert, auch der Konzertveranstalter Fritz Rau sah keine Zukunft mehr für diesen Sänger – und dann kam 1984, mit neuem Tourneeveranstalter, bei einer neuen Plattenfirma (die bis heute dieselbe geblieben ist): „Bochum“. Grönemeyer sang über „Männer“, „Alkohol“,, ,Amerika“ und „Flugzeuge im Bauch“. Zehn Lieder, zehn Hits – bis heute ist dies eine seiner besten Platten. Auf dem Cover stand der Name seines zwar nicht Geburts-, doch aber Heimatorts Bochum, mit Postleitzahl, das war frech und ist bis heute schön.

Pubertäts-Soundtrack

Und damit es jetzt nicht sehr langweilig wird, soll nicht die ja ausreichend bekannte Erfolgsgeschichte beider Sänger nacherzählt werden. Stattdessen ein kurzes Bekenntnis, zum Verständnis, ich muss das hier einflechten und auch ausdrücklich ICH sagen, da die gängige Reaktion von Freunden oder Nachbarn auf heutiges lautes Aufdrehen alter Platten der beiden hier behandelten Herren zwischen Entsetzen und Unverständnis oszilliert: „Was willst du denn mit denen?“

Tja, was will ich mit denen? Nun, zu wollen gibt es da nichts, diese Lieder, die ganz alten zumal, haben mich in einer Phase angeweht, auf die ich keinen ändernden Zugriff mehr habe. Nennen wir sie der Einfachheit halber: Pubertät. In diesem schönen Alter hat Musik zuallererst eine Funktion zu erfüllen. Man ist da eben gottlob kein Musikhistoriker, der zum Beispiel eine Westernhagen-Platte grundsätzlich verschmäht: Ist doch ein billiger Stones-Abklatsch. Oder eine Stones-Platte: Ist doch alles von Chuck Berry geklaut. Das alles ist dem 14-Jährigen komplett wurscht. Auch die Neunmalklugen, die völlig zu Recht einwenden, Ende der 80er-Jahre gab es doch dies und das, da war man doch so und so, wenn man Deutschrock gehört hat – auch die sollen sich zum Teufel scheren. Es ist doch vollkommen egal. Das Schöne an dieser frühen Unbedarftheit ist doch gerade, dass man so wenig weiß und das Erstbeste für das Größte zu halten in der Lage ist. Heute 13-Jährige sind herzlich eingeladen, in 20 Jahren die Wirkgeschichte von Tomte oder Kettcar zu referieren. Ich habe zwischen Kindheit und Erwachsenem gerne Westernhagen und Grönemeyer gehört, punkt, aus. Schon damals wurde man dafür ausgelacht, natürlich, aber das war gutes Training. Und so habe ich diese Platten naheliegenderweise zumeist allein gehört, immer wieder, ich hatte die Textblätter auf den Knien liegen, habe den Kram auswendig gelernt, und zum Glück ist in einem normalen Kopf viel Platz, sonst würde ich mich vielleicht dann und wann ärgern, dass ich alle Lieder von Westernhagen und Grönemeyer bis etwa 1990 auch heute noch ausnahmslos aufsagen kann.

Die Musik? Schwer zu sagen. Was für Musik ist das eigentlich? Rock ja eigentlich nicht. Grönemeyers frühe Platten: Schlager; die mittleren: Matsch; die späten: interessanter Pop? Westernhagen: Blues-Rock? Tut mir leid, finde ich vollkommen unerheblich. Die Funktion der Musik ist wichtig, nichts weiter. Was braucht der 13-, 14-Jährige? Er braucht Anleitung, Welterklärung, Verheißung, Untermalung zum Verliebtsein, zum Tornister-in-die-Ecke-Werfen, zum Knutschen; er muss Lieder im Kopf haben, wenn er hinter der Schulsporthalle eine erste Zigarette raucht oder nachts heimlich durch die Verandatür raus ins elektrische Leben schleicht. Das braucht er. Und das kann nahezu jede Ausformung von Musik leisten.

