Folge 21

Big City Hate

Unser Kolumnist hat Grund zur Annahme, dass Pandemie, Inflation und Krieg den Großstadtmenschen ganz allmählich zur Bestie machen

Ich wundere mich häufig über meine Mitmenschen in den Großstädten und frage mich, ob wir uns in der letzten Zeit verändert haben durch all den Horror: erst die Seuche, dann der Krieg, jetzt die Inflation. Ich hab das Gefühl, dass langsam die Nerven blank liegen, dass die dünne Milchhaut des antrainierten guten Benehmens kurz vor dem Reißen ist, und darunter wartet die „rohe Bestie Mensch“.

Ein Beispiel: Ich ging vor ein paar Tagen über eine kleine Seitenstraße meines Viertels in der Hamburger Innenstadt, hatte es etwas eilig und ersparte mir den Umweg über den 50 Meter weiter liegenden Zebrastreifen, weil hier kaum mit Verkehr zu rechnen war. Ein Kleinwagen fuhr in meine Richtung, es blieb aber noch genug Distanz, um die Straßenüberquerung bequem zu absolvieren, als der Fahrer plötzlich Gas gab, knapp an meiner Hacke vorbeifuhr und wiederholt lautstark hupte. Ich zog den Fuß weg und gab ein mäßigendes „Heyheyhey“ von mir, worauf der Wagen sofort abbremste und die Scheibe der Beifahrerseite herabgelassen wurde, ich bückte mich und konnte den Fahrer sehen, ein Mann mir unbekannter Herkunft und/oder Abstammung, er fing sofort an, mich zu beschimpfen, sein Erregungslevel war bei etwa 8 von 10 möglichen Punkten.

„Was soll das ,Heyheyhey‘, was sagst Du hier ,Heyheyhey‘ zu mir, bist Du irre?“ brüllte er mir entgegen.

„Du bist mir eben fast über den Fuß gefahren!“

„Ja, weil Du bist auf der Straße! Das ist NICHT DEIN BEREICH! DA DARFST DU NICHT GEHEN!“

Bereits an dieser Stelle gingen mir die Worte aus, zu viel Information und Aktion auf einmal. Denn er hatte ja recht, allerdings überqueren nahezu alle Menschen auf der ganzen Welt – so sie dazu körperlich in der Lage sind – Straßen, um den Weg abzukürzen. Niemand rechnet damit, dass ein Fahrzeug, das noch weit genug entfernt ist, plötzlich Gas gibt. Er hätte mich vermutlich, wenn er gekonnt hätte, einfach umgefahren, weil er sich „im Recht“ wähnte.

„Du hättest mich fast umgefahren.“

„Ja, und? Was gehst Du denn auch hier? DU MUSST AUF DEM BÜRGERSTEIG GEHEN; NICHT HIER!“ schrie er mich maximal aggressiv an. „SOLL ICH RAUSKOMMEN, HA? SOLL ICH RAUSKOMMEN?“ Er schien dem Wahnsinn nahe und wollte sich prügeln, um die Situation zu klären, in der nichts zu klären war. Mein Blut pumpte wild. Stoffe, die ihre Drüsen seit Jahren nicht mehr verlassen hatten, kamen zum Einsatz, menschliche Hassgifte. In Sekundenbruchteilen versuchte mein Hirn abzuwägen, ob es Sinn machen könnte, sich die Eskalation zu leisten. Wir würden uns gegenseitig verletzen, Polizei und Krankenwagen wären nicht unwahrscheinlich, stunden- oder gar tageslanges Leiden wäre einem oder beiden von uns vergönnt, für was?  „Arschloch!“ drang nun aus dem Auto, ein paar Frauen waren auf dem Bürgersteig stehen geblieben und starrten die Szenerie an. Ich riss mich mit aller Kraft zusammen, atmete tief ein und ging meines Weges, während ich innerlich wiederholte: „Nicht reagieren, nichts sagen, einfach nur ruhig bleiben.“ In mir bellte mein verletzter Stolz auf mich ein: „Geh nicht, kehr um, zieh ihn aus dem Auto, schlag zu, dreh sein Auto auf den Kopf, tu ihm weh!“

