Drogenstaat Afghanistan – Wie Heroin ein Land regiert

Eine Bilanz nach mehr als 13 Jahren Krieg: die Taliban sind ungeschlagen – und die Drogen-Bosse stark wie nie

Die Provinz Helmand im Süden Afghanistans ist nach dem Fluss benannt, der durch die Hauptstadt, Lash-kar Gah, fließt, die sich mit ihren buschbestandenen Kreisverkehren und den Glasfassaden der Marktviertel in die Ebene duckt. Im Frühjahr herrscht dort eine gespannte Stimmung wie in einem Walfängerdorf, das die Rückkehr der Schiffe erwartet. Basare, gefüllt mit Trockenfrüchten, Landmaschinen und Motorrädern. Teehäuser, in denen die Übernachtung auf dem Teppich im Preis für das Abendessen enthalten ist, voll mit Wanderarbeitern – „Nishtgar“ genannt –, die es aus den südlichen Provinzen oder aus dem Iran und aus Pakistan hierher zog. Die Schulen sind verwaist. Selbst in den vom Krieg besonders zerrütteten Distrikten haben Polizisten und Taliban die Waffen niedergelegt. Es ist so weit: Hunderttausende nehmen an der größten Opiumernte in der Geschichte Afghanistans teil. Auf einer Anbaufläche von mindestens 2.240 Quadratkilometern produziert das Land geschätzte 6.400 Tonnen Opium, das sind rund 90 Prozent der weltweiten Ernte. Gegen die Verwicklung höchster Wirtschafts- und Regierungskreise des Landes in die Drogenproduktion wirkt das Kolumbien der Escobar-Ära vergleichsweise brav. Selbst damals, gegen Ende der 80er-Jahre, betrug der Anteil von Kokainproduktion und -handel am Bruttoinlandsprodukt Kolumbiens nie mehr als sechs Prozent; laut den Vereinten Nationen macht die Opiumindustrie in Afghanistan heute fünfzehn Prozent des Wirtschaftsvolumens aus. Eine Zahl, die sich erhöht, je mehr der Westen sich zurückzieht. „Was immer man unter dem Begriff ‚Drogenstaat‘ verstehen mag: Wenn es ein Land gibt, auf das er zutrifft, dann ist das Afghanistan“, sagt Vanda Felbab-Brown, eine leitende Mitarbeiterin der Brookings Institution, die die kriminelle Schattenwirtschaft in Konfliktzonen erforscht. „In dieser Größenordnung ist das beispiellos.“ Noch erschreckender ist, dass sich das Ausmaß des afghanischen Drogenhandels seit der US-Invasion vergrößert hat. Wie konnten sich die Schlafmohnfelder direkt unter der Nase einer der größten internationalen Missionen mit dem Ziel militärischer und ziviler Unterstützung derart ausbreiten? Die Antwort ist teilweise in den zutiefst zynischen Kungeleien begründet, auf die sich der ehemalige afghanische Präsident Hamid Karzai einließ, um seine Macht zu erhalten. Und auch in der Art und Weise, wie das US-Militär die Korruption seiner Alliierten im Kampf gegen die Taliban ignoriert hat. Dies ist die Geschichte davon, wie die USA in Afghanistan über dem Krieg gegen den Terror den Kampf gegen die Drogen aus den Augen verloren haben, indem sie mit vielen von denjenigen Bündnisse eingingen, die das Land zu einem der weltgrößten Heroinproduzenten gemacht haben. Nirgendwo wird das deutlicher als in Helmand, der afghanischen Provinz mit dem höchsten Blutzoll, wo während des Krieges mehr als tausend Soldaten ihr Leben verloren. Helmand ist allein für fast die Hälfte der afghanischen Opiumproduktion verantwortlich, und sowohl Polizei- als auch Regierungsbeamte sind hier tief in den Drogenhandel verstrickt. Dennoch lässt die afghanische Regierung offiziell verlauten, dass Schlafmohn ausschließlich in den von den Taliban kontrollierten Gebieten angebaut werde. „In den Distrikten hier in der Nähe gibt es keinen Opiumanbau“, versichert Brigadegeneral Abdul Qayum Baqizoi, der Chef der Provinzpolizei war. „Opium gibt es nur in abgelegenen Gebieten. Aber es ist für Journalisten nicht ratsam, dorthin zu reisen – zu unsicher.“ ir versuchen es trotzdem. Hekmat, ein 28 Jahre alter Lehrer mit sanfter Stimme, verspricht, dass er uns in eine relativ sichere Gegend in Mardscha unweit von Lashkar Gah bringen kann, in der Mohn angebaut wird. Hekmats gesamte Familie ist im Opiumgeschäft. Außerdem hat er ohnehin gerade nichts zu tun – seine Schüler sind fort, um bei der Ernte zu helfen. Am nächsten Tag überqueren wir mit Hekmat das breite Band des Flusses Helmand und fahren über eine glatt asphaltierte Straße Richtung Westen, früher eine mit Sprengfallen gespickte, staubige Piste. Heute fällt es schwer, sich vorzustellen, dass Mardscha einmal Schauplatz einer der blutigsten Schlachten des Krieges war: 2010 führten US-Marines einen Luftangriff auf das von den Taliban kontrollierte Gebiet durch, waren die Soldaten zwischen Lehmhütten und Obstgärten in heftige Feuergefechte verwickelt und wurden immer wieder Opfer von Sprengfallen. Heute ist diese Gegend ein friedlicher, grüner, von Ackerbau geprägter Landstrich, in dem die Baumkronen langsam über den Horizont ziehen und wo sich gelegentlich in der Ferne Gewitterwolken auftürmen. Es ist heiß, und in der Luft liegt der süße Duft des nahenden Wetterwechsels. Mardscha wird von Bewässerungskanälen durchzogen. Aus deren mit dichtem Gesträuch bewachsenen Böschungen sprießen Pumpenschläuche, die wie Trinkhalme ins Wasser ragen. Halb nackte Kinder springen vom lehmigen Ufer in das kalte, braune Nass.

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