Bahnhof Zoo 90210

Im Ernstspaß: The Boy Group, Die Türen und die Cockbirds aus Berlin sind geistesverwandte Pop-Brüder - und humanistischer als Sido

Die Frage müssen wir wohl an den Notar übergeben: Wie crazy ist Berlin denn nun wirklich? Mitte der Neunziger, als der Umzug nach Friedrichshain kurzzeitig das obligatorische Übergangsritual für junge Leute war, wurde die Stadt ja nicht nur Symbol der Techno-Revolution, sondern auch Sinnbild eines neuen, bunten, kleinteilig und modular angelegten deutschen Pop-Verständnisses. Dann: das Ende der Ironie, Mieterhöhungen, schickes Berlin-Bashing. Heute sind wir nicht nur an dem Punkt, an dem die Wanderbewegung langsam wieder stärker wird – wer sich für Pop jenseits der Gitarren-Anoraks interessiert, wird in diesen Tagen zweifellos Berliner Exportschlager hören. Die kommen nicht nur alle aus derselben Stadt. Das sind zum großen Teil dieselben Leute.

Wie bei „Beverly Hills 90210“, nur ohne Knutschen. Da staunte man seinerzeit auch jeden Samstagnachmittag Bauklötze, wie sich das zahlenmäßig überschaubare Grundpersonal zu immer neuen, überraschenden Konstellationen zusammenschmiegte – genau wie bei der heiteren Musikerschar rund um die Band Die Türen, die sich so fleißig und produktiv gruppieren, umgruppieren und regruppieren, dass Sie sich am besten Papier und Bleistift zurechtlegen, um die personellen Verstrickungen mitzumalen.

Die Türen. Maurice Summen, Günther Osburg und Ramin Bijan kannten sich aus Münster, der gemeinsamen Heimat, und trafen sich – bei Umzugstrends fast zwingend logisch -in Berlin wieder. „Dort gründeten wir das Spaßprojekt Die Türen“, sagt Summen, „und dann entwickelte sich aus dem Spaßprojekt Die Türen plötzlich das ambitionierte Spaßprojekt Die Türen.“ Was die so treiben, falls Sie es noch nicht gesehen haben? Soul-Schlager-Pop-Funk-Punk-Irrsinn, im Wesentlichen, mit Textzeilen wie „Spaß macht mir keine Freude“. „Ich spür den Touch nicht“ und „Leben ist superschön“. Scheibletten ins CD-Laufwerk, Zahnpasta unter die Türklinke, Schlitz ins Kleid und Faust auf den Tisch! Für einige waren diese Vorgänge so verstörend, dass schon im Vorfeld der ersten Türen-Platte „Das Herz war Nihilismus“ bald das Gerücht aufkam, die Türen existierten überhaupt nicht. „Günther hat dann schon früh nach einem Ausgleichssport gesucht, weil ihm Die Türen vom Popfaktor her noch nicht genügten“, sagt Summen. Halt fand er bei den Cockbirds, einer für einen nie absolvierten Silvesterpartyauftritt gegründeten, wunderlichen Punkband. Verkleidet als Tennisspieler, Polizist, mit auf den Kopf geschnalltem Gummihai oder Plastikrührschüssel-Sturmhelm und bestürzendem Glitzerleibchen besingen sie stumpfkrawallig „Amok im Freibad“ (bei dem sich „Biere leer“ unerwartet wunderbar auf „ihr Arschlöcher“ reimt), „hippe Mitte-Trooper“ mit Gucci-Brille und Prada-Jäckchen, und schmieren den Berliner Musikerkollegen gleich im Dutzend Popel an die Jacke: „Wir woll’n hier keine Spacken sehn/Jeans Team, ihr könnt kacken gehen.“ Auf Platte toll, live großartig irr. „Ich möchte aber betonen: Wir sind kein Karnevalsverein“, sagt Thilo Schierz, früher Bassist bei den berüchtigten Surrogat. Tatsächlich bieten die Cockbirds reichlich Material für Semiotik-Besinnungsaufsätze: Verfremdung als Möglichkeit zur Identifikation, solche Sachen. Das Debütalbum „Superdanke“ ist gerade bei Staatsakt erschienen, dem gemeinsamen Label von Günther und Maurice – der sich, weiter im Organigramm, derweil ebenfalls ein Nebenprojekt anlachte. Im Hamburger „Pudel Club“ lernte er Viktor Marek kennen, der kannte wiederum den zeitweiligen Mediengruppe Telekommander-Produzenten und Zappel-Elektropop-Musiker Christian Harder, und alle zusammen kannten Markus Fiedler, der die Multikunst-Plattform „Enduro“ betreibt – bei dessen Pudel-Abend „Grimetime“ trat die fertige Guppe zum ersten Mal auf: The Boy Group.

