Antony

Vier Jahre nach dem Überraschungserfolg "I'm A Bird Now" kehren Antony & The Johnsons mit einem neuen romantischen Liederzyklus zurück. Erneut thematisiert der singende Träumer aus New York das Verhältnis des Menschen zur Natur. Und trotz Klimakatastrophe und Umweltzerstörung entwirft "The Crying Light" ein hoffnungsvolles Szenario und weist den Weg in ein Goldenes Zeitalter.

Als die Hotelzimmertür sich öffnet, steht er vor mir. Leicht gebückt, schwarze Perücke, sein massiver, mit lilafarbener Hose und hellgrünem Sweatshirt bekleideter Körper in einen grauen H&M-Jungmädchen-Fummel gezwängt. Er verzieht den Mund, wie es normalerweise nur Comicfiguren tun, wenn sie angestrengt nachdenken. Irgendwie muss ich an „Wickie und die starken Männer“ denken, wobei mir nicht ganz klar ist, ob die Gestalt vor mir eher dem mädchenhaften Jungen oder einem der kräftigen Wikinger gleicht. Es geht etwas Kindliches, Gutmütiges, Naives aus von diesem Wesen. Eine eigenartige Schönheit. „Hello, I’m Antony“, haucht er mit sanfter Stimme, gibt mir einen sachten Händedruck und wackelt zu seinem Sessel am offenen Fenster. Draußen rauschen Autos vorbei. Dahinter liegt still die Hamburger Alster.

Ich erzähle ihm, wie mich „Another World“, der Titelsong seiner im Oktober erschienenen EP (der nun auch eines der Schlüsselstücke auf dem neuen Album „The Crying Light“ ist) beim ersten Hören an das Lied „Ich bin der Welt abhanden gekommen“ von Gustav Mahler und Friedrich Rückert erinnerte. Er legt den Kopf schräg, verzieht erneut den Mund cartoonhaft und fragt, ob ich ihm das Stück mal mailen könne. Klar. Dann schreibt er in einer Kinderschnörkelschrift „Send me Mahler-song“ und seine E-Mail-Adresse auf einen Zettel. „Ich bin nicht so bewandert in klassischer Musik“, erklärt er verschämt und hebt entschuldigend die Schultern. „Ich kenne nur einige Stücke von Soundtracks, die ich gehört habe, als ich ein Teenager war.“ Er lacht in sich hinein, außen hört man nur ein sesamstraßiges „Chrrr“.

Ob vom Künstler beabsichtigt oder nicht, es geht etwas stark Romantisches aus von diesen neuen Songs. Von den vielschichtigen Arrangements, an denen mit Antony, dem Violinisten seiner Begleitband The Johnsons, Maxim Moston, dem isländischen Komponisten Nico Muhly und dem ehemaligen Gitarristen und Klarinettisten von John Luries Lounge Lizards, Doug Wieselman, teilweise bis zu vier Musiker gleichzeitig schrieben. Schwelgerisch, aber zugleich brüchig, sacht und doch von großer Intensität kippeln sie feinsinnig zwischen Moderne und Tradition. Antonys Texte streben dazu mit geradezu kindlicher Unschuld nach Einheit und Heilung. „Während das letzte Album seinen Schatten eher nach innen warf, geht es dieses Mal stärker um mein Verhältnis zur Welt, zu den Naturelementen“, deutet der Künstler sein eigenes Werk.

„Ich neige dazu, Songs in Gruppen zu schreiben“, erklärt der 37-Jährige weiter. „Das letzte Album, ,1 Am A Bird Now“ bestand aus einer Gruppe, die ich zwischen 1993 und 1994, teilweise auch noch 1996 geschrieben habe. Zwischen 1996/97 und 2001 habe ich dann einen Zyklus verfasst, den ich America‘ nenne. Bis auf einen Song – ‚Spiralling‘ vom letzten Album – sind diese Lieder noch unveröffentlicht und existieren nur in Demo-Form.“

In Themenkreisen und Konzepten zu arbeiten lernte Antony, als er in den Neunzigern mit seinem Ensemble Blacklips im New Yorker Nachtleben selbstverfasste Theaterstücke und Musicals aufführte. Am Ende des Jahrzehnts beschloss er dann zwar, dem Theater den Rücken zu kehren, seine Songs schrieb er aber weiterhin in Zyklen, und die Auftritte mit seiner neuen, nach der farbigen Drag Queen und Schwulenaktivistin Marsha P. Johnson benannten Band The Johnsons, waren immer noch eher schillernde Performances als schlichte Konzerte. „Mit den Liedern der Gruppe ,The Crying Light‘ begann ich 2001“, berichtet er weiter. „Sieben Jahre habe ich insgesamt daran geschrieben, die Aufnahmen haben ganze zwei Jahre gedauert – in fünf verschiedenen Studios.“ Antony vergräbt melodramatisch das Gesicht in seinen Händen. Man hört ihn leise kichern. „Oh-my-god!“

