Airen vs. Helene Hegemann: Das Tagebuch
Airen beschreibt in diesem Tagebuch exklusiv für den Rolling Stone die "krasse Woche", in der herauskam, dass Helene Hegemann in ihrem Bestseller "Axolotl Roadkill" ganze Textpassagen von ihm geklaut hatte.
Sonntag, 7.2.2010
An den Wochenenden gehen Nancy, meine Frau, und ich immer spazieren. Wir haben zur Zeit nicht viel Geld, aber auch so gibt es tausend Orte in Berlin, wo man das Wochenende rumkriegt. Heute machen wir einen Streifzug durch das Nikolaiviertel. Es ist nicht viel los. Vor den Gemäuern der Nikolaikirche setzen wir uns eine Weile. Ich weiß beim besten Willen nicht mehr, worüber wir dort sprechen. Über nichts Wichtiges wahrscheinlich. Mein Leben hat in den letzten Monaten ziemlich still gestanden.
Ich ahne noch nicht, dass die Ereignisse der kommenden Woche es komplett verändern werden.
Völlig losgelöst von uns braut sich in unserem Rücken der Literaturskandal des Jahres zusammen. Helene Hegemann und ihre Verlegerin Siv Bublitz geben ziemlich genau in diesem Moment eine Pressemitteilung heraus. Es geht um Plagiatsvorwürfe. Helene Hegemann, deren gerade erschienener Roman „Axolotl Roadkill“ schon kurz nach seinem Erscheinen an die Spitze der Bestsellerlisten geklettert war, gibt zu, abgeschrieben zu haben.
Bereits seit Tagen versuchen mich mein Verleger und mein Herausgeber per Email zu erreichen. Ein Telefon habe ich zu diesem Zeitpunkt nicht. Ich hatte ein halbes Jahr zuvor „Strobo“ veröffentlicht, das Tagebuch meines Lebens, bevor ich Nancy kennenlernte, als ich Drogen nahm, Ecstasy, Speed, Heroin, Ketamin, als ich wahllosen Sex hatte und mich innen drin eigentlich total leer fühlte. Eine Zeit, während der nur das Schreiben etwas Sinn in mein Leben brachte. Eine ziemlich beschissene Zeit, ehrlich gesagt. Eine Zeit, die denkbar weit entfernt ist. Nun soll sie mich wieder einholen.
Wir schlendern ein wenig weiter durch diese Collage mittelalterlicher Gebäude. Auf dem Rückweg mache ich noch einen Abstecher ins Internetcafé, mal die Mails checken. Es sind 28. Wenn ich heute darüber nachdenke, war das, dieser Moment, als ich da 28 neue Mails sah und eine nach der anderen aufklickte, der Augenblick, an dem ich Schritt für Schritt in ein neues Leben trat.
Die meisten Mails sind von meinem Verleger. Auch einige von Deef Pirmasens, der als erster auf die kopierten Stellen in „Axolotl“ aufmerksam geworden ist. Ein entsprechender Artikel steht seit zwei Tagen auf seinem Blog. Und – da muss ich erst mal lachen – ein Schreiben der Leiterin des Literaturressorts der FAZ. Sie würde sich gerne einmal mit mir über den Fall Hegemann unterhalten. Mail für Mail fügt sich alles zusammen. Helene Hegemann hat viele Sätze, manchmal ganze Dialoge, aus „Strobo“ und aus meinen danach erschienenen Blogtexten kopiert. Wie es aussieht, eine ganze Menge. So viele, dass sich die FAZ an einem Sonntagnachmittag dafür interessiert. So viele, dass Helenes Verlag Ullstein schon prompt eine Pressemitteilung herausgegeben hat. Es sieht nach etwas Großem aus. In meinem Bauch beginnt es zu kribbeln.
Ich gehe zur Telefonzelle und rufe bei meinem Verlag an. Der ist eigentlich das Hobbyprojekt dreier Mittdreißiger. Einer von ihnen ist gerade in Armenien. Als ich mich endlich melde, hört man den Verleger am anderen Ende der Leitung spürbar aufatmen. Ob ich Helene kenne, fragt er, ob ich ihr eine Erlaubnis zum Übernehmen der Stellen gegeben habe. Die Antwort ist Nein. Wir verabreden uns für den Abend in seiner Wohnung im Norden Berlins.
