ABC – London, Royal Albert Hall

Wohl zum letzten Mal schlug Martin Fry jetzt in London das legendäre „Lexicon Of Love" auf. Mit BBC-Orchester und güldenem Anzug.

Giftpfeile im Herzen, ein erhobenen Hauptes durch sein eigenes Herzblut schreitender Liebeskranker, ein unwiderrufliches „I can never love you“. Als das „Lexicon Of Love“ aufgeschlagen wurde, war die Pop-Welt nicht mehr dieselbe. „In meinen 30 Jahren Produzententätigkeit sind mir nie wieder derart brillante Texte untergekommen“, resümiert Trevor Horn.

26 Jahre, neun Monate und 15 Tage nach der Veröffentlichung führen ABC ihr Pop-Wunderwerk zusammen mit dem BBC Concert Orchestra in der Londoner Royal Albert Hall auf, und der Produzent, der mit Frankie Goes To Hollywood, Art Of Noise und Propaganda die Achtziger wie kein anderer prägte, würdigt alle Beteiligten. Drummer David Palmer, damals 17 Jahre alt, heute in Diensten von Rod Stewart. Mark White, der alle Gitarrenparts einspielte, inzwischen als Reiki-Lehrer in anderen Sphären unterwegs und heute nicht dabei. Background-Sängerin Tessa Niles, die weibliche Stimme von „Date Stamp“, zu diesem Event extra aus Südafrika angereist. Keyboarderin Anne Dudley, die zudem die Streicherarrangements schrieb – und heute das 52-köpfige Orchester dirigiert. Und Gary Langan, der Tontechniker der Platte, sorgt am Mischpult für den fantastischen Sound eines unvergesslichen Abends. Was machte ausgerechnet dieses Album damals anders als alle anderen? „Die Songs und die Melodien waren großartig“, findet Horn.

„Und dann kam die Emotion in der Stimme von Martin Fry dazu – bis dato ein unerfahrener Sänger einer Synthie-Band.“

Es gab auch ein Leben nach dem Klassiker. Bevor die ersten Takte von „Show Me“ erklingen, geleiten Martin Fry und David Palmer, zusätzlich von einer sechsköpfigen Band und vier Sängerinnen unterstützt, durch das ABC-Songbook. Mittlere Hits und Songs, die welche hätten werden sollen.

„When Smokey Sings“ war die Single, die sich dem „Lexicon Of Love“ am meisten annäherte, „One Better World“, ABCs Beitrag zur House-Revolution, gefällt in neuem, klassischem Arrangement, „Ocean Blue“ setzt ein erstes Ausrufezeichen. Lediglich „The Very First Time“, die „Online-Auskopplung“ vom neuen Album „Traffic“, fällt – mit angedeuteter Rock-Attitüde – etwas ab. Alles schön, alles gut, aber nicht „The Real Thing“, um mit ABC-Songtiteln zu sprechen. „Show Me“ nimmt die Royal Albert Hall schließlich im Sturm, und bei“Poison Arrow“ hält es keinen mehr auf den Sitzen. „The Lexicon Of Love“ als zeitlos zu bezeichnen, trifft es nicht-dieses Album klingt auch 2009 modern und gewaltig wie 1982, als das Werk wie ein Phönix aus der Asche von Post-Disco, Post-Punk und Post-New Romantic in die Welt katapultiert wurde und einen überlebensgroßen Schatten auf die Konkurrenz warf. Jedes Stück ein Song für die Ewigkeit, jedes Stück ein Hollywood-Streifen. Lediglich Rob Hughes, der Ersatz für den Original-Saxofonisten Stephen Singleton, findet an diesem Abend mit übertriebenen Soli und entsprechendem Posing nicht allzu viele neue Freunde. Dass David Palmers Schlagzeug manchmal das Orchester neutralisiert – geschenkt!

Und Martin Fry, der Romeo, der Mann im Herzblut? Er trägt ihn nicht, den Goldlame-Anzug, auf den sie alle gewartet haben. „Spandau Ballet hatten ihren Privatflieger, ich meinen Goldlame“, lacht Fry und erinnert an die Aufnahmesessions in einem engen Kellergeschoss unter einem Perückenladen in Brick Lane. „Sind wir schon auf Seite zwei?“, fragt er und erzählt aus einer Zeit, als Tonträger noch gewendet werden mussten. Im Gegensatz zu einigen seiner Comebackversuche, bei denen ABC wie ihre eigene Revival-Band wirkten (im September gastiert er im Heidepark Soltau!), hat Frys Auftreten nichts Peinliches — im Gegenteil. Dies ist sein Abend, und der Schlips wird bis zum Schluss nicht gelockert. Fry ähnelt nicht nur seinen Vorbildern David Bowie und Bryan Ferry, sondern gibt sich auch wie ein James-Bond-Darsteller, über jede Las Vegas-tackiness erhaben. Der Hüftschwung —- immer noch souverän. „Teil me! Teil me! How to be a millionaire“ sang er im ersten Set, und für diese eine Nacht ist der Mann aus der Industriestadt Sheffield endlich einer.

Zugabe, noch ein Part von „The Look Of Love“, und dann doch: Fry kommt zurück — im Goldanzug! Alles johlt — „hip hip hooray“. Auch diesen Moment hat er perfekt getimt. „Martin, maybe one day you’ll find true love.“ Draußen, auf dem Asphalt, raunt die Frau im goldenen Tüllrock, von der man die letzten 90 Minuten geträumt hat, ein unwiderrufliches „Goodbve“.

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