Zwei Bilder des japanischen Tänzers Kazuo Ohno zieren die Cover von EP und Album. Antony hatte, als er im Alter von 16 einen Sommer lang als Austauschschüler in Frankreich weilte, auf einem Theaterplakat ein Bild des damals schon über 80-Jährigen gesehen, und war von der Erscheinung des geschminkten, in Frauenkleidern gewandeten Künstlers so beeindruckt gewesen, dass er das Poster als Souvenir einsteckte und zu Hause in Kalifornien über sein Bett hängte. „Das war das Bild, das nun auf der EP drauf ist“, erklärt Antony und schüttelt lachend den Kopf. „Ich hatte damals keine Ahnung, was da eigentlich zu sehen ist.“ Erst Jahre später, als er schon nach New York gezogen war, erfuhr er durch Peter Sempels Dokumentation Just Visiting This Planet“, was es mit dem grotesken Greis auf dem Plakat auf sich hat.

Der heute 102-jährige Ohno ist einer der wichtigsten Vertreter des Butoh (auch Ankoku-Butoh, was soviel heißt wie „Tanz der Finsternis“), eines drastischen japanischen Ausdruckstanzes, der in den 50er Jahren als Reaktion auf die repressive Stimmung im Japan der Nachkriegszeit entstand.

Ohnos Erscheinung berührte Antony so sehr, dass er eine seiner Schülerinnen aufsuchte, um bei ihr Butoh zu studieren. Doch nach einigen Monaten gab er auf. Es waren eher die Philosophie und die Person Ohnos als der Tanz, die ihn faszinierten. „Viele der Ideen auf dem neuen Album stammen ursprünglich von ihm“, so Antony. „In seinem Werk spielen Tiere und Natur als Verkörperungen transzendentaler Formen eine große Rolle. Es geht darum, eine kreative Empathie zu den Erfahrungen aller Kreaturen und Dinge auf diesem Planeten herzustellen.“

Die romantischen Motive haben sich also auf dem Umweg über Japan in die neuen Songs geschlichen. „Kazuo Ohno hat in seinem Inneren einen sicheren Ort, einen Garten geschaffen, in dem sein Geist sich ausbreiten kann“, erklärt Antony. „Das finde ich ziemlich faszinierend.“ Er habe bei einigen jüngeren Künstlern in den letzten Jahren einen ähnlichen kreativen Impuls beobachtet, sagt er mit großen Kinderaugen. In den Neunzigern gab es in der Kunst keine Empathie und Hoffnung. Das gehörte einfach nicht zum kreativen Gestus. Abgesehen von wenigen Künstlern, wie zum Beispiel Liz Frazier. Auf der letzten Cocteau Twins-LP singt sie am Ende eines Songs ganz leise: ,1 still care about this planet/ I am still connected to nature and to my dreams for myself.‘ Es gab sonst niemanden, der so etwas sagte, alle waren in apokalyptischer Raserei. Sie war 1996 die Einzige,die ein so hoffnungsvolles Szenario malte. Als ich dieses Lied hörte, hat es mein Leben verändert. Und dann sah ich zwischen 2000 und 2003 eine neue Generation von Künstlern wie Joanna Newsom oder Coco Rosie, die kleine Gärten in ihren Herzen anlegten und diese seltsamen exotischen Pflanzen darin wachsen ließen. Aber die Mauer musste sehr hoch sein, um die Welt außen vor zu lassen. Ich wollte nun mit ,The Crying Light‘ eine Verbindung herstellen zwischen dem Garten und der Außenwelt, einen Dialog zwischen einem sicheren Ort des Bewusstseins, der kreativen Lebendigkeit und der Welt.“

Und wie sollte eine solche Kommunikation zwischen Innen- und Außenwelt anders verlaufen als durch Gefühlsäußerungen? In Antonys an Emotionen noch nie armen Liedern wird daher auch dieses Mal wieder viel geweint und viel geküsst. „Ich wünschte, ich wäre so oft geküsst worden, wie ich schon geweint habe“, lacht er. „Ich habe mal in einem Buch das Bild eines peruanischen Gottes gesehen, dessen Tränen fielen auf die Erde und ließen die Bäume wachsen. Weinen muss also nicht immer Trauer bedeuten. Es kann auch sehr erfrischend sein. Daher habe ich das Album ,The Crying Light‘ genannt – ein Bad aus Licht, in das du dich legen kannst. Und danach funkelst du – chrrr. Und Küssen bedeutet ja vor allem, sich von der Welt (be-)rühren zu lassen. Ich fühle mich geküsst vom Regen, vom Sonnenlicht, vom Wind, von meinen Freunden oder von einer Erinnerung an meine Großmutter.“ Die sei vor einigen Jahren gestorben, sagt Antony, „aber sie ist immer noch meine beste Freundin“.

