Parole Brandi: Warum wir gerne von Arschlöchern gelobt werden

Unsere Kolumnistin deckt unsere größten Schwächen auf: Bequemlichkeit und Bullies gefallen wollen

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Ich hätte doch Anthropologin werden sollen. Mich interessiert einfach am meisten, warum der Mensch tut, was er tut. Warum er sich organisiert, wie er sich organisiert. Und wovon wir als Spezies angetrieben werden.

Seitdem ich über das alte Rom nachgedacht habe, denke ich über Macht nach. Wer da rankommt und warum. Im Fahrwasser aus diesem Interesse für Geschichte werden mir mittlerweile Bücher reingespült, welche sich damit beschäftigen, warum die Menschheit wohl heute dort steht, wo sie steht. Nämlich im Krampf einer globalen, selbstgemachten Panikattacke, inklusive Schnappatmung und Ohnmacht. Und im Begriff alles, was uns menschlich gemacht hat, mittelfristig einer digitalen Intelligenz zu übergeben.

Glauben wir den Wissenschaftler:innen, dann war die Transformation von den Wildbeutern zu den Bauern bei Licht besehen eigentlich richtig, richtig dumm. Weil so ein Wildbeuter viel geiler lebt, hippiemäßig. Von der Hand in den Mund, maximal flexibel und voll im Moment, da sich um „das Morgen“ keine langfristigen Gedanken gemacht werden musste. Aber nein, der Mensch musste ja anfangen, Weizen anzubauen und damit sesshaft zu werden, weil dadurch ein konkretes Stück Boden kultiviert werden musste. Weswegen die Leute dableiben mussten, Häuser bauten und alles, was sie erzeugten, von da an „Besitz“ nannten.

Die Sache mit dem Weizen

Ich bin sicher, dass es andere Gründe für das Durchsetzen einer Sache gibt als einfach nur „das war ertragreicher“ oder „hat einfach mehr Spaß gemacht“. Aus meiner persönlichen Überzeugung entsteht das meiste Übel in der Welt nämlich durch zwei Motivationen, die im Grunde, wenn wir sie mal konsequent zu Ende denken, wahrscheinlich ein und dieselbe sind.

Die eine Motivation liegt auf der Hand und ist wohl schlicht und ergreifend Bequemlichkeit. Yuval Noah Harari nennt das in seine Bestseller „Nexus“ in leichter Abwandlung „die Luxusfalle“, also den Effekt, dass wir langfristiges Wohlergehen zugunsten von heutiger Bequemlichkeit aufs Spiel setzen. Das hat der Mensch übrigens schon immer gemacht. Schon vor 30.000 Jahren haben wir Tiere, die zu gut ausgestattet waren, etwa wie das Mammut, ausgerottet. Und sogar das Klima haben wir durch Brandrodung verändert. Das, was wir heute tun und was uns mittlerweile unverzeihlich vorkommt, entspringt im Grunde der fast kindlichen Unschuld, die Konsequenzen des eigenen Handelns letztendlich schlicht und ergreifend nicht abschätzen zu können.

Erstmal, naja, einfach versuchen, Weizen anzubauen. Klingt doch cool, was soll da schon schief gehen?

Der Bully

Eine ganz andere, eher soziale Motivation für das menschliche Handeln interessiert mich aktuell aber noch mehr und ich taufe sie „Approval from the Bully“.

Okay, wir tun also Dinge einerseits aus Bequemlichkeit. Aber wir tun sie auch, damit der größte Wichser auf dem Schulhof uns nicht nur nicht mehr auf die Schnauze haut, sondern uns nach Möglichkeit sogar in den Kreis seiner auserlesenen Gruppe aufnimmt. Nirgends lässt sich dieses Prinzip als Studie so schön beobachten wie in der Musikszene oder dem, was davon übrig ist.

Schon so lange habe ich mich gefragt, warum Leute in bestimmten Bands spielen und warum bestimmte Frontmänner so arrogante Arschlöcher sind. Jetzt beginne ich zu verstehen: beides hängt zusammen. Jemand, der Macht will, erschafft zunächst mal ein Klima der Furcht um sich, indem er oder sie oder they etc. Regeln erstellt/erstellen (bzw. von Vorreitern übernehmen), was erlaubt ist und was nicht. Und alle, die durch dieses Raster fallen (alle basic bitches, ich sag’s wie es ist) gnadenlos zu bashen. Und weil alles, was schwer zu haben ist, attraktiv und erstrebenswert erscheint, wird es attraktiv und erstrebenswert von dieser Art Mensch wenigstens in Teilen anerkannt zu werden.

