Amerikanischer Kontrapunkt

Mit prominenter Unterstützung erzählt Joanna Newsom quer zu allen Genregrenzen ein großes Epos

Das ist eine lange Geschichte“, seufzt Joanna Newsom, lächelt putzig und klappert verlegen an ihrer Kaffeetasse. Es gibt wenige Menschen, denen man lieber beim Erzählen zuhören würde als der aparten 24-jährigen Harfenistin. Selbst wenn es zunächst nur um technische Details zum neuen Album geht, die sie an diesem Tag wahrscheinlich vielen Journalisten in die Ohren summsen wird, denn der Andrang ist groß. Viel lieber würde man ihr allerdings lauschen, wenn sie von Tanzbären, Drehorgeläffchen, Papiervögeln oder einem Mädchen, das seiner Schwester die Himmelskörper deutet, erzählte. So wie sie es in ihren Songs tut. Oder wenn sie dramatisch flüsternd von der geheimnisvollen, vor der bretonischen Küste versunkenen Stadt Ys berichtete, die ihrem neuen Album den Namen gab. „Alles begann, als ich mich entschied, Lieder über ein Jahr meines Lebens zu schreiben“, erklärt Newsom schließlich doch zunächst die Genese von „Ys“. Jede Zeile auf dieser Platte bezieht sich auf etwas, was mir wirklich passiert ist.“

Klingt nach einem typischem – fast möchte man sagen klischeehaften -Ansatz für eine junge Songwriterin. Doch die Texte ihrer fünf epischen Lieder sind für dieses Genre ungewohnt kunstvoll gewoben. Allein um mir die ausgeklügelte Wahl der Wörter zu erklären, braucht Newsom über fünf Minuten. „Wenn ich einfache Prosa geschrieben hätte oder ein Gedicht, hätte ich vieles anders formuliert, um diese Geschichte zu erzählen. Die Bedeutung wäre die gleiche gewesen, aber ich hätte ganz sicher andere Wörter gewählt und eine andere Syntax“, beendet sie schließlich ihren Vortrag.

Newsom überlässt in ihren Texten nichts dem Zufall, setzt einzelne, auf dem Album immerwiederkehrende Motive mosaikartig zusammen, spielt mit Perspektiven und Formen. „Wenn man versucht, über sein eigenes Leben zu schreiben, schafft man zunächst mal automatisch eine Distanz zwischen sich und den Dingen“, erklärt sie ihren lyrischen Ansatz. „Dann stellt man fest, dass alles irgendwie miteinander verbunden ist. In diesem Fall sind es vier Begebenheiten, die mein Leben stark verändert haben – und die in der ein oder anderen Form in allen Texten auftauchen, sich über die einzelnen Songs weiterentwickeln.“

Alles in allem machen die Texte nicht den Eindruck einer tagebuchartigen Seelenschau, arbeiten mit literarischen Anspielungen – etwa an William Faulkners „The Sound And The Fury“ und Vladimir Nabokovs „Lolita“ -, mythischen Bildern und bukolischen Landschaftsschilderungen. „Das Album erzählt eine impressionistische Geschichte mit einer Reihe von Bildern, Themen und Archetypen, größeren Ideen also, die völlig unabhängig von meinem autobiografischen Ausgangspunkt funktionieren.“

SONG CYCLE

Eingebettet ist dieses Epos in komplexe musikalische Gebilde, bestehend aus Newsoms idiosynkratischem Harfespiel und den Orchesterparts des großen Arrangeurs Van Dyke Parks. „Den kannte ich bis vor kurzem gar nicht“, gesteht Newsom, als ich sie auf den eigenwilligen Komponisten und Beach Boys-Kollaborateur anspreche. „Ich kannte nur sein Album ‚Song Cycle‘ – und das auch noch nicht so besonders lange. Zwei Wochen nachdem mir jemand dieses Album gab, wusste ich, dass ich ihn finden und mit ihm meine nächste Platte machen muss. Mir war nicht klar, was für eine große Sache das war. Für welche Künstler er schon gearbeitet hat.“

In ihrer gar nicht so naiven Jungmädchenart bat sie ihr Label Drag City, den Meister zu kontaktieren. Der – immer mit einer gewissen Neugier ausgestattet – willigte ein, sich Newsoms Songs in Los Angeles einmal anzuhören und dann über eine Zusammenarbeit nachzudenken. „Er und seine Frau Sally kamen in mein Hotelzimmer“, so Newsom aufgeregt, „und hörten mir zu, wie ich diese Lieder spiele. Nach einer gefühlten Stunde stand Van Dyke auf und sagte nur: ‚Okay, ich mach’s.'“

Ob Parks, der als Arrangeur, Produzent und Musiker von den Byrds bis zu den Scissor Sisters schon mit so ziemlich jedem Popmusiker von Rang und Namen gearbeitet hat, wusste, auf welch monumentale Arbeit – quantitativ und qualitativ – er sich da einließ? „Es war seltsam, weil ich ihn immer wieder auf das verwiesen habe, was er auf ‚Song Cycle‘ gemacht hat“, erklärt Newsom die Zusammenarbeit. „Für ihn lag das 40 Jahre zurück, ich hatte das Album erst vor wenigen Wochen entdeckt. Am Ende hat er sich allerdings nicht so sehr auf ‚Song Cycle‘ bezogen, sondern etwas völlig Neues gemacht. Das war sicher auch für ihn eine Herausforderung.“

