Berlinale 2016: „Goat“ zeigt Höllenwoche in US-Studentenverbindungen

Es gibt Filme, da weiß man schon in der ersten Szene, dass sie gut werden – „Goat“ gehört dazu.

In “Goat” springen in einer nicht enden wollenden Slow-Motion-Aufnahme junge Männer mit nacktem Oberkörper und individuell verzerrtem Gesicht in die Höhe und sind schon in diesem Moment im gemeinsamen Schmerz vereint.

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Allein in diesem kurzen Moment wird deutlich, worum es in diesem Film gehen wird: um die Frage, was Männlichkeit eigentlich heute noch bedeutet und wie sie geschaffen wird. Und doch beginnt „Goat“ relativ harmlos – an den College-Dokumentations-Klassiker „Frat House“ erinnernd – auf einer Hausparty, auf der hart gefeiert wird, bei der die Mädchen halb nackt sind und sich alle jede Menge Koks durch die Nase ziehen.

In den ersten Momenten lernt man die zwei Brüder kennen, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Auf der einen Seite Brett (Nick Jonas), der klassische Verbindungstyp, der alles mitmacht und noch auf der Party ein Mädchen flachlegt. Ihm gegenüber sein introvertierter, jüngerer Bruder Brad (Ben Schnetzer), der mit seiner Nerd-Brille nicht so richtig in diese laute Sauf-Welt zu passen scheint.

Brad verlässt schließlich die Party und wird von zwei Fremden angesprochen, ob er sie ein Stück mit dem Auto mitnehmen kann. Nach kurzem zögern willigt er ein, was sich schließich als größter Fehler seines Lebens herausstellen wird. Die beiden Typen zwingen ihn in ein einsames Waldstück zu fahren, verprügeln ihn bis zur Entstellung und lassen ihn blutend zurück.

Ein Beitritt ist in amerikanischen Verbindungen keine Form-Sache

Hier geht die eigentliche Geschichte von “Goat” los: Im verzweifelten Versuch, die Macht über das eigene Sein wiederzuerlangen, entscheidet sich Brad am College der Verbindung Phi Sigma Mu, in der auch schon sein Bruder Mitglied ist, beizutreten. Doch ein Beitritt ist in amerikanischen Fraternities keine Form-Sache. Um ein echter “Frat-Brother” zu werden, muss er mit den anderen Bewerbern durch die Höllenwoche (“Hell-Week”) gehen, in der die “Pledges” gewaltsamen Iniationsritualen unterzogen werden. Die Bewerber werden in diesem Moment zu “Goats” – Ziegen, dem Wappentier der Verbindung, mit denen man alles machen darf.

Andrew Neill widmet sich dem Fraternity-Thema über Bilder, in denen so viel Gewalt zu sehen ist, dass man zwischendurch wegschauen muss und doch sind sie wichtig, weil man diese Welt sonst nicht verstehen kann. “Goats” auf die gepinkelt wird, die bis zum Erbrechen und Delirium trinken müssen und mit denen sogar Guantanamo-Bilder nachgestellt werden. Die Machtverhältnisse der “Hell-Week” stehen von Anfang an fest, wenn der “Pledge-Master”, großartig böse gespielt von Jake Picking, die Bewerber anschreit: „I am your pledge master and you are my bitches!“

Die Bilder, die Neill schafft, lassen die Frage aufkommen, warum sich jemand freiwillig in eine solche Situation begibt. Neill erklärt dies auf der Pressekonferenz zum Film damit, dass eine Verbindung heute vielleicht noch einer der wenigen Orte ist, an denen ein junger Mann seinen Platz finden kann, indem er Teil einer brüderlich im Schmerz vereinten und eingeschworenen Gemeinschaft wird. Das wird besonders deutlich in dem Moment, als Co-Produzent James Franco einen kurzen Auftritt als alternder Verbindungs-Anführer hat. Schon längst aus der Verbindung rausgewachsen und in einem normalen langweiligen Leben angekommen, zieht es ihn doch wieder zurück an diesen Ort, an dem die gemeinsame Liebe zum Saufen, sich selbst Feiern und zur Sicherheit, dass man es als weißer, privilegierter Oberschicht-Mann schon weit bringen wird, alle vereint.

So schreien die Brüder in einer der besten Szenen des Films in einem ihrer Gelage: „We’re the greatest group of gentleman this civilisation has ever known“ und jagen einem mit dieser Aussage jede Menge Angst ein. Wenn an diesen Orten die zukünftige Elite eines Landes geformt wird, dann wundert einen am Ende sehr wenig.

Was ist wichtiger, Blut oder Wasser?

Erwachsene spielen in „Goat“ kaum eine Rolle und wenn sie auftauchen, dann nur, um die Jungen zu hinterfragen und eine Welt zu verstehen, die nie greifbar wird. Neill schafft so eine “Herr der Fliegen”-Atmosphäre, in der sich starke Dynamiken entwickeln und deutlich machen, dass es sich hier um eine Zwischenwelt handelt, die ihr eigenes Regelsystem hat. Am Ende des Filmes geht es schließlich auch um die großen Fragen des Lebens: was ist wichtiger, der leibliche oder der Fraternity-Bruder? Ist Blut (von dem man wirklich jede Menge zu sehen bekommt) am Ende eben doch dicker als Wasser oder entschädigt einen die erkämpfte Bruderschaft für alles, was man durchleiden muss?

Man sollte den Produzenten dieses Films auf jeden Fall dankbar sein, dass sie den Mut hatten, diesen Film zu machen und einem den Zugang in eine Welt zu eröffnen, in der Gewalt alles entscheidet und intellektuelle Auseinandersetzungen mit Wörtern was für “Pussys” sind. Die Tragik liegt dann am Ende auch in dem unguten Gefühl mit dem “Goat” den Zuschauer zurück lässt: dass man hier nur die Spitze des Eisbergs gezeigt bekommt.

 

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