Apostel des stählernen Blau

Auf seinem Label ECM produzierte der detailversessene Manfred Eicher in 30 Jahren Jazzer wie Chick Corea und Keith Jarrett. Kaufangebote sind zwecklos

Der Mann, der sich frei nach Hölderlin gerne als „Dichter in dürftiger Zeit“ beschreibt, will keinen Sound – er will „die Aura eines Raumes“. Den Effekt, den „Schallwellen auf das Singen der Töne haben“. Das digitale Festhalten jeder einzelnen Sechzehntelnote „exakt so, wie ich sie höre“. Manfred Eicher, Gründer des gerade 30 gewordenen Münchner Jazz-Labels ECM und dessen beschäftigster Produzent, hat millimetergenaue Vorstellungen davon, wie seine Aufnahmen klingen – nicht sollen: müssen. Dafür hat er einiges aufgegeben (eine Karriere als Kontrabassist bei den Berliner Philharmonikern etwa), dafür nimmt er einiges auf sich: Zieht ein Studio in Oslo näher liegenden, technisch weit besser ausgestatteten Produktionsorten vor, lässt seine Musiker einfliegen, bosselt an einem Mikrofon, bis es exakt so steht, wie er es haben möchte, selbst wenn das eine knappe Stunde dauert. Wäre Manfred Eicher ein Fußballtrainer, nähme sich Christoph Daum neben ihm wie der letzte Schlampert aus.

Mit dieser Philosophie hat der einstige Aufnahmeleiter der Deutschen Grammophon seine Firma zur festen Größe im internationalen Jazz-Geschäft gemacht. Neben dem amerikanischen Schlachtross Blue Note und dem kleinen Pacific Jazz mit seinem Hawaiihemden-Jazz ist Eichers ECM wahrscheinlich das einzige Label, dessen (mittlerweile mehr als 700) Einspielungen die Definition einer spezifischen Klangsprache gelungen ist Und das bei einer Stil-Plethora, die vom traditionellen Bebop über zeitgenössische Klassik bis zu diversen Spielarten des Minimalismus reicht und so gut wie nicht kategorisierbar ist.

Natürlich klingen ECM-Veröffentlichungen („The most beautiful sound next to silence“) nicht alle gleich. Beinahe allen aber ist jene austeritäre Aura gemein, die der ECM-Saxofonist Jan Garbarek einmal als „stählernes Blau“ bezeichnet hat Schon die ersten Jahre: vielversprechend. Und mit einem derart eklektischen Repertoire, dass amerikanische Labels dieser Zeit es für absurd erklärt hätten. Gary Burton, Keith Jarrett, Chick Corea, John Abercrombie, Jan Garbarek, Pat Metheny und viele andere begannen ihre Karrieren unter Eichers Fittichen; Charles Lloyd oder das Art Ensemble Of Chicago kamen zur „Edition of Contemporary Music“, weil sie von Eichers kristallinem, verhaltenem Sound ebenso angetan waren wie von seiner manischen Obsession fürs Detail. Und irgendwann machten sich geschmacksicherer Starrsinn, behutsame Geschäftspolitik und Schwindel erregend hohen Qualitätsmesslatten des „coolen Apostels im hohen Norden“, („New York Times“ über Eicher) bezahlt. Irgendwann war ECM nicht mehr wegzudenken.

Erfolg durch Wiedererkennung: Manche kaufen sich ECM-Alben, weil ihnen die strengen, schwarzweißen Shots auf den Covern gefallen. Im Laufe der Zeit hat sich das Label eine eigene Bildsprache geschaffen, eine stringent-surreale Fotoreihe nach Wim Wenders‘ Ausspruch, wonach das Leben zwar in Farbe, Schwarzweiß aber realistischer sei. Oft morbide Motive von verwitterten Statuen, hundsverlassenen Stränden und leeren Zimmern, die aussehen, als seien in ihnen mindestens 14 Leute verschieden.

Gerade ist das Label, dessen Marketingmotto die Absenz von Marketing ist, sogar in den Charts: „TheMelodyAt Night, With You“ vom Pianisten Keith Jarrett, stieg vor ein paar Wochen „fünf Plätze über Paul McCartney, sechs über den Backstreet Boys und 18 über ZZ Top ein“, wie das Label freudig mitteilte. Jarretts „Köln Concert“, 1975 live am Rhein mitgeschnitten, hielten Kritiker bei Veröffentlichung für seine bis dato beste Solo-Improvisation. Was Zeitschriften wie „Architectural Digest“ nicht daran hinderte, das Album als Quintessenz eleganten Wohnens (!) in einer Liste der „50 wichtigsten Einrichtungsgegenstände“ zu preisen. Es soll sogar Zahnärzte gegeben haben, die bei Wurzelbehandlungen auf die beruhigende Wirkung des „Köln Concert“ setzten. Bis heute hat sich das Album weltweit fast drei Millionen Mal verkauft – was es zur erfolgreichsten Jazz-Aufnahme aller Zeiten macht Die Zukunft? Erst mal die Oscar-Verleihung! Almodövars „Alles über meine Mutter“ spielt Musik von ECM (Auschnitte aus Dino Saluzzis „Cite de la Musique“); und Michael Manns „The Insider“ wird atmosphärisch von Jan Garbareks „Rites“ getragen. Gewinnt einer der Streifen einen Oscar, wird bei Manfred Eicher in München wieder das Telefon klingeln, und ein Major wird ihm wieder eines dieser „nahezu vulgären Kaufangebote“ machen, die er schon in der Vergangenheit regelmäßig zurückgewiesen hat Und dann? Die nächsten 700 Einspielungen. Die nächsten 700 Versuche, das Verfallsdatum für Neue Musik auszutricksen, indem er sie wieder neu aufnimmt Die nächsten 30 Jahre. Mindestens.

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