Und tatsächlich waren wir einem Album mit genuin neuem Material des schnauzbärtigen Popquerkopfs Parks in den letzten zehn Jahren nie näher. Die Arrangementsauf „Ys“ sind Kulisse und Erzähler zugleich, ziehen in „Emily“ den funkelnden Sternenhimmel auf, lassen in „Only Skin“ Vögel über die unruhige, dunkle See schwirren und geben im sublimen „Monkey & Bear“ einen Eindruck, wie der versponnene Pop von „Song Cycle“ heute klingen könnte.

Im Dezember letzten Jahres nahm Newsom mit Indie-Produzenten-Ass Steve Albini die Songs zu Stimme und Harfe auf, dann begann die Arbeit des Arrangeurs Parks, die sich – inklusive zigfacher Überarbeitung einzelner Parts auf Wunsch der Künstlerin – bis zur endgültigen Aufnahme des Orchesters ganze sieben Monate hinzog. „Es war vermutlich das erste Mal in einer sehr langen Zeit, dass Van Dyke mit jemandem gearbeitet hat, der immer wieder von ihm verlangt hat, Sachen zu ändern“, erklärt Newsom nicht ohne Stolz. Jim O’Rourke mischte die fünf Tracks schließlich im Juli 2006 zusammen und war so begeistert von dem Ergebnis, dass er in allen großen amerikanischen Zeitschriften jeweils eine ganzseitige Anzeige schalten wollte, auf der nur ein Bild von Joanna Newsom und der Satz „Music is back“ zu sehen sein sollten.

O’Rourke, Albini, Parks – bei dieser geballten Kompetenz dürfte das so ziemlich die größte Produktion gewesen sein, die das kleine Chicagoer Label Drag City je in Auftrag gab. Doch für alle schien die künstlerische Vision über dem monetären Ertrag zu stehen. Alle Beteiligten arbeiteten zu Sonderkonditionen, und Newsoms Freund, den ebenfalls wortmächtigen Songwriter Bill Callahan alias Smog, der mit ihr stoisch in „Only Skin“ harmoniert, gab es als Gratisbeilage gleich noch dazu. Nur die Orchestermusiker gingen gehörig ins Geld. Aber Drag City ließ sich nicht lumpen und spendierte sogar noch ein aufwendiges Coverdesign inklusive Begleitheft mit Goldkante. „Seien wir ehrlich: This isn’t gonna turn around and make us all gazillionaires“, lacht Newsom.

ACHTUNG BABY

Es wundert einen nicht, wenn Newsom sich bei so viel Aufwand und Ambition gegen Genre-Schubladen wie „Neo Folk“ oder „Freak Folk“ wehrt, in die sie seit ihrem Debütalbum „The Milk-Eyed Mender“ gerne von denkfaulen Journalisten gesteckt wird. „Ich kenne Devendra Banhart schon sehr lange, aber es ist bizarr, dass ich andauernd mit ihm und einigen anderen Künstlern in Verbindung gebracht werde, die einen völlig anderen Ansatz zu haben scheinen, ja ganz sicher aus anderen Gründen Musik machen als ich – ohne das ich jetzt meine Motive genau erklären könnte“, meint Newsom freundlich, aber bestimmt. „Es gibt da keine Szene oder so. Die meisten der Musiker, mit denen ich in Verbindung stehen soll, kenne ich nicht einmal.“ Auch die teilweise recht obskuren Songwriter aus den 6oer und 70er Jahren, über die man in den letzten Monaten stolperte, wenn man Artikel über Devendra Banhart, die Band Espers oder Joanna Newsom las, waren ihr lange unbekannt. „Als ich das erste Mal Leuten meine Musik vorspielte, meinten die sofort: ,Oh, du musst Karen Dalton ja sehr lieben.‘ – Muss ich? Ich kannte sie bis dahin nicht mal. Sie hatte keinerlei Einfluss auf meine Entwicklung. Ich habe mich an Bob Dylan orientiert, wie wohl jeder andere auch. (In gespielt empörtem Tonfall:) Ich bin mit Pearl Jam und U2 aufgewachsen (lacht).“

Aber woher kommen diese ganzen Namen? Wer hat Vashti Bunyan, Judee Sill und Karen Dalton in den Popdiskurs geworfen? Und vor allem: Wie holt man sie da jetzt wieder raus? „Kennst du Andy Cabic?“, fragt Newsom mich nach dem Sänger der Band Vetiver, in der auch Banhart mitspielt. „Der ist seit Jahren eng mit Devendra befreundet und so eine Art Musikgelehrter. Er hat die umfassendste Plattensammlung, die ich kenne, und füttert Devendra mit immer neuer Musik. Deshalb hat der so viele Referenzen, die er oft in Interviews anbringt. Ich meine damit nicht, dass er diese Leute kopiert, aber er kennt sie einfach.“