Mutterfiguren spielen eine große Rolle in den neuen Songs. Auch für Kazuo Ohno war das ein wichtiges Thema. „Er hat einige Tänze zu Ehren seiner Mutter aufgeführt. Dieser 70, 80, 90 Jahre alte Mann zog sich viktorianische Gewänder an und verlor sich in einer Träumerei über die Liebe seiner Mutter. Es ist sehr anrührend, da zuzuschauen“, erklärt Antony, der in „Sing For Me“, einem Song von der EP, ein Gedicht Ohnos variiert, in dem dieser aus der Sicht eines Kindes von einer Nacht an der Seite der sterbenden Mutter erzählt. „Das war der erste Song, den ich für diese Gruppe von Liedern schrieb“, so Antony. „Er ist kurz nach 9/11 entstanden. Die erste Zeile war ,I saw her fall like a fountain of dust‘ — ein Bild, beeinflusst vom einstürzenden World Trade Center, das hier aber die Wahrnehmung eines Kindes repräsentiert, das seine Mutter zu Boden fallen sieht. Daraus entwickelt sich ein innerer Dialogüber meine Mütter-meine reale Mutter, meine Großmutter und die ganze weibliche Ahnenreihe bis zur Mutter Erde, aus der alles hervorgeht. So hängt alles mit allem zusammen. Es geht um Zyklen. Geburt und Tod- das eine öffnet sich innerhalb des anderen.“

Die gleiche Thematik behandelt Antony auch in „Her Eyes Are Underneath The Ground“, das „The Crying Light“ eröffnet., Auf der EP findet sich vieles, was ich später auf dem Album wieder aufgreife“, erklärt er. „Ich sehe sie als eine Art Präludium, das diesen Songzyklus eröffnet. Die EP beginnt ja mit Another World‘, das die Idee des Albums schon skizziert. Das Lied wird von einem Ort in der Zukunft gesungen, einer Welt, aus der bereits viele Aspekte unseres Lebens, unserer Natur verschwunden sind. Der letzte Song der EP, ,Hope Mountain“, spielt ebenfalls in der Zukunft. Gesungen aus der Perspektive von jemandem, der auf einem Berg steht, nachdem das Wasser das Land überflutet hat. Und in einer Höhle wurde ein Mädchen geboren – es ist Jesus. Das heilige Kind ist also ein Mädchen. Es steht für einen Neubeginn, eine weibliche Welt, die sich nun erhebt. Jedenfalls ist das meine Fantasie.“ Antony lacht. „Klingt das jetzt irgendwie komisch?‘ Nein, nein, erzähl ruhig weiter. „Der männliche Impuls hatte seine Berechtigung. Er diente der Verteidigung von Kindern, Frauen, Familie, Heim. Er stellte sich also in den Dienst des Verletzlichen. Doch diese natürliche Aggression ist heute nicht mehr Teil der Natur, sie arbeitet vielmehr gegen sie, beutet sie aus, vernichtet sie. Nun kann uns vermutlich nur das feminine Prinzip aus dieser Lage befreien, uns wieder mit der Natur vereinen. Es geht darum, den Kreis der Familie auszubauen, herauszustellen, was uns verbindet, anstatt hervorzuheben, was uns trennt.“

Er schaut mich skeptisch an und verzieht den Mund zu einem Fragezeichen. Ich nicke aufmunternd. Der letzte Satz hätte auch aus einer Wahlkampfrede des neuen US-Präsidenten Barack Obama stammen können. Angesichts der globalen Bedrohungen -von Klimakatastrophe bis Terrorismus – nach Gemeinsamkeiten zu suchen und mit vereinten Kräften Lösungen anzustreben, scheint mir jedenfalls kein besonders esoterisches Programm zu sein. Und vielleicht braucht es einen Grenzgänger wie den afro-amerikanischen Kosmopoliten Obama oder den im Körper eines Mannes das Leben einer Frau führenden Antony, um diese Position zu artikulieren.

