Wie Kartoffelchips

Wittgensteins Mätresse ****1/2 von David Markson

udwig Wittgensteins Neffen kennen wir ja schon von Thomas Bernhard. Aber wer ist seine Mätresse? War der nicht schwul? Wen hatte der 2010 verstorbene New Yorker Autor David Markson im Sinn, als er Mitte der Achtziger „Wittgenstein’s Mistress“ schrieb? Natürlich ging es ihm nicht um reale Verhältnisse, sondern um die Sprache. Schließlich handelt es sich um einen Roman. Oder so was in der Art. Sozusagen.

Kate ist Ende 40. Sie ist Malerin, deshalb lebt sie in Museen. Sie haben ganz richtig gehört: in Museen. Im Metropolitan in New York zum Beispiel, der Tate Gallery in London, dem Louvre in Paris nur nicht im Prado in Madrid, weil das durch natürliches Licht beleuchtet wird – das lehnt man als Kulturwesen selbstverständlich ab. Kate ist der letzte Mensch auf der Welt. Das sagt sie jedenfalls. Aber sie ist keine besonders verlässliche Erzählerin und traut sich oft selbst nicht über den Weg. Könnte sein, dass sie durch ein traumatisches Erlebnis irgendwann in der Vergangenheit schizophren geworden ist. Und sie ist einsam. Nicht so wie Menschen in Science-Fiction-Romanen einsam sind, die nach einem Atomkrieg oder Alienmassaker alleine dastehen, sondern einsam wie die Figuren in einem Stück von Samuel Beckett. Also einsam wie wir alle. Deshalb spricht sie mit sich selbst.

Sie sucht nach Spuren menschlicher Existenz -in der Welt und in ihrem Kopf. Sie findet Bilder, Texte, Architektur und rettet diese untergegangene Zivilisation, indem sie sie benennt, von ihr erzählt. Nicht episch wie einst Homer, sondern rhapsodisch, in kurzen, logisch gegliederten Sätzen und Absätzen, Wittgensteins erstem Hauptwerk, dem „Tractatus logico-philosophicus“ nicht unähnlich. Und dort zeigt der Philosoph ja, dass die Grenzen unserer Sprache zugleich die Grenzen unserer Welt sind.

Okay, Leser mit einem gestörten Verhältnis zu ihrer Sexualität und ihren Gedanken werden diese Konstruktion vermutlich abschätzig „einen Hirnfick“ nennen. Aber wer kürzlich die im Internet unter dem Titel „Hysterical Literature“ kursierenden Videos des amerikanischen Künstlers Clayton Cubitt gesehen hat, weiß, dass das nichts Negatives sein muss. Dort sieht man nämlich attraktive junge Damen, wie sie aus ihrem Lieblingsbuch vorlesen, während ihnen -für den Zuschauer unsichtbar -unterm Tisch sexuelle Befriedigung verschafft wird.

„Wittgensteins Mätresse“ kann auch ohne diese zusätzliche Stimulation eine äußerst lustvolle Lektüre sein, wenngleich nicht unbedingt mit dem sexuellen Akt zu vergleichen, sondern eher – wie der US-Kritiker Michael Silverblatt vorschlug -mit dem Verzehr einer Tüte Kartoffelchips. Man kann einfach nicht aufhören, denkt bei jeder Sentenz, das sei aber nun wirklich die letzte vor dem Schlafengehen und liest dann doch weiter und weiter. Weil man sich an der Lakonie berauscht, an den wilden Assoziationsketten, die einen in wenigen Worten vom amerikanischen Schriftsteller William Gaddis zum italienischen Maler und Architekten Taddeo Gaddi führen, von Rembrandt zu Spinoza, und am Witz, der mal purer Slapstick ist und mal ausgesprochen geistreich. Hier eine Passage zu zitieren, würde herzlich wenig bringen. Man kann schließlich auch aus einem herausgebrochenen Zahnrad nicht die Genauigkeit einer Schweizer Uhr oder die Schönheit ihres Gehäuses ableiten. Einige Sätze sind für sich genommen sogar recht albern und unsinnig, doch sie sind notwendig, um das Uhrwerk dieses Textes am Laufen zu halten. Wenn man sich ihrer bedient hat, kann man sie getrost vergessen -wegwerfen wie eine Wittgenstein’sche Leiter.

Lange dachte man, David Marksons riesiges Sprachspiel sei unübersetzbar, doch die österreichische Autorin Sissy Tax widerlegt das auf wunderbarste Weise. Und sie trifft nicht nur den Witz, sondern auch die dunkle Melancholie, die in diesem Text drinsteckt. Denn „Wittgensteins Mätresse“ ist auch ein sehr trauriges Buch. Es übersteige den Status des „intellektuellen Parforceritts“ und der „experimentellen Glanzleistung“, von denen in Rezensionen seinerzeit die Rede war, schreibt David Foster Wallace in einem von zwei der deutschen Ausgabe beigegebenen Texte (der zweite ist von Elfriede Jelinek – und Marksons Kate könnte durchaus auch eine ihrer Figuren sein). „Was der Roman als unmittelbare Studie von Depression &Einsamkeit schildert, ist viel zu aufwühlend, als dass es zum Gegenstand von Fingerübungen bzw. Exorzismen taugte.“

„Wittgensteins Mätresse“ zeigt, was es bedeuten kann, wenn avantgardistische Literatur funktioniert, wenn sie uns durch eine neue Form einen anderen Zugang zur Sprache und somit zur Welt eröffnet. Kaum jemand hat das auf so komische und unterhaltsame Art und Weise geschafft wie Markson. Wer sein Werk in dieser Richtung weiter verfolgen möchte -und das sei hiermit empfohlen -, muss allerdings wohl fürs Erste auf die Originalfassungen zurückgreifen. „Wittgenstein’s Mistress“ markiert nämlich den Beginn von Marksons bisher noch nicht übersetzem Spätwerk, das er mit „Reader’s Block“, „This Is Not A Novel“,“Vanishing

Point“ und „The Last Novel“ (schon die Titel sind wunderbar) weiterführte. An die Stelle der Apokalypse tritt in diesen Romanen oder Nicht-Romanen ganz lebenspraktisch der Untergang der persönlichen Welt des Autors – also der Tod. David Markson ist 2010 gestorben. Doch seine Spuren sind noch sichtbar. Mit dieser Übersetzung sind sie sogar noch ein bisschen tiefer geworden. (Berlin, 22,99 Euro)

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