Miles Davis

The Complete Columbia Recordings

Sony

Ein Karton mit beinahe allen Studio- und Live-Aufnahmen

Als Miles Davis 1955 bei Columbia unterschrieb, hatte er seine Lehrjahre schon hinter sich. Mitte der Vierziger hatte er an der Seite von Charlie Parker und Dizzie Gillespie gespielt, dann mit wechselnden Ensembles teilweise als Leader nach einem eigenen Stil gesucht, der seine technischen Unzulänglichkeiten wettmachen konnte. Und so beginnt die 30-jährige Ehe zwischen dem Trompeter und dem legendären Label gleich mit einem Meisterwerk: „Round About Midnight“. Unverwechselbar der Sound der gestopften Trompete auf Thelonious Monks Titelstück, kongenial die Performance der Mitstreiters des klassischen Miles Davis Quintet mit John Coltrane, Red Garland, Paul Chambers und Philly Joe Jones.

Doch es können ja unmöglich kanonische Werke wie dieses oder „Milestones“, „Kind Of Blue“, „Sketches Of Spain“et cetera sein, für die man sich die 70-CD-Box “ The Complete Columbia Recordings“ mit insgesamt 52 Alben (inklusive Live-Alben und Kompilationen unveröffentlichter Tracks) anschafft. Jeder, der sich ansatzweise für Davis oder auch nur für Jazz allgemein interessiert, muss die ja längst zu Hause haben. Eine umfassende Werkschau wie diese kann eher dazu dienen, die Nebenwerke zu erkunden, die Räume zwischen den Meilensteinen auszufüllen und Entwicklungen nachzuvollziehen.

Es waren ja – grob gesagt – das Ende der Vierziger, die zweite Hälfte der Fünfziger und die zweite Hälfte der Sechziger (mindestens bis in Jahr 1970 hinein), in denen Davis seine spannendste Musik machte. Die erstgenannte Periode ist hier mit einem erst 1977 erschienenen rauschenden Radio-Mitschnitt vom Paris Festival 1949 nicht hinreichend dokumentiert; für einen Überblick über die Fünfziger braucht man mindestens noch eine Handvoll Alben, die Miles auf Prestige veröffentlichte. Die zweite Hälfte der Sechziger dagegen ist in dieser Box mit 20 Alben besonders umfassend vertreten.

Nach dem Ende des klassischen Quintet suchte Davis Anfang des Jahrzehnts lange vergeblich nach Musikern, die seinen Vorstellungen gerecht werden konnten. Mit Keyboarder Herbie Hancock, Bassist Ron Carter und Schlagzeuger Tony Williams hatte er zwar durchaus versierte Begleiter, doch erst als im September 1964 Wayne Shorter den Saxofon-Part von Sam Rivers übernahm, hob die Musik ab, und das zweite klassische Quintet führte Davis an die Grenze zum bis dahin von ihm verhassten Free Jazz. Besonders eindrucksvoll lässt sich dies nun auf der dieser Box beigefügten DVD nachvollziehen, die zwei eindrucksvolle Auftritte des Ensembles aus dem Oktober und November 1967 zeigt.

Auf Drängen des neuen Columbia-Bosses Clive Davis begann Miles wenig später, seine Musik um Rock-Elemente zu erweitern. Auf dem Übergangsalbuni „Miles In The Sky“ von 1968 taucht erstmals eine E-Gitarre auf, ein Jahr später erscheint das Fusion-Meisterwerk „In A Silent Way“ mit John McLaughlin an der E-Gitarre und Joe Zawinul an der Orgel. Das so legendäre „Bitches Brew“ aus dem gleichen Jahr wirkt im Kontext dessen, was Davis und sein Ensemble in den Folgemonaten bis Mitte 1970 im Studio und auf insgesamt fünf Live-Alben (erstmals ist hier der gesamte Auftritt vom Isle of Wight Festival zu hören) aufführen, wie eine grobe Skizze zu etwas viel Sublimerem.

„On The Corner“ von 1972 ist in seiner Vermengung von Funk, zeitgenössischer E-Musik, indischen und afrikanischen Elementen schließlich Davis‘ letzte Großtat. Danach folgen noch einige interessante Live-Performances, die nun erstmals remastered erscheinen. Mitte der Siebziger verschwand der dark prince dann von der Bildfläche, was Columbia – ähnlich wie heute die Pausen zwischen Bob-Dylan-Alben – dazu nutzte, historische Aufnahmen und Live-Material zu veröffentlichen.

Als Davis 1981 zurückkehrte, um seiner Faszination für HipHop, Prince und Cyndi Lauper Ausdruck zu verleihen, war ihm das Gespür für die richtigen Begleitmusiker verloren gegangen. Die fünf für diese Werkschau ebenfalls erstmals klanglich überarbeiteten Alben aus dieser Zeit wirken teilweise formelhaft und kraftlos. Doch auf dem letzten Album vor seinem Wechsel zu Warner, „Aura“ – einer Komposition des dänischen Trompeters Palle Mikkelborg, die Davis 1985 in Kopenhagen aufnahm -, ist in einigen Momenten wieder dieser unverwechselbare „Ton der Trauer und Resignation“ (Joachim-Ernst Berendt) zu vernehmen, mit dem der Traditionalist, der seiner Zeit so oft weit voraus war, 30 Jahre zuvor auf,, „‚Round About Midnight“ eine neue Ära des Jazz eingeleitet hatte.