Parole Brandi: Nirwana oder Kaufrausch?

Was ist die richtige Strategie bei zunehmender Oberflächlichkeit? Anpassung oder Widerstand?

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Nick Cave meinte in einem aktuellen Interview, dass das „Leiden“ der Menschen nach und nach wegoptimiert würde und demnächst wahrscheinlich einfach ziemlich „retro“ sei. „Remember when they used to suffer?“ Das hat mich zusätzlich in meinem Glauben bestärkt, dass ich mich jetzt mal klar kriegen muss, wenn ich den Anschluss nicht verlieren will.

Leiden war gestern, ab jetzt geht’s um Produkte.

Ich würde gerne oberflächlicher werden. Diese ganze Deepness und das ganze philosophische Blabla, das ist einfach nicht mehr zeitgemäß.

Was mich darauf bringt, ist, dass selbst Freund:innen, die mir normalerweise das Gefühl geben, dass ich in einer Blase aus intellektuellem Anspruch lebe, plötzlich die Membran aufweicht und sie Züge sehen lassen, die ich so nie erwartet hätte.

Es begab sich zu der Zeit, als ich noch in Berlin wohnte, da tappte ich in meine eigene Falle, mitten in meinem eigenen Dauerfeuer der Tiefgründigkeit und der immer währenden Bedeutsamkeit aller Dinge, die ich mit meinem Umfeld besprach und besprach und nochmal besprach.

Ruhm – und dann?

Eines schönen Tages auf dem Tempelhofer Feld, als ich mit meinem Freund N. spazieren ging und wir uns gerade in Oscar Wildeschen Betrachtungen ergangen waren, warum ein Mensch, der sich trennen will, immer die Gründe dafür lange im voraus sammelt, wie ein Nagetier die Nüsse für den Winter, oder wann genau uns der Glaube an wahre Schönheit abhanden gekommen ist, inwieweit Virginia Woolf mit ihrem anarchischem Ansatz das maskuline Narrativ ausgehebelt hat und welche Mystik sich hinter dem makellosen Aussehen von italienischen Jünglingen verbirgt, kamen wir, ich weiß nicht mehr wie, auf das Thema „Ruhm“. Und N. meinte, er fänd es schon auch einfach richtig geil, berühmt zu sein. Ich, immer noch im Modus, verschanzte meinen Widerstand gegen diese Aussage hinter klugen Fragen: Was daran wäre denn so erstrebenswert? Wie würde Ruhm N.s Seele nähren können?

Seine Antwort war: It probably wouldn’t. But it would be pretty fucking awesome!

Ich senkte den Kopf, trat ein paar Kiesel ins Gebüsch und dachte, das kann’s ja nicht gewesen sein. Gleich wird N. mit der wahren, der eigentlichen, der tieferen Antwort um die Ecke kommen. Aber – nein. N. ging nur weiter beschwingt neben mir her und hatte längst auf eine detaillierte Beschreibung der maximal zwanzigjährigen männlichen Models umgeschwenkt, deren Gesellschaft er dann regelmäßig genießen würde und von denen er durchaus gar nichts weiter zu erwarten schien, als dass sie zum Anbeißen aussähen und eine gewisse Höflichkeit an den Tag legten.

Weisheit mit Wienern (und Buddha)

Es gibt ja Verspätungen und Verspätungen. Meine verspätete Reaktion auf meine Vernageltheit an diesem Tag kam ungefähr gestern. Das heißt gut und gerne drei Jahre später.

Immer wieder muss ich auch an Wien denken, wenn es in mir zu tiefgründig werden will. Die Wiener lachen einen nämlich dann aus. „Wos bist da immer so vergrampft, geh bitte.“

Keine Ahnung wo die das her nehmen. Aber sie tun’s und irgendwie. Diese Wiener Attitüde versetzt mir in dieser Sache einen zusätzlichen Arschtritt: Es wird Zeit, dass du mal langsam vernünftig wirst und aufhörst über alles rum zu schwafeln und stattdessen Dinge kaufst und sonst bitte deine Fresse hältst.

Nach der alt-buddhistischen Weisheit Die Energie folgt immer der Aufmerksamkeit möchte ich mich fortan also ganz bewusst mit genau dem Blödsinn beschäftigen, mit dem sich der Rest der Welt auch jeden Tag beschäftigt. Und ich habe mir bereits einen Plan gemacht, den ich nur noch abzuarbeiten brauche, um endlich oberflächlich zu werden.