Um also Bestätigung von diesem Mobber zu erlangen, ist der beste Weg, dessen Regelwerk wenigstens grob zu entsprechen und sich ihm beispielsweise als pflegeleichter Bassist anzubieten. Wie ein Hund, der sich vor einem anderen auf den Rücken legt und ihm die Kehle zeigt. Damit flüchtet mensch sich in den Windschatten von jemandem, der mit seinem „passiven Aggressionspotenzial“ eine Aura der vermeintlichen Stärke versprüht.

Eau de Dominance

Das „aktive Aggressionspotenzial“, das Auslöser vieler Ausraster, Streits, umgeworfener Backstage-Möbel oder hämischer Sprüche bei der Entgegennahme eines öffentlichen Preises gewesen ist, muss der Betreffende ab seinem 30. Geburtstag gar nicht mehr ausleben (chillig). Denn in der jugendlichen, stürmischen „Welpenschutz“-Phase hat er es bereits eindrücklich unter Beweis gestellt. Er darf sich ab jetzt entspannen und reden und handeln wie ein mehr oder weniger normaler Mensch. Ab jetzt gilt der immer noch junge Mann als „erwachsen geworden“ und „gereift“. Aber dieses „wenn ich wollte, könnte ich dich jederzeit einen Kopf kürzer machen“ hängt immer in der Luft wie ein schweres Moschuswasser, „eau de Dominance“. Aus demselben Stoff sind übrigens auch Theater-Intendanten, Regisseure und Senderchefs gemacht.

Die unreflektierten, patriarchalen Seilschaften aus Männern im Musikbusiness, die sich in den nachwachsenden Bullies heimlich wiedererkennen oder in jenen zumindest den Mann reinkarniert sehen, dem sie selbst einst in eine Band folgten, sitzen mittlerweile in nächster Generation in den Musiklabels, -verlägen, manchmal Bookingagenturen oder Managements. Sie fördern, versteckt homoerotisch verliebt, unter dem Deckmantel des „Business“ den neuen Sprössling, der seine nützliche Gefolgschaft mit magnetischer Selbstsicherheit an sich heran judged.

Rückfälle

Letztens hatte ich ein Erlebnis in einem Proberaum, als ich schier betrunken war vom Lob eines Typen, der in der Vergangenheit sehr klar als Bully auf sich aufmerksam gemacht hatte. Ich fand mich im Anschluss buchstäblich mit dem Kopf schlackernd draußen auf der Straße wieder und dachte: Was war das denn? Warum hattest du das Lob von so einem denn so nötig? Warum gefiel dir das so?

Als Antwort auf diese Frage erinnerte ich mich dunkel, wie ich damals in der Schule von gleich mehreren Typen aufs Saftigste gemobbt worden bin. Ab einem bestimmen Punkt habe ich gefühlt jeden zweiten Tag eine Krankheit erfunden, sodass meine Mutter mich guten Gewissens zu Hause behalten konnte. Dieses Mobbing umfasste schöne Dinge wie ohne Grund und Vorwarnung geohrfeigt zu werden, auf dem Schulhof eine Tracht Prügel einzustecken, in einem Spielhäuschen gefangen gehalten zu werden oder einfach im Vorbeigehen mit einem harten Gegenstand einen auf die Rübe zu bekommen.

Wahrscheinlich habe ich das über die Jahre ein bisschen vergessen und bin aktuell, wie unbeobachtetes Treibgut, ganz nahe und gänzlich aus Versehen wieder an einen Bully heran geschippert.

Unter den Flügeln eines Drachen

Da ich ein überraschend einfaches Gemüt besitze, ja, ich möchte sagen, mit einer regelrechten Begriffsstutzigkeit gesegnet bin, habe ich mich jetzt also lange gefragt, warum eher harmlose Leute so gerne mit Arschlöchern rumhängen. Und nun habe ich meine Antwort: Approval from the bully. Denn am sichersten ist es immer noch unter den Flügeln eines Drachen. Wahrscheinlich lebt es sich dort einfach am stressfreisten und damit am bequemsten.

Und zum Schluss noch eine kleine Denkaufgabe: Was glaubt ihr, wieviel Potenzial eine Frau hat, die sich als Bully gebärdet und sich einbildet, in solchen Männerdomänen einen Platz zu beanspruchen?

In meinem nächsten Leben möchte ich als gigantischer Drachenflügel auf die Welt kommen, der die ganze Welt zudeckt und so alle Menschen gleichzeitig in den Arm nimmt. Schuppig, ledrig, kühl und seltsam Trost spendend.

 

 

Charlotte Brandi schreibt freiberuflich unter anderem für ROLLING STONE. Weitere Artikel und das Autorenprofil gibt es hier.