Als ich dort zwei Stunden später ankomme, liegt auf dem Küchentisch „Axolotl Roadkill“. Klar hatte ich aus der Presse von diesem Erfolgsbuch eines 17-jährigen Mädchens erfahren, es schien ja der Hit der Saison zu sein. Aber wirklich, physisch vor mir, sehe ich das Buch jetzt zum ersten Mal. Ich blättere darin und sofort fallen mir neue Stellen auf. Sätze, die von mir sind. In einem Bestseller. Ich kann’s erst mal gar nicht glauben. Morgen soll die FAZ angeblich sogar einen Artikel zu dem Thema bringen.
Am Abend kommt GlamourDick – ein befreundeter Blogger – und wir köpfen die erste von vielen Flaschen Weißwein, die in den nächsten Tagen fließen werden.
Montag, 8.2.2010
Ich gehe zum Zeitungskiosk und kaufe die FAZ. Und die Berliner Morgenpost. Und den Tagesspiegel. Denn in allen dreien wird über Helene Hegemann berichtet – und über „Strobo“. Ich krieg da erst mal eine ganze Weile das Grinsen nicht mehr aus dem Gesicht. Das Kribbeln wird stärker. Du bist in der Zeitung, Alter, denk ich. Wer hätte das je gedacht …
Aber dann fällt mir auch ein, was das für Helene bedeuten muss. Die läuft da gerade nur ein paar Kilometer von mir entfernt durch Berlin und hat einen richtig beschissenen Tag. Vom Wunderkind zum Buhmädchen an einem Wochenende.
Nach dem Frühstück gehe ich gleich wieder ins Internetcafé, um ein paar Freunden Bescheid zu geben. Im Posteingang sind diesmal 42 Emails. Die Zeit, Der Spiegel, ARTE und WDR bitten um ein Statement, oder am liebsten gleich ein Interview. Ich sage erstmal allen ab und verweise an meinen Verlag. Was soll ich dazu auch sagen? Ich hab’s ja selber gerade erst erfahren.
Das Thema nimmt Überhand. Regiert meinen Kopf. Ich kann an nichts anderes mehr denken. Was halte ich davon? Was sage ich denen jetzt? Was bedeutet das alles für mich?
Ich kaufe mir eine Schachtel rote Gauloises und fange wieder an zu rauchen. Dann hole ich mir ein neues Handy und eine Internet-Flatrate. Der Monat hat ja gerade erst begonnen. Den Rest des Tages verbringe ich damit, Axolotl zu lesen. Mein Verlag hat mich gebeten, alle Stellen, die von mir sind, zu identifizieren. Manchmal gibt es dreißig Seiten lang keine einzige. Und dann wieder eine nach der anderen. Am Ende habe ich insgesamt sechs DIN A4 Seiten zusammen.
Am Abend sage ich dem Spiegel für ein Interview zu. Ich checke auch seit langem wieder einmal meine Blogstatistiken. Nachdem ich seit beinahe einem halben Jahr keine Texte mehr geschrieben habe, dümpelten die Besucherzahlen irgendwo zwischen zehn und zwanzig pro Tag. Heute sind es achtundvierzigtausend.
Dienstag, 9.2.2010
Ich gehe zum Zeitungskiosk und kaufe alle Zeitungen. Es bringt jetzt wirklich jede einen Artikel, die meisten sogar einen Teaser auf der Titelseite.
So unglaublich das ist – langsam kann ich mich nicht mehr darüber freuen. Die Erfahrung beginnt allmählich, krass zu werden. In der letzten Nacht konnte ich nicht eine Sekunde schlafen. Ich zermartere mir pausenlos das Hirn. Ich denke nur noch an dieses eine Thema. Ich schwitze.
Heute steht erstmal das Interview mit dem Spiegel an. Tobias Rapp, der Autor von Lost&Sound, einer wissenschaftlich-exakten Abhandlung über die Techno-Szene Berlins, kommt zu meinem Verlag. Ich bin bereits eine Stunde früher da. Schwitze, rauche, laufe auf und ab. Frage mich, was der jetzt fragen wird. Und streite mich dann mit der Frau des Verlegers, ob ich vorher ein Bier trinken darf. Als Tobias Rapp klingelt, mache ich das Becks einfach auf und schütte es in zehn Sekunden in mich rein. Das Interview verläuft trotzdem total verkrampft, fast wie ein Vorstellungsgespräch. Ich bin mir einfach extrem bewusst, dass alles, was da gerade geschieht, jede Geste, jedes Wort, in ein paar Tagen im Spiegel stehen kann. Auf dem Rückweg gehe ich zum Kiosk und kaufe eine Schachtel blaue Gauloises. Die Nervosität bleibt.