Man fährt dann natürlich auch zu Konzerten. Mein erstes Konzert überhaupt: Herbert Grönemeyer in der Eilenriedehalle Hannover. Gerade war seine Platte „Luxus“ erschienen, die er selbst heute als etwas borniert empfindet. Darauf wäre ich damals nie gekommen, ich war eben Fan, und das Einzige, was ich zu entscheiden hatte: ob ich mir ein T-Shirt kaufe oder ein Bahn-Rückfahrtticket. Mit dem T-Shirt auf der Zugtoilette – möchte ich nicht missen, diese Fahrt.

Wer ist der Größte im ganzen Land?

Heute sind wir ja alle wahnsinnig viel schlauer, und man kann distanziert allerlei feststellen: Von 1984 bis 1990, also von „Bochum“ bis „Luxus“, hat Grönemeyer durchgängig erfolgreiche Platten veröffentlicht, Westernhagen hatte in dieser Zeit interessante Aussetzer: Nach „Pfefferminz“ hat er allerlei probiert, hatte noch zwei Alben lang als Unterhemden tragender Kneipenkumpel leidlich Erfolg, dann folgten eher abstruse Platten, er irrte durch Stil- und Spielarten, und gerade diese Irrtümer sind aufregend.

Grönemeyers Platten hielten ab „Bochum“ ein Niveau, wenn man das mochte, gab es keine Probleme, keine Momente des Zweifelns. Westernhagen aber suchte und schwankte, produzierte zum Teil richtigen Schrott – und ein ganz paar Juwelen. Grönemeyer war außer Sichtweite. Ende der 80er-Jahre schlug das Pendel zurück, Westernhagen überholte wieder: „Halleluja“ er war zurück, brachte kurz darauf eine grandiose Live-LP heraus, die das Lied „Freiheit“ enthielt, getragen von frenetischem Sporthallenpublikums-Chor. Das kam gerade recht zu den Wiedervereinigungsfeierlichkeiten.

Angeblich, so erzählen es Menschen, die dabei waren und ganz unbedingt nicht namentlich erwähnt werden wollen, gab es dann Radau hinter der Bühne eines großen Open-Air-Konzerts in Frankfurt, bei dem alle damals großen (im Sinne von: sehr bekannten) deutschen Rockmusiker auftraten, um ein Ständchen wider den Rassismus zu singen: Westernhagen sollte als Letzter, als Höhepunkt also singen, natürlich seinen Hit „Wind Of Change“, nein, Entschuldigung, natürlich „Freiheit“. Und irgendwie soll mit diesem Finale – angeblich! – nicht jeder der Beteiligten einverstanden gewesen sein.

Ehrlich gesagt: Ich stand damals im Publikum und fand es schön. Ich fand auch Grönemeyer toll, der „Keine Heimat“ sang, wenn ich mich richtig erinnere. Aber das wärmende, einende Emotionsfinale kam eben von Westernhagen: Er bat, dass wir „hier das Licht machen“, und Abertausende entzündeten Wunderkerzen und Feuerzeuge (oder Zigaretten), das war ein schönes Bild, und jeder Zyniker konnte sich darüber lustig machen, so war für alle gesorgt. Anschließend verschickte die Lufthansa einen Videomitschnitt dieses Konzerts an alle Goethe-Institute, woraufhin Grönemeyer die Videos wieder einkassieren ließ und sie dann ohne Lufthansa-Logo erneut aussandte, damit wirklich alles schön korrekt war. Und so gibt es auch über Wackersdorf-Konzerte schöne Geschichten, wessen Name auf dem Plakat nun zu groß war und weiß-der-Teufel-was – und bei allem guten Willen haben die deutschen Rockgrößen mit diesen von so hehren Zusammenkünften überlieferten Kleinlichkeiten am Ende vor allem ihre eigene Überheblichkeit bewiesen.

Um dem Informantenschutz zu genügen: Jemand, der mit einem der beiden in ganz frühen Jahren verlaglich zusammengearbeitet hat, sagt, die Zickereien zwischen den beiden, was man darüber so gehört und davon so mitgekriegt habe, seien ihm bekannt vorgekommen, und zwar von Kinderspielplätzen. Aber man nennt hier besser keine Namen, denn bis heute wird man bei einer lobenden Äußerung über den einen automatisch als Feind des anderen behandelt; umgekehrt gilt dasselbe, Kritik des einen wird als Stärkung des anderen aufgefasst – lächerlichste Lagerhaft.

