Rammstein spielen mit dem Feuer

Rückblick 2023: Der Skandal um Lindemann hat Rammstein getroffen. Dem Erfolg tat es keinen Abbruch.

Die Genese von Rock und Pop ist voller Skandale. Mal ging es um Hüftschwünge und brennende E‑Gitarren (Elvis, Jimi Hendrix), mal um Sex mit Minderjährigen (Jerry Lee Lewis, Led Zeppelin, David Bowie u. v. a.) oder um schockendes Bürgerschreck-Gehabe (New York Dolls, Sex Pistols und Nachfolgende).

Der 2010 verstorbene Megamanager Malcolm McLaren trieb das Spiel mit der lauten Aufmerksamkeit, orchestriert nach dem PR-Prinzip „Any press is good press“, bereits Ende der 70er-Jahre in lichte Höhen. Punk schoss für eine Weile nicht nur die Dinosaurierbands aus dem Sattel. Die britische Krawallpresse mischte nur zu gern mit, wenn es gegen die Queen und das Establishment ging. Man kann das alles auf 610 Seiten nachlesen in „England’s Dreaming“ von Jon Savage, einem der besten Pop-und-Gesellschafts-Bücher, erschienen im UK im Jahr 1991. Ergo: Prinzip erkannt seit über dreißig Jahren.

Nun ist der Rockskandal, ausgelöst von einer Berliner Band, die auf ihren Konzerten jeweils eine halbe Rafinerie abfackelt, in neue digitale Sphären vorgestoßen. Zwei junge Frauen aus der Bloggo- und Influencer-Szenerie, Shelby Lynn und Kayla Shyx, bezichtigten Till Lindemann und seine Mannen der Professionalisierung des Groupietums.

Rammstein haben ein auf Effizienz getrimmtes, perfides Zuführungssystem entwickelt, das den in der Rockmusik nicht eben selten von männlichen Künstlern begangenen Machtmissbrauch gegenüber weiblichen Fans in eine neue Dimension führte.

Nach zögerlichem Anfang stürzte sich auch das „Sturmgeschütz der Demokratie“ mit einer Titelstory auf diese Trash-Saga. Ein paar Monate nach der Veröffentlichung wirft der Berliner Staranwalt Simon Bergmann dem Blatt einen „sensationsheischenden Stil“, vor. Sein wiederum krawalliges Zitat: „Ich habe beim ‚Spiegel‘ noch nie erlebt, dass da irgendeine Einsicht war, dass die gesagt hätten: Oh, hier haben wir einen Fehler gemacht.“

Die Fans rücken näher, der Rest rückt eher ab

Die Band Rammstein wirkt Monate danach wie teflonbeschichtet. Lindemann tourt solo, macht sich über Kritiker und Moralisten lustig. Die Band hat ihre massiven Fanreihen noch enger geschlossen und legt 2024 nach. Im nichtdeutschsprachigen Ausland war der Skandal schon gar keiner mehr. Die Staatsanwaltschaft hat die Ermittlungen eingestellt, weil keine der Frauen, die Lindemann gegenüber den Medien sexualisierte Gewalt vorwarfen, sich von den Ermittler:innen befragen ließ. Die Gründe dafür können vielfältig sein: Angst vor der mentalen Belastung durch ein Verfahren oder vor den Staranwälten.

Was bleibt außer Zynismus und Nachtreten von fürstlich entlohnten Ku’damm-Juristen: Jeder und jede kann frei entscheiden, ob sie noch einen Euro für Rammstein und ihr System ausgibt. Die Realität an der Konzertkasse und beim Merch sieht so aus: Umsatzrekorde für die Band aus Prenzlauer Berg.

Aber natürlich können Keyboarder Flake und auch Vorturner Lindemann ihren Flirt mit dem bürgerlichen Lager (Stichwort: Gedichtband, avisierte Biografe) nun erst mal knicken.

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