Ich hab mich später gefragt, was da eigentlich passiert ist. Warum war der Mann so voller Hass? Hätte ich anders reagieren sollen? Galt sein Hass meiner Hautfarbe oder meiner von ihm vermuteten Nationalität? War das positiver Rassismus? Oder unterstelle ich ihm das wegen seiner von mir vermuteten Nationalität? Hätte ich anders reagieren sollen? Warum erinnert man sich nicht an all die schönen Sätze und Reaktionen, die man sich beim letzten Mal für solche Situationen zurechtgelegt hatte? Etwas Entwaffnendes wie: „Entschuldigen Sie mein Herr, ich wollte Sie nicht verletzen und hoffe Sie können mir verzeihen.“ Ich brauchte Tage um mich von den bösen Gedanken und dem schlechten Karma des Angreifers zu reinigen.

Ein paar Tage später kam ich um Mitternacht von einem Auftritt an einem entfernten Ort zurück, mein Booker hielt kurz an der Einmündung der Straße, in der ich wohne, auf dem Radweg, um mich rauszulassen. Es gab wenig Verkehr, aber ausgerechnet in dem Moment kam uns ein Fahrradfahrer mit schwarzen Klamotten und Dreads (vermutlich deutscher Herkunft und/oder Abstammung) mit relativ hohem Tempo entgegen. Er klingelte ununterbrochen, und kurz bevor er mich touchierte schrie er „Ey, weg da, Radweg, hau ab da!“. Ich warf mich gegen unser Auto, obwohl um mich herum alles frei war und der Radfahrer locker einen Schlenker hätte machen können. „Hey, mit Dreads darf man keine deutschen Mountainbikes fahren, das ist kulturelle Aneignung!“, hätte ich ihm hinterherschreien sollen. Leider war ich vor Aggression schon wieder völlig benommen. Auch in diesem Fall brauchte ich Stunden, um mich von den bösen Gedanken und dem schlechten Karma des Angreifers zu reinigen.

Was ist los mit den Leuten in den Großstädten? Ist das neu? Sind die alle durch Seuche, Krieg und Inflation irre geworden? Ist das der Geist der neuen Zeit, in der alle gegen alle losschlagen, weil sich alle von allen verletzt und gegängelt fühlen? Oder bin ich einfach nur altersdünnhäutig?

Glücklicherweise gibt es ab und zu auch positive Gegenbeispiele: Ich absolvierte vor ein paar Tagen einen Auftritt in Düsseldorf. Am Ende desselben bat ich die Leute, auch weiterhin zu Auftritten zu kommen, weil „wir als Künstler das Publikum brauchen, ohne das Publikum sind wir nichts“. Kurz darauf bekam ich die schriftliche Reaktion einer Besucherin dieses Abends:

 

Hey Rocko,

bei eurem Auftritt gestern in Düsseldorf hast du am Ende erwähnt, dass aktuell immer noch zu wenig Zuschauer zu Veranstaltungen kommen und hast dein anschließendes Plädoyer für Veranstaltungsbesuche  mit den Worten geschlossen: „Ohne euch geht es nicht.“

Dazu wollte ich nur kurz erwidern: Ohne euch aber auch nicht!

Wie der heutige Tag einmal mehr eindrucksvoll belegt hat. Ich hatte heute einen sehr anstrengenden Tag auf der Arbeit mit vielen Problemstellungen, die nicht so ohne weiteres schnell zu lösen sind, aber die Erinnerung an den gestrigen Abend und das gute Gefühl, das ich daraus mitgenommen habe, hat mich, wie immer, wenn ich bei Konzerten/ Auftritten, sei es von dir oder anderen Künstlern war, durch den Tag getragen und den Akku für die Herausforderung des Alltags wieder aufgeladen. Etwas, was die letzten zwei Jahre schmerzlich gefehlt hat, meines Empfindens nach. Es ist wichtig diese Inseln im Alltag zu haben, auf denen ihr auf uns wartet und uns freundlicherweise mit euren jeweiligen Mitteln auf andere Gedanken bringt und daran erinnert, dass das Leben mehr zu bieten hat als die tägliche Tretmühle. Hört bloß nicht damit auf!

Danke also für einen sehr schönen Abend und bis zum nächsten Mal! Lieben Gruß und viel Spaß auf deiner weiteren Tour! Ich wünsche dir viele viele Menschen im Publikum,

Martina Geyr- Winkels  🙂

Autorenbild von Kerstin Behrendt

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