In England ist wie so vieles auch die Eifersuchtskultur unter Musikern humorvoller, Noel Gallaghers Tiraden über andere Bands beispielsweise sind ja eigentlich erst so besonders unterhaltsam, seit er auf Bands schimpft, die aktuell etwas aufregender sind als Oasis. Aber egal. In Deutschland wird einem nur heimlich wispernd erzählt, wie zuweilen kompliziert das nun genau war, als Grönemeyer und Westernhagen eine Zeitlang von derselben Managementfirma betreut wurden. Einmal soll sogar ein Schreibtisch umgekippt worden sein, aber pscht! Bei so viel Angst und Kleinmut wahrt man das Schweigegelübde doch lieber.

Also, bei Westernhagen wurde Anfang der 90er-Jahre alles immer größer, Platin hier, Stadien da, doch springt man nun im Pappkarton mal zu seinem Spätwerk, kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass er von seiner letzten Stadion-Tournee 1999 geistig nie zurückgekommen ist. Grönemeyer brachte 1998 zu allseitiger Überraschung eine sehr ungrönemeyerige, vertrackte, großartige Platte heraus: „Bleibt alles anders“. Mittlerweile musizierte er von London aus; Westernhagen verlor sich derweil in italienischer Klosternähe, ihm waren die Themen ausgegangen, keinerlei Unmittelbarkeit war mehr in seiner Musik, er stand vor Hunderttausenden Leuten und synthetisierte Gefühl, es war alles sehr groß, größer als je ein deutscher Musiker bis dahin agiert hatte – deshalb sind auch die Dinosaurier ausgestorben, die waren zu groß geworden, kamen nicht mehr an ihre Nahrung ran. Uns Meyers und Müllers jedenfalls war Westernhagen abhandengekommen.

2002 erfolgte Grönemeyers künstlerische wie allgemeine Heiligsprechung, er veröffentlichte die spektakuläre Platte „Mensch“, Westernhagen mit dem Titel „Ab in den Wahnsinn“ und Helnwein-Cover einen Haufen Mist, er lag so grauenhaft daneben und sprach davon, dass der 11. September irgendwie ein totaler Schock gewesen sei. Ja nun. Ich bekam damals eine Einladung, in der Berliner Neuen Nationalgalerie als Statist durch das Westernhagen-Video „Es ist an der Zeit“ zu latschen, aber ich ging nicht hin, mir war das alles zu traurig, zu hohl, es war nicht an der Zeit, es war alles grundfalsch.

Hatte Westernhagen „den Draht zu den Fans“ verloren? Na, ich will es doch schwer hoffen. Dieser Kitsch des Auf-dem-Teppich-Bleibens immer, du liebes bisschen – auf dem Teppich bin ich doch selbst, was soll denn bitte der Star dort? Möge sein Teppich meinetwegen ein Perserteppich sein, nur bitte irgendeinen Boden braucht es schon, auf dem der Künstler steht, von dem aus er sich mitteilt. Grönemeyers Texte waren nach der „Luxus“-Starre weniger pädagogisch geworden, seine Musik riskanter, da hatte ein Künstler seine Rezepte auf links gedreht, die eigene Routine sabotiert, bevor sie endgültig Masche geworden wäre – und Westernhagen sang „Ich bin wieder hier/ In meinem Revier“, er sang vom Dreck, den er liebt (es ging angeblich ums – im Frühwerk noch glorios porträtierte, jetzt nurmehr strapazierte – Ruhrgebiet), und irgendwie haute das alles nicht mehr hin. Tief im Westen? Zu den Klängen von „Bochum“ laufen heute noch die Spieler des VFL ins Stadion, und Grönemeyer hat nichts dagegen, staunt bloß, dass sich tatsächlich einige seiner Fans darüber beschwerten, nicht auf jeder seiner Live-DVDs dieses Lied zu finden.

Wie weit? Wie gut?