Man kann diese Erfahrung eigentlich ziemlich einfach nachstellen. Man besorge sich Speed und ziehe alle zwei Stunden eine kleine Line. Das fühlt sich am Anfang wirklich toll und aufregend an. Nach einem halben Tag wird es aber anstrengend. Und nach einer gewissen Zeit macht es einen nur noch kaputt. An diesem Dienstag vollzieht sich gerade der Übergang von einer spannenden Situation zum Albtraum. „Strobo“ ist seit dem frühen Morgen ausver-kauft, nicht lieferbar. Morgen Interview mit der FAZ.
Mittwoch, 10.2.2010
Ich kann noch immer nicht schlafen. Mehr als 48 Wachstunden habe ich selbst mit Drogen selten durchgestanden. Und der Tag hat gerade erst begonnen. Ich installiere das Internet und checke wieder die Mails. Mittlerweile hat sich die komplette Medienwelt auf meinem GMX-Konto eingefunden. Alle Zeitungen, alle Fernsehsender, alle Radiostationen bitten um ein Interview. Das wenige Essen, zu dem ich mich zwingen kann, kriege ich kaum runter. Ich bin jetzt wirklich krankhaft nervös.
Das Interview mit der FAZ machen wir bei Glam. Nach dem ziemlich unangenehmen Gespräch mit dem Spiegel gestern war mir diesmal eine vertraute Umgebung wichtig. Ich habe schon ein paar Glas Weißwein intus, als am Abend Tobias Rüther, der Journalist, klingelt. Und als ich ihn im Türrahmen sehe, in seinem Zweireiher und mit gepflegtem Haar, denke ich erst mal: „Mann, und ich dachte, die bringen hier ihren Pop-Korrespondenten.“ Doch das Gespräch, das sich da zwischen Weißwein und Zigaretten entfacht, ist spannend, intensiv und schnell. Rüther hat „Strobo“ gelesen und zum ersten Mal beantworte ich wirklich Fragen zu meinem Buch. Also auch zu meinem Leben. Es ist ein fesselnder Austausch von Ideen. Als wir am Ende fast zwei Stunden gesprochen haben, bin ich ziemlich betrunken. Ich gönne mir ein Taxi für die Heimfahrt.
Donnerstag, 11.2.2010
Ich stehe auf und kotze. In der Nacht konnte ich nicht mal für eine halbe Stunde einnicken. Gegen drei Uhr morgens wechselte ich meinen durchgeschwitzten Schlafanzug gegen einen neuen. Seit vier Tagen bestimmt dieses Thema nun schon mein Leben. Zuhause laufe ich nur mit hinter dem Kopf verschränkten Armen von Zimmer zu Zimmer. Jetzt haben auch die wenigen Medien die bislang noch fehlten, meine Email-Adresse heraus bekommen. Ich bin bleich und nass und zittere. Ich atme schwer. Eigentlich sehe ich aus – und fühle mich wahrscheinlich ähnlich – wie Hitler einen Tag vorm Untergang. Alles wirkt wie ein Angriff. Beim Einkaufen fällt an einem Zeitungskiosk mein Blick auf die Titelseite der BZ. In Hellersdorf hat ein Einbrecher einen Mann aus dem sechsten Stock geworfen. Er war sofort tot. Dazu nur das Bild des Neubaus. Mich packt das Grauen. Ich kann die Verzweiflung, die Todesangst, in ihrer kompletten Brutalität nachempfinden. Minutenlang bin ich von dieser Nachricht schockiert. Ich bin nackt. Meine gesamte Abwehr ist zusammen gebrochen.
Jeder verantwortungsvolle Psychologe würde mich einweisen und sofort auf Valium setzen.
Zeitungen kaufe ich heute nicht. Ich will nur noch, dass es aufhört.
Ich spreche mit ein paar Freunden, die meine Angst und Aufregung gar nicht nachvollziehen können. Es sei doch ein Grund, sich zu freuen, vor allem für „Strobo“! Im Grunde kann auch ich nicht sagen, was genau das Problem ist.
