ZWÖLF SCHRITTE ZUM RUHM

Es ist kurz vor Mitternacht. Im warmen Licht des Raumes haben sich ein paar Dutzend Leute versammelt, um über ihren täglichen Kampf mit Alkohol und anderen Dämonen zu reden. In säuberlich aufgestellten Stuhlreihen sitzen sie vor einer großen Tafel, auf der die Erfolgsdaten der abstinenten Alkoholiker aufgelistet sind. An der Wand hängen gerahmte, handgeschriebene Slogans wie „Easy Does It“ oder „First Things First“.

Wir sind in Texas, doch es sind nicht nur ältere, vom Leben gezeichnete Texaner, die sich im AA-Zentrum von Austin eingefunden haben. Etwas abseits in der Ecke sitzt ein 29-jähriger Mann namens Ben Haggerty. Er hat den Kopf nach vorne gebeugt und hört den Schilderungen der Leidensgenossen zu, die der Spirale von Sucht und Selbstzerstörung zu entkommen suchen. „Ich dachte immer, ich wäre ein lustiger Typ, wenn ich trank“,

erzählt gerade ein korpulenter Texaner mit fettem Akzent, „aber offensichtlich waren die Cops anderer Meinung.“ Haggerty, besser bekannt als Macklemore, lacht wissend in sich hinein. Mit dem erfolgreichen MC aus Seattle, der gerade mit „Thrift Shop“ weltweit erfolgreich ist, scheint dieser Mann wenig gemein zu haben.

Von ein paar kleineren Rückfällen abgesehen, ist Macklemore seit fast fünf Jahren trocken. Im August 2008 machte er eine Entziehungskur, lebt aber noch immer mit einem Rest-Risiko. Zu seinem ersten AA-Meeting seit zwei Monaten ist er gekommen, weil er Schiss hat, doch wieder rückfällig werden zu können. Mit Tourneen und PR-Reisen war er zuletzt so beschäftigt, dass ihm für die AA-Routine keine Zeit mehr blieb. „Im vorigen Jahr war’s ein harter Kampf“, sagt er mir am nächsten Tag. „Ich muss mich schon mit den AA zusammensetzen und wieder den billigen Pulverkaffee riechen, um mir klarzumachen, dass meine bisherige Karriere nur in nüchternem Zustand möglich war.“

Während sein DJ Ryan Lewis und der Rest der Crew schon darauf brannten, ihren gelungenen Auftritt bei MTVs „Woodie Award“ angemessen zu feiern, hatte sich Macklemore in seinen Trailer hinter der Bühne verkrümelt. Seine attraktive Verlobte und Tour-Managerin Tricia Davis hatte ihr Smartphone zu Rate gezogen und dieses AA-Meeting für ihn aufgetrieben. Und Macklemore ist voll bei der Sache: Er macht bei den rituellen Begrüßungen der einzelnen Redner mit und stellt sich am Ende auch in den Kreis, in dem alle Beteiligten -die Arme um die Schultern der Nachbarn gelegt – das „Vater Unser“ sprechen. „Kommt wieder zurück“, sagt er im Chor mit den anderen. „Es funktioniert, wenn du’s nur willst.“

„Das sind Meinesgleichen“, sagt er später. „In ihren Augen sehe ich mich selbst. Ich kam gerade rein, als ein Teilnehmer seine Geschichte erzählte – und sofort machte es in meinem Kopf klick: ,Ich weiß ganz genau, worüber du sprichst, Mann.‘ Das erinnert mich daran, dass ich mir keinen Fehltritt leisten kann. Und der einzige Weg, um das sicherzustellen, besteht für mich darin, mich an das Zwölf-Schritte-Programm der AA zu halten.“

Auf dem Weg zurück zum Parkplatz kommt ein junger Mann mit Baseballkappe auf ihn zu. „Hey, Macklemore?“ Selbst hier hat man ihn erkannt. Er hält an und plaudert freundlich mit seinem Fan, der ihn gleich zum nächsten Meeting am kommenden Abend einlädt. Als Macklemore endlich aufbricht, fragt ihn der Fan, ob er wirklich okay sei. Macklemore nickt flüchtig und geht zügig zum Wagen.

