Berlinale, Tag 9: Und doch liegen Welten zwischen Cannes, Venedig und Berlin

Filme vom Format der Gewinner an der Croisette und der Biennale waren auf der Berlinale nicht zu sehen.

Jetzt ist alles raus, was die 74. Berlinale zu bieten hat. Am Freitag sind die letzten Weltpremieren gelaufen, der Wettbewerb wurde mit dem nepalesischen Drama „Shambhala“ abgeschlossen, das in die verschneiten Höhen des Himalaja-Gebirges entführt. Dort erzählt der Film die ungewöhnliche Geschichte der polygamen Ehe, die die charismatische Pema (Thinley Lhamo) in den Haushalt von Tashi (Tenzin Dalha), Karma (Sonam Topden) und Dawa (Karma Wangyal Gurung) führt. Sie müsse alle drei Brüder glücklich machen, gibt ihr ihre Mutter noch mit auf den Weg, aber einer dürfe ihr am Herzen liegen.

Die Ehe geht Pema mit Tashi ein, ihr Herz öffnet sie für alle drei. Um Frechdachs Dawa sorgt sie sich mütterlich, den angehenden Mönch Karma unterstützt sie mit allem, was sie hat. Harmonisch leben die drei Brüder und Pema unter einem Dach. Bis Tashi für das Dorf zu einer Handelsreise aufbricht. In seiner Abwesenheit kümmert sich Dorflehrer Ram Sir um den aufmüpfigen Dawa. Als Pema feststellt, dass sie schwanger ist, entstehen im Dorf Gerüchte über eine heimliche Affäre mit dem Lehrer. Die erreichen auch Tashi, der beschließt, nicht wieder ins Dorf zurückzukehren. Vom Schicksal gefordert, macht sich Pema auf die Suche nach ihrem Mann.

Mit dem zweieinhalbstündigen Drama des Regisseurs Min Bahadur Bham ist erstmals ein nepalesischer Film im Wettbewerb vertreten. Bhams Spielfilmdebüt „Kalo Pothi“ wurde 2015 in Venedig ausgezeichnet und von Nepal für die Oscars eingereicht. Sein neues Werk ist eine leise Meditation über das Leben mit all seinen Windungen und Wendungen.

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Vor majestätischer Kulisse wird Pema von Tashis jüngerem Bruder Karma auf ihrem Weg begleitet. Sie spürt, dass sie weder ihr Karma noch der Bruder, der das Schicksal im Namen führt, retten wird. Mit innerer Ruhe nimmt sie ihr Leben selbst in die Hand. Die Kamera begleitet die Figuren auf ihrem Weg durch die kargen Landschaften des Himalajas, mal nah dran, um in den kleinen Gesten emotionale Bewegungen festzuhalten, dann aus respektvoller Distanz, um ihre Kleinigkeit in den beeindruckenden Weiten einzufangen. Wenn die Erzählung ins Traumreich gleitet, legt sich ein brauner Sepiaton über die Bilder und entführt uns nach „Shambhala“.

Dort endet mit einem finalen Gong der Wettbewerb der 74. Berlinale. Insgesamt zwanzig Filme aus allen Weltregionen konkurrieren um den Goldenen und die Silbernen Bären. Wenngleich sich diese im Kinosaal besser ansahen als sie sich auf dem Papier vorher lasen, beweist auch dieser Jahrgang, dass Welten zwischen Cannes, Venedig und Berlin liegen. Filme vom Format der Vorjahresgewinner an der Croisette und der Biennale, Justine Triets „Anatomie eines Falls“ und Giorgos Lanthimos’ „Poor Things“, waren in Berlin auch in diesem Jahr nicht zu sehen. So hinterlässt der künstlerische Leiter Carlo Chatrian auch im fünften und letzten Jahr keinen bleibenden Eindruck.

Insgesamt war auch der diesjährige Wettbewerb von starken Frauen geprägt. Es wäre überraschend, wenn die Jury um Lupita Nyong’o den Silbernen Bären für die beste Schauspielerische Leistung in einer Hauptrolle nicht an eine Frau gibt. Zu den Favoritinnen auf die Auszeichnung gehören die Berlinerin Liv Lisa Fries und die Wienerin Anja Plaschg.

Die deutschsprachigen Filme „In Liebe, Eure Hilde“ (von Andreas Dresen), „Sterben“ (von Matthias Glasner) und „Des Teufels Bad“ (von Veronika Franz und Severin Fiala) haben insgesamt einen starken Eindruck hinterlassen. Insbesondere das österreichische Duo kann sich mit seinem düsteren Genrefilm Hoffnungen auf eine Auszeichnung machen.

Überraschend wäre auch, wenn der iranische Film „My Favourite Cake“ leer ausginge. Der regimekritische Film passt nicht nur perfekt ins Raster der politischen Berlinale, sondern ist einer der wenigen Filme im Wettbewerb, die über ein Festival hinaus Strahlung entwickeln. Diese Geschichte über den Mut zur Liebe im Alter berührt in all ihren Aspekten, auch weil Hauptdarstellerin Lily Farhadpour vor Energie sprüht und mit ihrem männlichen Gegenüber Esmail Mehrabi ein Paar zum Niederknien spielt. Die Chancen, dass der iranische Lieblingskuchen auch als Film des Festivals ausgezeichnet wird, stehen nicht schlecht. Insgesamt vergibt die Jury am Samstagabend neben dem Goldenen Bären für den besten Film noch sieben Silberne Bären.