Newsom, die am renommierten kalifornischen Mädchencollege Mills unter so prominenten Dozenten wie dem Gitarristen Fred Frith und dem Minimal-Music-Komponisten Terry Riley kreatives Schreiben und Musik studierte, lernte über die Plattensammlung ihrer Eltern zwar unter anderem auch Judy Collins und Neil Young kennen und lieben, doch ihre Inspiration holte sie sich aus anderen Quellen. „Meine Arbeit basierte nie auf Folk. Das haben andere Leute auf meine Musik projiziert. Wenn sie eine Grundlage hat, dann ist es mein ganz eigener kompositorischer Stil, der sich über Jahre hin entwickelt hat. Und die Texte reflektieren dieselben Ideen, sie sind eng mit den musikalischen Entscheidungen, die ich treffe, verbunden.“

DISCOVER AMERICA

Newsoms Beschäftigung mit amerikanischen Traditionen führt sie in viele Richtungen und geht weit über Genregrenzen hinaus. Darin ähnelt ihr Ansatz tatsächlich ein bisschen den Arbeiten ihres Kollaborateurs Van Dyke Parks – der Americana-Suite von Brian Wilsons „Smile“, der poetischen Erkundung des Amerikas von Mark Twain, John Steinbeck und der Musicals Busby Berkeleys auf „Song Cyclc“ und vor allem dem impressionistischen California von „Orange Crate Art“.

„Mein Verständnis von amerikanischer Musik hört nicht bei Folkmusik auf“, erklärt Newsom und holt tief Luft. „Es gab zum Beispiel zwischen 1911 und 1930 eine Gruppe von Komponisten, die zum ersten Mal überhaupt versucht haben, eine genuin amerikanische Kunstmusik zu schreiben, denn bis dahin hat ja alles, was kulturell interessant war. ob in Literatur, klassischer Musik, Theater – jede hohe Kunstform – seinen Ursprung in Europa gehabt. Europa war das Ideal. Es war schon eine enorme Leistung, quasi aus dem Nichts eine neue Form hoher Kunst zu erschaffen, die die amerikanische Geschichte und Landschaft, die damals noch viel wilder und über weite Teile noch unerschlossen war, reflektierte. Und diese neue Musik reflektierte diese Schroffheit und die gewaltige Erfahrung dieses neuen Landes Amerika.“

Man hört Newsom gerne zu, wenn sie mit weit ausholenden Armbewegungen und einem Glucksen in der Stimme die Genese des Musikstils erklärt, den sein wohl bekanntester Vertreter Charles Seeger später „Dissonant Counterpoint“ nannte. Newsom zeigt sich vor allem von Seegers Frau Ruth Crawford Seeger beeindruckt. „Sie ist eine meiner liebsten Komponistinnen überhaupt. Leider hat sie nach der Hochzeit mit Charles das Komponieren ganz aufgegeben. Von da an hat sie sich ganz der Erforschung von Folksongs verschrieben.“ So transkribierte Crawford Seeger im Auftrag der Library of Congress Songs für die Sammlungen „Our Singing Country“ und „Folk Song USA“ der Musikarchäologen John und Alan Lomax, veröffentlichte ihr eigenes Buch „American Folk Songs For Children“ und war somit indirekt maßgeblich beteiligt am Folk-Revival Ende der 50er, Anfang der 60er Jahre.

So sind wir am Ende doch wieder beim Folk angelangt. Ähnlich wie in Newsoms Geschichten hängt auch in ihrer musikalischen Wahrnehmung alles mit allem zusammen, und es gibt für sie – zu unserem Glück – keinen Grund, künstliche Grenzzäune einzuziehen.

Als sie selbst bemerkt, wie sie sich in eine kleine Euphorie geredet hat, stoppt Newsom plötzlich, rutscht unruhig hin und her und fährt leise fort. „Ich könnte noch ewig so weiterplappern, aber ich sollte vorsichtig sein. Natürlich ist Amerika zurzeit eine widerwärtige Angelegenheit. Und es ist sehr schwierig, nicht entkräftet und beschämt im Boden zu versinken, wenn die Rede auf Amerika als Konzept, Idee oder Traum kommt. Es ist schwer, etwas anderes zu fühlen als Verzweiflung. Aber wenn man wirklich mal drüber nachdenkt, gibt es zumindest musikalisch einige Dinge, auf die man stolz sein kann. Und da ist mehr als nur Folkmusik.“

Sie hat natürlich recht. Da ist etwa diese lange Geschichte mit den über der dunklen See schwirrenden Vögeln, dem funkelnden Sternenhimmel, dem Tanzbären und dem Drehorgeläffchen, der versunkenen bretonischen Stadt und Joannas Schwester Emily, die ihr den Unterschied zwischen Meteroiten, Meteroiden und Meteoren erklärt – da ist ein bezaubernder Songzyklus namens „Ys“.

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