Exile On Main St. – Rolling Stones

Also stand es 1972 in SOUNDS: „Dieses Werk ist eine Katastrophe, gegen die selbst das weiße Doppelalbum der Beatles verblasst.“ Und weiter: „Jagger und Richards wirken ausgebrannt und völlig ideenlos, ihren Songs fehlt fast durchweg die innere Überzeugungskraft.“ Ungnädig fiel auch das Urteil des amerikanischen „Rolling Stone“ aus: „Das Album 1 präsentiert vier Seiten lang den immergleichen Song in den üblichen Variationsschemata der Stones.“ Dagegen hörte der „Melody Maker“ „ihre bislang beste Platte“, der „Record Mirror“ sah die Band „im Zenit ihres Schaffens“. Beispiele dafür, wie unterschiedlich „Exile On Main St.“ bei seinem Erscheinen im Juni 1972 rezensiert wurde – auch rezipiert.

Viele Fans schüttelten fassungslos die Köpfe: Wo zur Hölle war der unwiderstehliche Drive von „Brown Sugar“, wo das triumphale Gepolter von „Bitch“, wo das herzzerreißende Sentiment von „Wild Horses“, wo die gallige Arroganz von „Dead Flowers“? Wo waren also die Momente, die Songs, die das Vorgängerwerk „Sticky Fingers“ (oder „Beggars Banquet“ oder „Let It Bleed“) so großartig, so epochal gemacht hatten? Und es ist ja wahr: Beim ersten, womöglich flüchtigen Hinhören rauschen die 18 Tunes scheinbar konturlos an einem vorbei. Klar, manches rockt, wenn auch in Schräglage, überall lugt der Blues hervor, hier und da glaubt man eine Art sündigen Gospel zu vernehmen oder einige vogelwilde Country-Klänge, aber alles wirkt eher skizzenhaft, achtlos hingeworfen, etwas windschief und recht schlampig.

Doch irgendwann dämmert es einem: Es spielt keine Rolle, dass Jaggers Stimme im Mix zu verschwinden scheint; dass Charlie Watts“ Schlagzeugspiel holpert und stolpert; dass Nikky Hopkins‘ Pianospiel an das Geklimper eines verstimmten Saloon-Klaviers gemahnt; dass die Gitarren dengeln und quengeln, als würde in 100 Jahren kein Song daraus. Die Wahrheit ist: In den 67 Minuten vom bläserbefeuerten „Rocks Off bis zum waidwund sich dahinschleppenden „Soul Survivor“ hat die „größte Rock’n’Roll-Band der Welt“ unter der Fuchtel Keith Richards‚ eine neue Identität gefunden – und gleichsam nebenbei die komplette DNA des Rock’n’Roll ausbuchstabiert. Die Wahrheit ist: Dieses Meisterwerk wird einem nicht auf dem Silbertablett serviert. Man muss es sich erarbeiten – um am Ende überreich belohnt zu werden. „Just as long as the guitar plays, let it steal your heart away“, singen sie in „Torn And Frayed“. Wie wahr. „Exile On Main St.“ stiehlt Herzen. Immer noch. Immer wieder.

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