Seit das „Thrift Shop“-Video der jüngste YouTube-Renner wurde (fast 200 Millionen Views bislang), kann Macklemore nicht mehr auf die Straße gehen, ohne von Kids erkannt und umlagert zu werden. Es fängt schon an, als er am Nachmittag bei den „Woodie Awards“ des MTV-College-Senders „mtvU“ eintrifft: Auf den 20 Metern zwischen Trailer und Bühne hält ihn ein Autogrammjäger nach dem anderen an, während zwei junge Damen um ein gemeinsames Foto bitten. „In den letzten Monaten ist es wirklich schlimm geworden“, sagt er. „Wenn ich nicht gerade eine Kapuze oder Perücke trage, endet jeder Schritt in die Öffentlichkeit unweigerlich in einer Schnappschuss-Orgie.“

Mit seinem tarnfarbenen Jackett, dem wild gepunkteten Hemd und pastellfarbenen Schal, seinen blauen Stubbs-&-Wootton-Wildleder-Slippern und den goldblonden Haaren, die er wie Bart Simpson hochgekämmt hat, sieht er im Moment allerdings auch alles andere als unauffällig aus. Privatleute und Musikprofis gratulieren ihm, als er durch den Backstage-Bereich wandert -und L. A.-Rapper Schoolboy Q zitiert aus „Thrift Store“, als er ihm das vielleicht größte Lob zollt, das ein weißer Rapper von einem Kollegen zu hören bekommt: „You a cold-ass honky.“

Zurück im Trailer ist die Stimmung nicht minder euphorisch. „Ich traf heute ein weißes Mädchen, das tatsächlich Irie heißt“, erzählt Macklemore seiner kichernden Posse. „Ich fragte sie, wie sie wohl an den komischen Namen gekommen sei, und sie meinte:,Nun, meine Eltern haben sich in Jamaika kennengelernt.‘ Worauf ich sagte:,Deine Eltern sind wahrscheinlich noch immer komplett zugedröhnt.'“

Sein engster Kreis ist eine bunte Mixtur aus völlig unterschiedlichen Charakteren, die trotzdem wie Pech und Schwefel zusammenhalten. Lewis, sein DJ und Sound-Lieferant, ist ein bärtiger Schönling, der fünf Jahre jünger ist als Macklemore. Wanz, der in „Thrift Shop“ den Refrain „I’m gonna pop some tags“ singt, war in seinem früheren Leben einmal Software-Entwickler und ist bereits 51. Owuor Arunga, der Trompeter und Tausendsassa aus Kenia, ist auf Tourneen unter anderem für die ausgefallene Bläser-Melodie von „Thrift Shop“ zuständig. „Wir sind nicht gerade die typische Rap-Posse“, sagt Macklemore, „eher so was wie ein abgefahrenes Mini-College auf Betriebsausflug.“

Macklemore wuchs in einem behüteten Elternhaus in Seattle auf. Im dritten Schuljahr überredete ihn seine sozial engagierte Mutter dazu, Ballettstunden zu nehmen – aus Solidarität mit einem anderen Jungen, der in der Schule gehänselt wurde. „Er war einer der Jungs, denen man schon von Weitem ansah, dass er schwul war“, sagt er. „Meine Mutter versprach, mir ein ganzes Heft mit Baseball-Sammelkarten zu kaufen, wenn ich auch Ballettstunden nehmen würde.“ Etwa zur selben Zeit fragte er sich, ob er vielleicht selber schwul sei -eine Erfahrung, die er später in seinem ersten Hit „Same Love“ verarbeitete.

Auch wenn das mit dem Ballett nicht so klappte -und er definitiv hetero war -, blieb die Erkenntnis, dass er der geborene Performer war, der bei Talentwettbewerben Michael Jackson oder Kriss Kross gab. „Ich war immer dieser schräge, extrovertierte Paradiesvogel, der einfach nur auf die Bühne wollte.“

Im neunten Schuljahr wechselte er auf die Garfield High School (wo schon Jimi Hendrix und Quincy Jones die Schulbank drückten).“Es war ein riesiger Komplex mit wenig Kontrolle vonseiten des Lehrpersonals. Ich dachte mir: ,Prima, dann kann ich ja ruhig schwänzen.'“

Seine ersten Rap-Versuche („Ich und eine Beatbox -ziemlich scheußlich“) gingen Hand in Hand mit den ersten alkoholischen Exzessen. „Beim ersten Mal kippte ich nach der Schule zwölf Wodkas“, erzählt er, „und dachte mir:,Hey, das kommt ja richtig gut.‘ Ich hörte damals ,Thug Passion‘ und stellte mir vor, der weiße Tupac zu sein.“ Nach dem Schnaps kam das Gras. „Ich hatte eine Freundin, die eine Klasse über mir war und jede Menge Gras rauchte. Ich war damals wirklich jeden Tag zugedröhnt -von morgens bis abends. Den Schalter, wo ich’s hätte abstellen können, gab’s einfach nicht mehr.“