Das erzählte er auf der Presse-Präsentation seines Best-of-Albums, an einem Novemberabend 2008 in Berlin. Er saß auf einer Bühne und wurde vergnüglich befragt von Ina Müller, die ja auf angenehme Art aussieht, als handelten frühe Westernhagen-Kneipenlieder von ihr; hier aber sprach sie nun mit Grönemeyer. Als dieser den Raum betrat, klatschten die anwesenden Journalisten respektvoll zu Diensten, und das tun sie nun wirklich nicht häufig bei Pressekonferenzen. Grönemeyer, nein, nach diesem Abend kann man ihn eine Weile lang wieder nur Herbert nennen, so kumpelig und witzboldig trat er da auf – Herbert also war bester Laune.

Natürlich fragte eine einzige kritische Nachrichtensender-Dame stupid in der Rollenprosa kritischer Nachrichtensender-Damen: „Warum eigentlich jetzt ein Best of?“ Aber alle anderen hatten das begriffen: Warum nicht? Und es stand ja auch groß an den Wänden, „Was muss muss“.

Grönemeyer, Verzeihung, Herbert hat 34 Lieder ausgewählt, „im Team“ natürlich; es gibt den neuen Hit und auch eine schmucke Sonder-Edition, mit DVD und Bildband und USB-Stick und Schnickschnack.

Ist nicht Grönemeyer manchmal auch nicht Herbert, dann nämlich, wenn öffentlich sein Privatleben erkundet wird? Dann nimmt er doch schlecht geschriebene Biografien vom Markt (da ist es wieder!), verklagt Boulevard-Zeitungen und so weiter – aber im Booklet seiner Best-of-Platte nun privateste Bilder, auf dem Cover gar ein Babyfoto. Herbie-Baby! Er bestimmt, wo es mit ihm langgeht, was er wann preisgibt, wann seine Plattenfirma die alten Hits in welcher Reihenfolge ins Weihnachtsgeschäft stapeln darf – es ist dadurch eine neue Platte, ein vollgültiges Kunstwerk von Herbert Grönemeyer, auch wenn der Plattenfirmenboss in seiner Begrüßungsansprache natürlich vom „Produkt“ spricht (und von „Kick-of-Meetings“). Es sei Grönemeyers erste Best-of-Platte, wird gesagt, und das stimmt auch, wenn man die Kopplung „So gut“ nicht mitzählt, eine Zusammenstellung der paar gelungenen Lieder aus seinen ersten vier Platten. Dazu tragisch passend der Titel der vor acht Jahren erst erschienenen Westernhagen-Best-of-CD: „So weit …“, auf der Westernhagens Hits und zwei laue neue Liedlein Platz fanden – seither hat er keinen Hit mehr landen können, warum eigentlich jetzt schon wieder ein Best Of? Die Fan-Adressen, richtig.

Denken wir uns den Fan, der alle Platten besitzt: Grönemeyers Best of wird er kaufen, wegen des neuen Lieds „Glück“ allein schon, auch weil ihn Grönemeyers Auswahl interessiert, und wenn er 30 Euro mehr hinzulegen bereit ist: wegen des Bildbands und Schnickschnacks. Warum aber sollte der Westernhagen-Fan eine CD kaufen, auf der nichts Neues zu finden ist, ja deren Auswahl nicht mal der Künstler selbst getroffen hat? Auf Grönemeyers Internet-Seite kann „Deine Stimme gegen Armut“ abgeben werden – auf Westernhagens Homepage kann man helfen, das Ende aller Kunst zu besiegeln, „Wünsch Dir Deinen Westernhagen“, drei Lieder pro Fan, äh, pro Mailadresse. Er wird die bestplatzierten Lieder dann live spielen und, „Wunschkonzert“ genannt, als CD veröffentlichen, alles wie von Renner empfohlen. Schön, aber warum sollte ich mich denn in die unoriginellen Wünsche der Westernhagen-Fans einreihen, mich möglicherweise noch mit denen in irgendeiner „Forum“ genannten Orthografiehölle austauschen wie der letzte Blog-Depp, und dann diese auf zwei Live-Platten und einem nicht alten Best of auch schon totgejaulten, banalsten „Hits“ noch mal kaufen und hören?