Das eilig besprochene künstlerische Konzept funktionierte bestens, erinnert sich Harder: „Die Reaktionen reichten von ‚totaler Scheiß bis ‚total geil‘. Auf dieser Erfolgswelle sind wir dann beständig weitergeritten.“ Ende April erschien das Debütalbum „Love Is A Freaquency“, ein naseweises Schräg-Rap-Ding mit Bezügen von Speedy Gonzales bis Cock Robin, das live in eleganten weißen Trainingsanzügen dargeboten wird.

Hübsche Etiketten könnte man sich ausdenken, wollte man das bunte Potpourri von Türen, Cockbirds, Boy Group und Anhängseln in einem einzigen großen Einmachglas zusammenschütten – was insofern keine Gewalt erfordern würde, weil bei allen Unterschieden ein gemeinsamer Spirit erkennbar ist, vielleicht ohne Absicht. „Crazy-Pop“. „Schrägcore“. Oder „Ernstspaß“. Denn, wichtig: Es handelt sich hier keinesfalls um einen einzigen, großen Ironie-Kindergeburtstag mit Würstchenschnappen und Limo.

„Wir wollen, dass gelacht wird, aber man kann ja auch beim Lachen denken“, fasst Ramin Bijan die Philosophie zusammen. „Unsere Musik ist für uns unbedingt sinnstiftend. Ohne Musik könnte man den ganzen anderen Scheiß gar nicht ertragen. Wir sind ja alle zusammen eine absurde Mischkalkulation von Existenzen, die sich sehr seltsam finanzieren.“ – „Deswegen war es auch viel lustiger, in die offizielle Cockbirds-Bio statt irgendwelcher Gags reinzuschreiben, was die Leute wirklich machen“, sagt Summen. „Es gibt in der Band tatsächlich den Magister der Philosophie und den finnischen Architekten. Und einer hat wirklich die Maske von Sido designt.“

Die Parallelen sind selbst für die Beteiligten augenfällig. „Die ersten Türen-Auftritte ähnelten sehr den ersten Boy Group-Auftritten“, sagt Summen. „Wir hatten ein paar Beats, Günther hat Keyboard gespielt, weil er halt kein Keyboard spielen konnte – ich hatte vorher in einer seiner Bands auch Keyboard gespielt, obwohl ich nicht Keyboard spielen konnte, nach dem Motto: Wenn du meine Band kaputt machst, dann mach ich deine Band kaputt. Der Wahnsinn hat sich dann extrem exponiert, alles ging kaputt, Ramin hat die Gitarre zerstört, ich bin nur noch gegen die Wand gesprungen, Günther hat nur noch Start und Stop gedrückt. Alle sind total abgegangen, und wir dachten: Hoho, daraus schlagen wir Kapital!“ Das Konzept funktionierte jedoch nur unter bestimmten Bedingungen: „So in Darmstadt am Mittwochabend waren dann plötzlich nur noch ganz große Fragezeichen da.“

Ein richtiges Programm haben sie mittlerweile entwickelt, trotzdem achten sie darauf, möglichst wenig Konventionalität ins quietschbunte Gummiboot zu lassen: „Bloß nicht diese langweilige Sache, die es in Indie-Deutschland so oft gibt, wo alle sich an Richtlinien halten, richtig gekleidet auf der Bühne rumstehen, und dann ist eine ganz große Kälte im Raum“, meint Summen. „Exakte Unterhaltung kann ich nicht, will ich nicht.“

Und weil wir schon mal in Berlin sind und der Konstrukteur der Sido-Maske am Tisch sitzt, kommt das Gespräch natürlich noch auf den Aggro-Clan. „Man muss schon sehen, dass das die einzigen Leute sind, die in letzter Zeit richtig Power hatten. Bei allen inhaltlichen Differenzen, das ist echter, authentischer Kram“, sagt Markus Fiedler, der Multimedia-Impresario. „Und auch all diese Herren hier sind verdammt echt und ehrlich und authentisch. Natürlich geht es um Pop, um Spiel, Spaß, auch so etwas wie Liebe – so gesehen sind wir alle zusammen vielleicht schon eine Art humoristisch-humanistischer Gegenentwurf zu Aggro Berlin.“

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