Mit seinem Debütalbum „The Language Of My World“, in Eigenregie veröffentlicht, wurde er gleich der Star von Seattles Clubszene. „Die Highschool-Kids hatten wirklich einen Narren an ihm gefressen“, sagt Radio-DJ Michele Myers, die „Contradiction“ – einen Song über Sexismus im HipHop -regelmäßig in ihrer Radioshow spielte. „Er schien omnipräsent zu sein.“

Die Live-Shows wurden größer – und mit ihnen Macklemores Exzesse. „Ich war richtig neben der Spur. Man ist jung, man steht plötzlich im Mittelpunkt, man schleppt Frauen ab, und man lernt immer stärkere Drogen kennen. Ich hatte mir immer geschworen, die Finger vom Koks zu lassen, aber der Vorsatz war schnell gebrochen. Dann versuchte ich’s kurz mal mit Oxycontin, was mich aber nur fix und fertig machte.“

Seine Freunde fingen an, sich Sorgen zu machen. „Wenn man nie eine Antwort auf Anrufe und SMSen bekommt, denkt man halt schnell, dass der andere einfach zu cool ist“, sagt Lewis, der Macklemore in diesen dunklen Jahren kennenlernte. „Dabei bin ich mir sicher, dass er die ganze Zeit alleine zu Hause saß und sich die Kante gab.“

Im Sommer 2008 waren die regelmäßigen Auftritte Mangelware geworden -und Macklemore inzwischen beim Lean gelandet (dem kodeinhaltigen Drink, den Südstaaten-Rapper wie Lil Wayne populär gemacht hatten). Auf Drängen seines Vaters checkte er für 35 Tage in eine Entzugsklinik in Kanada ein. „Musik hatte ich zu diesem Zeitpunkt schon seit Längerem nicht mehr gemacht. Ich war in jeder Beziehung am Ende.“

Seitdem ist er clean – von einem kleinen Rückfall vor zwei Jahren abgesehen. „Ich trank genau zweimal Lean“, sagt er, „aber inzwischen habe ich einen AA-Coach, der auf mich aufpasst. Seitdem lebe ich erheblich gesünder: seit viereinhalb Jahren keinen Alkohol, seit viereinhalb Jahren kein Gras, seit viereinhalb Jahren kein Kokain.“

Ob nüchtern oder nicht: Macklemore wäre heute nicht da, wo er ist, wenn es nicht Ryan Lewis gegeben hätte. Der ambitionierte Junge gründete mit 16 seine erste Firma und ist offensichtlich auch die treibende Kraft hinter den jüngsten Erfolgen. (Es heißt, dass er von sich selbst manchmal als „Ryan Lewis Gosling“ spricht, da er mit dem Hollywood-Beau tatsächlich eine flüchtige Ähnlichkeit hat.) Es war auch Lewis‘ Idee, die Macklemore LLC ins Leben zu rufen, die seit 2010 für die eigenen Veröffentlichungen zuständig ist. „Es war eine harte Nuss, ihn davon zu überzeugen“, sagt Lewis mit einem zufriedenen Grinsen. „Wenn man noch nie eine Firma gegründet hat, mag der ganze Papierkram etwas abschreckend sein, aber mehr als einen Tag braucht man dafür auch nicht.“

Ihre Do-it-yourself-Philosophie geht so weit, dass sie nun auch Musikvideos, T-Shirts und Poster in Eigenregie fertigen -und mächtig stolz darauf sind, nicht bei einem etablierten Label, ja nicht einmal bei einem Indie unterschrieben zu haben. „Wir haben uns mit all den Idioten getroffen“, sagt ihr Manager Zach Quillen, „aber deren Vorstellungen passen einfach nicht zu den unseren.“ Macklemore ist übers Internet zum Star geworden. Nichtsdestotrotz schloss man punktuell Verträge ab: Die zum Warner-Konzern gehörige Alternative Distribution Alliance ist dafür zuständig, das aktuelle Album „The Heist“ (englisch für Raub und eine selbstbewusste Anspielung darauf, es ohne die Plattenindustrie geschafft zu haben) in die Läden zu stellen, während Warners Radio-Promotion dabei half, „Thrift Shop“ in die Playlists der amerikanischen Radiostationen zu boxen. „Die Nummer wird von unseren Hörern häufiger gewünscht als jede andere“, sagt Radio-DJ Myers. „Sie ist das, was wir einen Selbstläufer nennen: eine High-Energy-Nummer, die niemanden kalt lässt.“