Unter der Woche wurden Martin Scorsese mit dem Ehrenbären für sein Lebenswerk und Edgar Reitz mit der Berlinale Kamera ausgezeichnet. Von dem 81-jährigen amerikanischen Oscarpreisträger Scorsese wurden einige, zum Teil restaurierte Filme in der Retrospektive gezeigt, der neue Film des zehn Jahre älteren Edgar Reitz „Filmstunde_23“ lief in der Sektion Berlinale Special. Der Film ist eine Montage von Aufzeichnungen aus dem Jahr 1968, als Reitz in einer Münchener Klasse Filmästhetik unterrichtete, und Aufnahmen des Klassentreffens 55 Jahre später. Reitz hat mit Filmen wie „Stunde Null“ oder der „Heimat“-Trilogie das deutsche Kino maßgeblich geprägt.

Edgar Reitz, Jörg Adolph „Filmstunde_23“

Wie schon in den Vorjahren wurden auf der Berlinale auch wieder Serien gezeigt, wenngleich die eigens geschaffene Sektion dem Sparkurs zum Opfer fiel. Die mit Abstand beste Serie stellten die italienischen Brüder Damiano und Fabio D’Innocenzo vor, die 2020 mit ihrem Episodenfilm „Bad Tales“ den Silbernen Bären für das beste Drehbuch gewannen. Ihre sechsteilige Crime-Serie „Dostoevskij“, gedreht für Sky Cinema, handelt von einer unaufgeklärten Mordserie, in der der lebensmüde Kommissar Enzo Vitello (Filippo Timi) ermittelt. Sie spielt im heruntergekommen Norden Italiens, führt in die dreckigsten Ecken und abgründigsten Zonen der italienischen Gesellschaft, in denen ein skrupelloser Mörder sein Unwesen treibt. Sein Markenzeichnen sind epische Botschaften, die er hinterlässt, was ihm unter den Ermittlern den Spitznamen einbringt, der der Serie ihren Namen gibt. Fünf Stunden lang folgen wir den düsteren Pfaden des Kommissars, der sein Team genauso verloren hat wie seine Tochter Ambra (Carlotta Gamba) und irgendwann beschließt, mit dem Serienkiller in Kontakt zu treten. Ein aufreibendes Versteckspiel nimmt seinen Lauf. Spannend und sozialkritisch, radikal und mit absolutem Punch gehört „Dostoevskij“ zum Besten, was man auf der Berlinale sehen kann.

Der deutsche Krimi kommt dagegen etwas hasenfüßig daher, wie die vierteilige Verfilmung des Krimipodcasts „ZEIT Verbrechen“ beweist. Obwohl Größen wie Sandra Hüller, Lars Eidinger oder Detlev Buck vor der Kamera stehen, bleibt das Ganze dann eben doch auf dem Niveau einer besseren ZDF-Reportage. Die vier Episoden visualisieren spektakuläre Fälle aus dem mehrfach ausgezeichneten Podcast-Format. An denen bleiben die Filme visuell und erzählerisch nah dran, die akribischen Recherchen sollen verständlicherweise nicht durch Effekthascherei verfälscht werden. Die Macher der Reihe haben die Eigenständigkeit genutzt, um die vier Episoden als Spielfeld der Möglichkeiten zu nutzen. Dabei gibt es auch manch gute Idee, insgesamt ist man aber ernüchtert, wenn immer wieder die Klischees der narzisstisch-überdrehten Bad Boys bedient werden.

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Zwei Wochen vor dem Netflix-Start sind in Berlin auch die ersten drei Episoden der siebenteiligen Verfilmung des Lebens von Rocco Siffredi zu sehen. Regisseurin und Drehbuchautorin Francesca Manieri hat dem selbsternannten „King of Porn“ in „Supersex“ eine zweifelhafte Heldensaga auf den geschundenen Leib geschrieben, die den Pornostar (zumindest in den ersten 145 Minuten) als Heiligen zeichnet. Man begegnet dem kindlichen Rocco im Messgewand, der seinen Halbbruder Tommaso und dessen Freundin Lucia anhimmelt, dem jungen Erwachsenen (Alessandro Borghi), der in Paris den Verlockungen des Sexuellen folgt, und dem etablierten Pornostar, der sein blutendes Gemächt kühlen muss. Zwischen den drei zeitlichen Ebenen wechselt die Handlung hin und her.

Zahlreiche Abzieh-Schönheiten werfen sich im Laufe der Serie an die unterschiedlichen Roccos heran, alle erliegen dem Charme des heiligen Rocco. Der kommt aus schwierigen Verhältnissen, kein Wunder, dass er eines Tages beschloss, die Welt zu ficken, statt von ihr gefickt zu werden. So blöd das alles klingt, so dämlich ist diese biedere Geschichte. Fehlt nur noch, dass irgendjemand um Vergebung für Roccos Sünden bettelt. Aber das kommt gewiss in einer der weiteren Episoden.

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