Erfolgreiche Musiker erzählen häufig aus ihrer steinigen Anfangszeit, wie schlimm es gewesen sei, irgendwelche Hits auf Bestellung zu spielen. Und wie schön es sei, heute spielen zu dürfen, was immer man wolle. Was bitte ist denn mit dem Künstler passiert, der plötzlich freiwillig auf Befehl spielt, der uns nicht selbstständig etwas zu sagen oder vorzutragen weiß? Gibt es dafür nicht Jukeboxen, Karaoke-Bars, iTunes?

Ich habe also nun, Selbstversuchen gegenüber seit jeher aufgeschlossen, gevotet für Lieder, die zu dem Zeitpunkt noch im Mittelfeld der Fan-Gunst lagen, es vielleicht durch meine Stimme aber noch ins Programm schaffen:

„Hier in der Kneipe fühl‘ ich mich frei“

„In meiner Bude flipp‘ ich aus“

„Der Junge auf dem weißen Pferd“

Aber ich besitze die schon, wie sonst könnten sie meine Favoriten sein? Und wenn ich die hören will, suche ich sie, lege sie auf – und alles ist schön.

Und jetzt alle?

Tatsächlich, in Karaoke-Bars singe ich ab und zu ganz gerne „Johnny Walker“ oder „Geiler is‘ schon“. Bei meinem zweiten Westernhagen-Konzert hat es mich irritiert, wie er die Lieder immer genau gleich spielt, selbst die von der Live-Platte bekannten Ansagen und Zwischenrufe identisch wiederholt. Die Einzigartigkeit jeder Grönemeyer-Ansage bei Konzerten erkennt man schon am kruden Satzbau – auch er weiß Effekte zu setzen, aber er geht da variantenreicher vor. Dadurch waren Westernhagen-Shows stets perfekter (und die Live-Platten klingen auch deutlich besser als die von Grönemeyer, geübt ist geübt), aber dadurch auch aseptisch, Westernhagen selbst findet das höchstwahrscheinlich „international“ oder auch „professionell“.

Und so sage ich also in der Karaoke-Bar, bevor ich „Johnny Walker“ anstimme, stets werktreu: „So, alle Nichtalkoholiker bitte den Saal verlassen jetzt, Jugendliche unter 18 Jahren, schwangere Frauen – jetzt kommen die scharfen Sachen.“ Und singe ich „Geiler is‘ schon“, schmeichle ich vorher, genau wie Westernhagen auf seiner ersten Live-Platte, ins Karaoke-Mikrofon: „Ihr bringt mich um, wisst ihr das? Also, ich wär‘ enttäuscht, wenn das nicht so wäre. Danke, ihr seid wahnsinnig, wahnsinnig“ – in einer Karaoke-Bar ist das ganz lustig. Weil ich ja nicht Westernhagen bin. Aber er ist doch Westernhagen, oder nicht? „Was wollt ihr hören?“, fragte er auf seiner ersten Live-Platte vor dem Lied „Lass uns leben“, woraufhin alle durcheinanderriefen, jeder wollte irgendwas hören – und Westernhagen sang dann einfach genau das Lied, das auf der Setlist stand, die Frage war damals ein rhetorisches Mätzchen. Heute ist sie ernst gemeint.

Grönemeyer, der seit „Mensch“ eine eigene, unerreichbare Kategorie ist, genießt das Privileg später Hits, frühe Glanz- wie Schandtaten bewertet man da naturgemäß: locker. So beantwortete er bei der „Was muss muss“-Präsentation die Frage, auf welchen der Hits er für die vorliegende Auswahl am leichtesten hätte verzichten können, mit königlicher Gelassenheit: Och, „Männer“ vielleicht. Potzblitz, diesen Monsterhit? Ja, nach all den Jahren würde er den heute in Konzerten eher parodistisch singen. Strahlender Herbert: Sein Männerbild habe sich, hehe, mittlerweile etwas gewandelt.Und erzählt giggelnd, wie dem jungen Herbert der Künstlername „Herbie Green“ empfohlen wurde. Vielleicht sollte Westernhagen einfach seinen Müller wieder anlegen und noch mal von vorn beginnen.

Ein Bindestrich im Nachnamen kann was sehr Schönes sein.

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