Das Überwinden von Unterschieden war für Antony immer Teil seines Lebens. Er musste für sich akzeptieren, in den falschen Körper geboren worden zu sein und zugleich gegenüber der Außenwelt rechtfertigen, die von Natur und Gesellschaft zugewiesene Geschlechterrolle nicht anzuerkennen und stattdessen als Transgender zu leben. Auch in seiner Familie war das lange ein Problem — vielleicht auch ein Grund, warum er seinen Nachnamen „Hegarty“ abschnitt, als er 1990 nach New York ging, um an der „NYU“ Schauspiel zu studieren. „Das Tolle an Beziehungen innerhalb einer Familie ist, dass sie sich verändern und weiterentwickeln“, so Antony. „Das habe ich mit den Jahren gelernt. Als Kind war ich noch sehr ungeduldig, weil meine Eltern nicht verstehen konnten, woher ich komme.“

Der neue Song „Aeon“ handelt von der schwierigen Beziehung, die Antony lange zu seinem Vater hatte. „Manchmal strauchelt das menschliche Gehirn, wenn es versucht, etwas zu verstehen. Und es ist schwierig, Dinge zu akzeptieren, die man nicht versteht. Vor allem der männliche Aspekt tut sich da ungemein schwer und gibt sich lieber mit kleinen Dingen, die er kontrollieren kann, zufrieden, als von etwas überwältigt zu werden, das er nicht versteht. „Aeon“ handelt von einem kleinen imaginären Kind am Firmament, das den Menschen helfen kann, mysteriöse Dinge zu akzeptieren. Das Baby kann also den alten Mann trösten.“

Auch „The Crying Light“ ist ein überwältigendes Werk, das sein Geheimnis nicht gleich preisgibt. Ist zugleich ein romantischer, naturverliebter, vom Tod besessener Liederzyklus, ein introspektives Songwriter-Album, eine Öko-Utopie und eine Eso-Oper. „Was mir am Künstlersein so gefällt ist ja, dass man all diese Gedankenlinien vereinen kann“, lacht Antony, „kreative Impulse, philosophische Grübeleien, Träume. Und diese Vereinigung kann weit über die ursprünglichen Ideen hinausgehen. Die Dinge können sich verändern, können tanzen. Man kann ein bisschen Farbe hinzugeben. Alles ist möglich.“

Bereits das letzte Antony & The Johnsons-Album “ I’m A Bird Now“ hat den Raum von dem, was emotional, politisch und sozial möglich ist, erweitert, indem es eine ungewöhnliche Perspektive auf die Welt eröffnete. Das ist ja schon immer die Funktion von Kunst im Allgemeinen und der Reiz von Pop im Speziellen gewesen. Und Antonys Songs sind Pop im besten Sinne. Hier geht es um weit mehr als die Identitätsflndung eines homosexuellen New Yorker Künstlers in Frauenkleidern. Sonst hätte „l Am A Bird Now“ wohl auch nicht gegen kommerziell erfolgreiche Jungs-Bands wie die Kaiser Chiefs den „Mercury Prize“ der britischen Musikindustrie gewinnen können. Trotzdem gilt Antony vielen auch weiterhin vor allem als Exot und schräger Vogel. „Manche geben mir vielleicht nicht genügend Anerkennung für das, was ich tue, andere vielleicht zu viel“, meint er. „Wenn man in der Öffentlichkeit steht, muss man damit leben, auf wenige Punkte reduziert zu werden. Ich arbeite im Feld des Männlichen und Weiblichen, aber die Idee des neuen Albums, den Kreis der Familie zu erweitern, reicht natürlich viel weiter. In unserer momentanen Situation nach Abgrenzungen- sei es Hautfarbe, sexuelle Orientierung oder Geschlecht – zu suchen, ist ja vollkommen nutzlos. Wir haben mehr gemeinsam als wir auf den ersten Blick wahrnehmen. Für mich als Sänger zum Beispiel ist alles, was ich tue, ein Geschenk der Afro-Amerikaner. Mein gesamtes Vokabular, dreiviertel der Impulse, die aus mir fließen, stammen aus ihren Songs. Davon kann ich mich nicht abgrenzen, das ist ein Teil von mir.“

Als ich das Hotel verlasse, fällt mir die Nachricht wieder ein, die Antony auf meinen Zettel gekritzelt hat. Ich finde sie in meiner Jackentasche. In seiner E-Mail-Adresse nennt er sich tatsächlich „Aeon“. Ich schaue in den Abendhimmel. Noch keine Sterne zu sehen, kein Kind am Firmament, das uns mit dieser rätselhaften Welt versöhnen könnte. Den Kragen hochgeschlagen laufe ich in die Dunkelheit, einen Mahler-Song im Kopf: „Ich leb allein in meinem Himmel/ In meinem Lieben, in meinem Lied.“ Als ich ein letztes Mal zurückblicke, kann ich in Antonys erleuchtetes Zimmer sehen. Das Fenster steht noch offen.

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