Für das Interview mit der SZ gehe ich wieder zu Glam. Nach dem Gespräch sehen wir die Harald Schmidt Show. Helene Hegemann ist als Gast angekündigt. Zuerst einmal merke ich, dass sämtliche Nachrichten dieser Woche spurlos an mir vorbei gegangen sind. Ein Maulwurf beim DFB? Hör ich zum ersten Mal.
Dann kommt ein Türke mit Perücke auf die Bühne, der mich persifliert. Vor jeder Antwort inhaliert er Helium aus einer Gasflasche. Dann öffnet er „Strobo“ und liest Texte von Kafka und Rilke vor. Irgendwie ist das schon lustig. Noch lustiger, wenn es nicht um einen selbst geht.
Helene Hegemann tritt auf. Sie scheint oben auf zu sein. Dass man sie des Kopierens verdächtigt ist für sie eine Kampagne der Presse. Falsch gemacht habe sie gar nichts. Sie erwähnt weder mich noch mein Buch mit einem Wort.
Nach ihrem Auftritt habe ich jede Spur Mitleid, die ich bislang für sie gefühlt habe, verloren. Ich habe Helene nie Vorwürfe gemacht. Aber diese Darstellung war schamlos. Ob ich Helene einmal treffen wollte, hatten mich viele in den letzten Tagen gefragt. Nach dieser Sendung nicht mehr.
Freitag, 12.2.2010
Die erste Nacht mit Schlaf. Der Pyjama war am Morgen trotzdem durchgeschwitzt. Die FAZ bringt das Interview. Darunter ein Beitrag von Glam. Ich lese mir an diesem Tag immer wieder diese beiden Artikel in der FAZ durch, nutze sie geradezu als Beruhigungsmittel. Endlich Worte in meinem Sinn, endlich meine Sicht der Dinge.
Meiner Frau Nancy, die Mexikanerin ist, kann die Geschehnisse jetzt auch in spanischen und kolumbianischen Zeitungen nachverfolgen. Auch die New York Times bringt einen Artikel zum Thema. Ich beschließe, keine weiteren Interviews zu geben. Ullstein und Sukultur haben sich geeinigt. Es gibt eigentlich nichts mehr zu sagen.
Samstag, 13.2.2010
In der SZ und im Spiegel erscheinen die Interviews, beide mit Foto. Auf der Straße ziehe ich mir die Kapuze etwas tiefer ins Gesicht. Dabei ist die Gefahr, hier in Berlin-Moabit auf einen Spiegel-Leser zu treffen, ziemlich gering.
Mails von der Presse kommen jetzt kaum noch. Deef Pirmasens hat spontan eine Lesereise durch Deutschland organisiert und wird „Strobo“ in verschiedenen Großstädten multimedial vorstellen.
Sonntag, 14.2.2010
Die beiden letzten Nächte konnte ich schlafen, auch wenn ich den Pyjama jedesmal am frühen Morgen gegen einen trockenen tauschen musste. An diesem Sonntag Vormittag will ich nur raus aus Berlin, Abstand gewinnen. Wir beschließen, die Tropical Islands zu besuchen, eine künstliche Strand-und-Urwald Landschaft in einer ehemaligen Cargolifter-Halle zwischen Krausnick und Staakow. Hauptsache weg von dem ganzen Trubel. Einen Hauch von Urlaub. Wir fahren mit dem Zug ins tiefste Brandenburg, wo uns ein knallgrüner Shuttle-Bus in Urwald-Optik erwartet. Aber die Tropical Islands sind voll, die Schlange vor dem Einlass scheint ewig. Vor der Halle rauchen wir noch eine, atmen etwas brandenburgische Luft, dann steigen wir wieder in den Shuttle-Bus. Durch das Fenster betrachte ich die winterliche Landschaft. Scheiß auf die Islands. Aber es war gut, mal rauszukommen.
Montag, 15.2.2010
Schon wieder ist mein Posteingang voll. Doch diesmal mit Angeboten. Produktionsfirmen sind an den Filmrechten zu „Strobo“ interessiert. Der Blumenbar Verlag möchte aus meiner Geschichte in Mexiko ein neues Buch machen. Das Zeit-Magazin hat die Idee zu einer Airen-Kolumne.
Und eine Mail ist vom Rolling Stone. Ob ich nicht Lust hätte, ein Tagebuch über die letzte Woche zu schreiben. Ich nehme an.
Die erwähnten Blogs von GlamourDick und Deef Pirmasens finden Sie unter
http://glamourdick.twoday.net und http://www.gefuehlskonserve.de.
Ein Text von: Airen