Diane Keaton: Wie sie die moderne romantische Komödie erfand
Die verstorbene Schauspielerin zeigte als Annie Hall ein neues, geradezu revolutionäres Frauenbild.
Nachdem Woody Allen seinen vielleicht lustigsten Film gedreht hatte – eine Geschichte über Liebe, Angst, Tod und Identität im Russland der napoleonischen Kriege –, sollte sein nächster Film sich mit dem Ernst des Lebens beschäftigen: mit Liebe, Angst, Tod und Identität im New York der Siebzigerjahre. „Anhedonia“ sollte er heißen, nach einem psychologischen Begriff, der die Unfähigkeit bezeichnet, Freude und Lust zu empfinden.
An einem strikten Plot war Allen dabei genauso wenig interessiert wie bei seinen frühen Komödien, die stets lose an einer hanebüchenen Handlung aufgehängte Gagsammlungen waren – Stand-up als Film. „Anhedonia“ sollte eine assoziative Collage werden, die Fellinis „8½“ nicht unähnlich war: komische autobiografische Episoden, Traumsequenzen, Reflexionen, Fantasien, Liebesgeschichten und fiktive Interviews, die von ihrem Protagonisten, dem neurotischen New Yorker Intellektuellen Alvy Singer, zusammengehalten werden sollten.
Im Aufzug mit Richard Nixon
Entgegen seiner Gewohnheit, nie mehr als nötig zu filmen, drehte Allen mit seinem Ensemble und dem Kameramann Gordon Willis, der seit seiner Arbeit am zweiten Teil von Francis Ford Coppolas „Der Pate“ den Spitznamen „Prince of Darkness“ trug, Stunde um Stunde, schrieb noch am Set das Drehbuch, das er mit Marshall Brickman geschrieben hatte.
Er drehte später nie gesehene Szenen, in denen der kleine Alvy mit Sigmund Freud sprach, philosophische Diskussionen über Kant und Kierkegaard, ein Spiel der New York Knicks, bei dem Alvy an der Seite seiner Idole dribbelte, oder eine von Dantes „Inferno“ inspirierte Sequenz, in der sein von ihm gespielter Protagonist vom Teufel in einem Aufzug in die Hölle hinabgeführt wird und in jeder Etage neue Sünder – von CIA-Agenten bis zu Fast-Food-Servicekräften – zustiegen. Fast unten angekommen gesellte sich, begleitet von lodernden Flammen, auch Richard Nixon zur diabolischen Reisegesellschaft.
Die erste Schnittfassung des Films war drei Stunden lang – und ein großes Durcheinander. Der Cutter Ralph Rosenblum erkannte jedoch, dass die Szenen zwischen Alvy und seiner Ex-Freundin Annie Hall – gespielt von Allens Ex-Freundin Diane Keaton, die eigentlich Diane Hall hieß – eine besondere Magie besaßen.
Keatons Stil
Das verwunderte kaum, denn die Chemie zwischen Allen und Keaton hatte bereits „Sleeper“ und „Love and Death“ getragen. Selbst nach ihrer privaten Trennung schienen sie sich in ihrer Gegensätzlichkeit anzuziehen: er, Sohn zweiter Generation jüdischer Einwanderer, in Midwood/Brooklyn aufgewachsener Sohn eines Gelegenheitsarbeiters und außerordentlichen Schlemiels und einer Buchhalterin; sie, Tochter eines kalifornischen Immobilienmaklers und einer „Mrs. Los Angeles“, aus einem konservativen Milieu, in dem man laut Allen als Sozialist galt, wenn man einer blinden Person über die Straße half.
Rosenblum und Allen begannen daraufhin, den Film radikal umzubauen. Aus der abstrakten Studie über existenzielle Angst schälten sie die Liebesgeschichte zwischen Alvy und Annie heraus. Aus einer Selbstbespiegelung wurde das Porträt einer modernen Paarbeziehung. Keaton hatte ihre Figur als eine Nebenfigur angelegt, die viel mit ihrer eigenen Persönlichkeit teilte: eigensinnig war, intellektuell schlagfertig, unperfekt, chaotisch und komisch. Auch ihre Garderobe spiegelte dies wider: weite Tweedhosen, Männerwesten, Krawatten, Hemden mit aufgekrempelten Ärmeln.
Durch Dianes Augen
Keaton trug androgyne Kleidung, wie Patti Smith auf dem von Robert Mapplethorpe fotografierten Cover ihres Debüts „Horses“, das wenige Wochen vor Drehbeginn von „Annie Hall“ erschien. In seiner Art, Weiblichkeit darzustellen, war der Film unkonventionell, vielleicht sogar revolutionär – nicht zuletzt, weil seine Hauptdarstellerin ursprünglich nur eine Nebenrolle spielen sollte.
„Ihre Schönheit ist nicht konventionell. Und mit konventionell meine ich das, was dem Auge gefällt“, witzelte Allen Jahrzehnte später, als Keaton den AFI Life Achievement Award erhielt. „Sie kleidet sich so, dass sie ihre Sexualität verbirgt – und das hat sie über die Jahre sehr gut gemacht, denn sie ist nie zu Tage getreten.“ Er liebe es, sie ein bisschen zu necken, so Allen weiter, aber sie sei ein großer Teil dessen, was er in seinem Leben erreicht habe. „Durch sie habe ich das Leben mit ihren Augen gesehen.“
Keatons Einfluss
Keaton war es auch, die Anfang der Neunziger in Allens dunkelster Stunde einsprang. Als er von Mia Farrow beschuldigt wurde, die gemeinsame Tochter sexuell missbraucht zu haben, übernahm sie die ursprünglich für Farrow vorgesehene weibliche Hauptrolle in „Manhattan Murder Mystery“. Allen schrieb darauf das Drehbuch um, um das komische Talent seiner neuen Hauptdarstellerin einsetzen zu können und drehte schließlich einen seiner schönsten und leichtesten Filme, der zugleich eine Liebeserklärung an Keaton war. Auch die Art und Weise wie Emily Mortimer in Allens spätem Triumph „Match Point“ (2005) Tennis spielt, scheint eine Hommage an Annie (und Diane) Hall zu sein.
Doch der Einfluss von Keaton und ihrem filmischen alter Ego geht weit über das Allensche Werk hinaus. Natürlich erkennt man ihn in fast jeder romantischen Komödie, in der die weibliche Hauptrolle mehr ist als passive Muse und Objekt der männlichen Begierde. Man sieht sie auch etwa in der Mode von Ralph Lauren, in den Filmen von Greta Gerwig wie „Frances Ha“ oder in einigen Outfits von Billie Eilish.
Etwas Besseres als Diane Keaton hätte Woody Allen, dem Kino, der Mode und uns nicht passieren können.