In jüngster Zeit grübelt Macklemore auch über einen anderen Faktor, den er für seinen plötzlichen Erfolg verantwortlich macht: seine Hautfarbe. „Warum besteht unser Publikum hauptsächlich aus weißen Kids?“, fragt er. „Wie gehe ich damit um? Und wenn ich schon in dieser demografischen Schublade stecke, dann möchte ich auch über den richtigen Scheiß reden. Wir leben nun mal in Amerika ,wo Rassismus und kulturelle Ausbeutung auf der Tagesordnung stehen.“

Und wenn er in „Wing$“ über seine geliebten Nike-Sneakers rappt, wird daraus keine affirmative Geste, die ihm einen lukrativen Werbedeal einbringen könnte, vielmehr übt er Konsumkritik:“We want what we can’t have, commodity makes us want it/So expensive, damn, I just got to flaunt it/Got to show ‚em, so exclusive, this that new shit/A hundred dollars for a pair of shoes I would never hoop in/Look at me, look at me, I’m a cool kid/I’m an individual, yeah, but I’m part of a movement/My movement told me be a consumer and I consumed it.“

Es gibt reichlich Stoff, der in seinem Kopf herumschwirrt, doch immer weniger Zeit, die neuen Eindrücke auch zu verarbeiten. „Was ja vielleicht auch sein Gutes hat“, sagt er. „Ich habe einen großen Teil meines Lebens mit Rappen verbracht, ohne von dem Geld leben zu können. Ich bin dankbar, dass diese Phase vorbei ist. Aber nicht zu wissen, wie lange ich noch einen Lauf habe, macht mir schon etwas Angst.“

Tourneen können für einen rückfallgefährdeten Alkoholiker ein gefährliches Pflaster sein -vor allem an Orten wie Austin, wo das zeitliche Zusammentreffen von St. Patrick’s Day und dem South-by-Southwest-Festival eine hundertprozentige Garantie ist, dass der Alkohol in Strömen fließt. Lewis meint, dass er und der Rest der Crew keine Umstände machen, sich aus Rücksicht vor Macklemore mit dem Feiern zurückzuhalten. „Er erwartet, dass sich die Leute um ihn herum ganz entspannt verhalten. Und ich liebe nun mal meinen Jamesons Irish Whisky. Davon abgesehen funktioniert seine Sucht auch nicht auf diese Weise. Er ist ein Leisetreter. Wenn er wirklich noch mal rückfällig werden sollte, wird er es heimlich, still und leise tun. So ist er halt.“

Am Tag nach den „Woodie Awards“ erzählt mir Macklemore, dass es für ihn vor allem der Ruhm sei, in dem er die größte Gefahr für sich selbst sieht. Selbst als „Thrift Shop“ unaufhaltsam auf Platz eins der US-Charts kletterte, habe er immer wieder die Versuchung gespürt. „Es ist schon ein verrücktes Gefühl, wenn Leute einen auf der Straße erkennen und hemmungslos zu heulen anfangen“, sagt er, als er am Hotelpool eine der seltenen Atempausen zu genießen versucht. „Manchmal überwältigt es einen einfach.“

Wie auf Bestellung kommt gerade ein hübsches brünettes Mädchen vorbei, das ihn erst auf den zweiten Blick erkennt. „Bist du Macklemore? Wirklich? Da ist ja so was von cool!“ Er macht mit ihr ein schnelles Foto und greift dann unser Gespräch wieder auf. „Die vergangenen drei Monate waren sicher nicht gut für mich – der Druck, die Erwartungen, zu wenig Schlaf, der Stress, die Reiserei. Ich kann diesem Macklemore einfach nicht mehr entkommen. Ich möchte am liebsten aus meiner eigenen Haut fahren -und die einfachste Methode, das zu tun, ist nun mal die, sich gnadenlos volllaufen zu lassen.“

Ich frage ihn, wie er mit dieser Herausforderung klarkommt -und er braucht ziemlich lange, um eine Antwort zu formulieren. „Ich war immer nah am Absturz“, sagt er nachdenklich. „Drogen und Alkohol werden immer ein Problem für mich sein. Daran wird sich nie etwas ändern.“ Er hält inne, schaut zum Himmel und wählt seine Worte sorgsam. „Im Moment kann ich von mir behaupten, nüchtern zu sein. Und ich gedenke auch, den Rest des Tages nüchtern zu bleiben. Aber morgen werde ich wieder von vorne anfangen müssen.“

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