IDER
„Late To The World“ – Klartext jetzt!
Nettwerk (VÖ: 21.2.)
Tolles Finale der energischen Coming-of-Age-Trilogie.
So kann es gehen. „I tried to be good at everything/ I wasted my youth caring about it“, stellen Lily Somerville und Megan Marwick im Titelsong ihres Albums „Late To The World“ fest. Die Synthiepop-Nummer ist eine sanfte, aber immer energischer, immer bestimmter, immer lauter werdende Hymne der Selbstbefreiung, in der die beiden von dem erzählen, was immer noch meistens die Erwartungshaltung prägt, wenn es um weibliches Erwachsenwerden geht: sich selbst kleinmachen, um anderen Platz zu verschaffen, den Hunger unterdrücken, nett zu allen sein, sich immer entschuldigen.
Die chaotisch-verwirrenden Twentysomething-Jahre sind vorbei, die selbstbewussten Thirtysomething-Jahre sind da
Doch damit ist jetzt Schluss: „I’m on my way/ I’ll be okay!“ Das dritte Album des Duos aus London kann als Finale einer Coming-of-Age-Trilogie verstanden werden. Auf dem IDER-Debüt, „Emotional Educa tion“ (2019), besangen sie mit jugendlicher Naivität kokett die FOMO-Panik der Generation Instagram, auf „Shame“ (2021) verlor ihr Genres verschwimmen lassender Synthiepop die Unschuld, wurde rauer und komplexer, wenn es darum ging, Sehnsucht, Scham und Selbstzweifel zu vertonen.
Auf „Late To The World“ inszenieren sich die beiden gereift. Die chaotisch-verwirrenden Twentysomething-Jahre sind vorbei, die selbstbewussten Thirtysomething-Jahre sind da. Am deutlichsten wird das in dem grandiosen „Unlearn“, einem Amalgam aus R&B und Electropop, in dem sich Somerville und Marwick vornehmen, sich nicht mehr für ihr Verlangen oder ihre Wut zu entschuldigen: „Be big, be brave, be special!“ In jedem Song auf dem Album geht es darum, was es heißt, Frau zu sein, sich patriarchalischen Strukturen und der „Angry girls don’t get what they desire“-Doktrin zu verweigern: In der minimalistisch-feministischen Hymne „Girl“ ebenso wie in „Know How It Hurts“, das die Entscheidung des obersten US-Gerichts, das grundsätzliche Recht auf Abtreibungen zu kippen, verarbeitet, oder in „Good Fight“, durch das zwischen provokant zur Schau gestellter Niedlichkeit ein wütendes Pamphlet der weiblichen Selbstbestimmung schimmert: „I’m bored of pleasing!/ So I say exactly what I’m feeling!“
Diese Review erschien im Rolling Stone Magazin 2/25.