Oberflächlichkeitstraining 1-3

Als erstes mache ich mal ein Influencer-Kompetenztraining. Da lernt man fünf Minuten lang über eine Sache zu reden, ohne wirklich etwas darüber zu sagen. Eine Handcreme, zum Beispiel. Inhaltsstoffe, scheißegal, aber „der Vibe ist einfach unschlagbar“.

Dann folgt die Challenge „Small-Talk“. Mit fünf Leuten reden, ohne jemals die Themenbereiche Fashion, Wetter und Lieblingskaffee zu verlassen. Sollte eine Person aus Versehen anfangen über Gefühle zu sprechen, gilt es, umgehend auf Cappuccino-Schaum umzulenken.

Und zuletzt noch, falls man sich mal wieder aus Versehen in etwas abgehobeneren Kreisen wiederfindet, was ja bei mir hier und da vorkommt, sich dagegen wappnen, indem man den eigenen Intellekt gegen eine Stanze austauscht. Sowas wie: „Das ist doch ein total postmodernes Narrativ, mein Lieber.“

Nein, dies ist keine arrogante Finte, ich will mich verändern, wirklich, ich bin schon fast gänzlich motiviert!

Poesie und Transzendenz

Alternativ rutsche ich nämlich irgendwann ins Spiri-Emo-Nirwana. Einfach, weil man schon seit über zwanzig Jahren da reingebuttert hat. Und das ist nicht nur ziemlich peinlich, wenn andere einem dabei zugucken müssen. Sondern darüber hinaus auch, wie gesagt, nicht mehr anschlussfähig.

Das Blöde ist nur, dass, wenn man einmal Dinge gesehen, gefühlt und verstanden hat, der Produktgedanke als „Ziel von allem“ jegliche Poetik zerschießt.

Poesie muss etwas fühlen, spüren, sich überwältigen lassen, um dann, wie ein wildes Tier auf diese undurchsichtige Welt zu reagieren. Sich wundern, sich aus der Ruhe bringen lassen, den guten alten Erdboden verlassen und in die höhere Sphäre der Transzendenz auffahren, von der aus wir schlussendlich begreifen, dass wir alle Seelen sind (ja, auch du!), die auf der Erdenschule unser Bestes geben, um, in aller Unschuld wahrscheinlich konsequent alles zu vermasseln, was es zu vermasseln gibt. Während wir auf der Suche nach wahrer Verbundenheit sogar bereit sind, uns mit fremden Menschen, mit „potenziellen Freund:innen“ über Mallorca-Reisen und Shellack-Nägel zu unterhalten, nur, um einen blassen Hauch davon zu spüren, was es heißen könnte, irgendwo dazuzugehören.

Bequeme Sinnlosigkeit

„In einer demoralisierten Welt, wird Kunst, die nur noch als Produkt von Maschinen ausgespuckt wird und den lästigen, leidenden Künstler einfach wegkürzt, irgendwann für die Leute genug sein“, meinte Nick Cave und ließ seine langen Arme wie ein Dirigent zu diesen Worten einen großen Kreis in die Luft schreiben.

Das stimmt sicherlich. Und in Nicks Stimme schwang durchaus Besorgnis, als er diese Worte sprach. Nur, ich kann’s verstehen, das Leben, was nur noch Produkte akkumuliert, erscheint von außen viel, viel leichter, angenehmer. Es scheint viel weniger mühsam als der Entwurf, der dauernd den Dingen unter den Rock gucken muss, um alles zu ergründen, nur um am Ende ja doch nichts abschließendes zu wissen …

Ich habe keine Ahnung, was genau mir meine „Moral“ als Künstlerin laut Nick Cave in diesen Zeiten gebietet.  Aber eins weiß ich: Je länger dieser Mann lebt und Konzerte gibt und am Leben verzweifelt und dann in Interviews durchlässige Sachen zu all dem sagt, desto besser gefällt er mir. Und desto ernster wird für mich die ganze Frage nach dem Sinn von Kunst, Poesie und – Tiefgang.

Nietzsche oder Gucci

Vielleicht ist das Ziel, ein trojanisches Pferd zu werden. Außen Gucci, innen Nietzsche. Aber nach meiner Beobachtung ist genau das in der Praxis nur wieder so ein pseudo-komplexer Instagram-Entwurf, bei dem Gucci irgendwann gewinnt, weil Nietzsche auf die Dauer zu sehr im Hals kratzt.

Hiermit schließe ich meine Überlegungen fürs Erste, denn ich muss jetzt mal los, erst zur Pediküre und danach zu einem Seminar über die Entstehung der „Ecriture Automatique“ durch die  Surrealisten der Achtzehnhundertachtzigerjahre.