Avantgarde adé: Die Jazz-Chanteuse Cassandra Wilson will ihre intellektuellen Fesseln endgültig abschütteln

Sigmund Freud hätte zufrieden sein können mit einer Szene wie diesen auf der Produzenten-Couch eine schwarze Jazz-Sängerin, die als nicht ganz einfache Avantgarde-Diva gilt, gleichzeitig aber auch dem New Yorker „M-Base“-Kollektiv mit seinen Funk-Stolper-Rhythmen nahesteht. Neben dem Sofa sitzt ein Herr namens Craig Street. Den hatte sich Cassandra nicht ausgesucht, weil er zufallig im selben Haus wohnte, sondern weil er für sie die Tür öffnen sollte zu neuen Welten. Zeitgemäße Versionen alter Motown-Songs schwebten ihr vor. Street jedoch, als Musiker eher im Umfeld des „Black Rock“ zuhause, wollte viel weiter gehen: „Wenn Du nun schon diesen Schritt machen willst, weil Motown eine wichtige emotionale Erinnerung für Dich ist, dann frag Dich doch konsequenterwebe besser gleich, wo wirklich Deine musikalischen Wurzeln sind.“ Eine ehrliche Antwort fiel Cassandra nicht leicht: „‚Ich mag Joni Mitchell‚, hab ich verschämt geflüstert. Viel Folk und Songwriter-Sachen habe ich früher gespielt, Songs von Dylan und Van Morrison. Gerade weil ich in Jackson/Mississippi unter Schwarzen nur mit dem Blues aufwuchs, habe ich vielleicht deswegen instinktiv erst einmal nach völlig anderer Musik gesucht: James Taylor zum Beispiel, Neil Young.“ Nichts jedenfalls, was die New Yorker Jazz-Avantgarde für besonders hip befunden hätte.

Für Wilson aber war es ein entscheidendes Coming-ouL Ihr erstes Album ßlue Light Till Dawn“ (’93) für das Jazz-Label Blue Note bewies, daß sie auf der Couch wirklich zu sich selbst gefunden hatte: archaischer Delta-Blues mit avantgardistischen Elementen, karge Arrangements ohne Tasteninstrumente, statt dessen Percussion, schräge Gitarren-Sounds von Brandon Ross – und Joni Mitchells Song „Black Crow“.

„Es war ein Schritt weg von der Disziplin des Jazz und der komplizierten Dekonstruktionssprache der Funk-Avantgarde – hin zu den starken Emotionen, zu einer Sehnsucht nach Schlichtheit und sweetness, wie sie allerdings auch nicht denkbar gewesen wäre ohne meinen langen Weg vom Folk über den Bebop zum HipHop. All das ist die notwendige Basis dafür, wie ich heute klinge.“ Wie sie heute klingt, belegt der Nachfolger von „Blue Light“: New Moon Daughter“ ist ein enger Verwandter, der vor allem in Wilsons Eigenkompositionen dem Folk und Joni Mitchell sogar noch näher steht Wieder trifft die ländliche Welt von Blues und Country auf urbane Modernität – und wieder bekommt dies beiden überraschend gut. „Wir sind auf der gleichen Wellenlänge geblieben, mit überwiegend den gleichen Musikern, vor allem natürlich Brandon Ross.

Die Gitarre war für mich früher ungemein wichtig – und ist es jetzt wieder geworden. Sie läßt mehr Platz als ein Klavier oder Keyboards. Ich habe in diesem Kontext die Möglichkeit, mit sparsamen Gesten vieles anzudeuten.“ Ging es in ihrer Avantgarde-Phase eher darum, Stilwillen und Coolness zu demonstrieren, kann Cassandras schattierungsreiche Alt-Stimme nun ganz relaxed glänzen.

Sogar ihr ehemaliger Plattenboß Stefan Winter (dessen JMT-Label unlängst den Controllern des Vertriebspartners Polydor zum Opfer fiel) erkennt völlig neidlos an, daß Cassandra Wilson zu ihrer Identität gefunden hat: „So wichtig es für sie war, daß sie 1982 Steve Coleman kennenlernte, der sie darauf brachte, nicht einfach Jazz-Standards zu singen, sondern etwas ganz eigenes zu entwickeln; so wichtig die JMT-Jahre mit Musikern wie Robin Eubanks und Greg Osby waren – Cassandra hat sich dadurch offenbar freigeschwommen für die Musik, die sie jetzt macht“ „Gegen Anfang des Jahres 1992 war zwischen uns einfach ein Punkt erreicht, wo keine von beiden Seiten den ‚Vertrag verlängern mochte. Damals waren wir sogar so ernüchtert, daß wir das Abschieds-Album – statt elfter The Beginning‘ – nach dem ersten Song ‚There She Goes‘ taufen wollten.“ Da ging sie hin – und fand mit Craig Street zum zweiten Mal jemanden, der ihr den entscheidenden Anstoß für einen neuen Weg geben sollte. Ein Quantensprung, wie ihn die Jazz-Szene bisher nicht erlebt hat: daß sich eine ihrer wichtigsten Sängerinnen zur Vergangenheit als Folk-Interpretin bekennt und mit dieser Musik credibility vom Country-Lager bis hin zur Avantgarde-Szene gewinnt Daß sie dabei eine Handvoll Puristen unter ihren alten Jazz-Fans verlieren wird, wird sie problemlos verschmerzen können.

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