Bob Dylan: Moderne Zeiten

Bob Dylan huldigt dem amerikanischen Song, Joanna Newsom transzendiert die Genregrenzen.

Mit Interpretationen alter amerikanischer Songs hatte Bob Dylan Anfang der Neunziger auf den Alben „Good As I Been To You“ und „World Gone Wrong“ sein Comeback als Songwriter vorbereitet. Ein Jahrzehnt später schien er sich bei seinen Inspirationsquellen zu bedanken: In seiner Satellitenradio-Show „Theme Time Radio Hour“ zelebrierte er die klassische Ära des amerikanischen Songs, spielte vor allem Klassiker und längst Vergessenes aus den 20er, 30er, 40er und 50er Jahren. Seine DJ-Tätigkeit schien den Barden dann auch musikalisch noch einmal zu beflügeln. Die neuen Stücke auf „Modern Times“ setzte er aus alten Blues-, Country-, Folk-, Rockabilly-, Bluegrass- und Pop-Songs, wie er sie allwöchentlich auflegte, zusammen. Einige Kritiker beschuldigten ihn daraufhin des Plagiats. Doch Dylan war die Folktradition, in der Diebstahl einer Liebesbekundung gleichkommt, immer näher gewesen als irgendein Copyright. „Modern Times“ erklomm als erstes Dylan-Album seit „Desire“ von 1976 die Spitze der US-Charts und verkaufte sich bis Ende des Jahres über vier Millionen Mal.

In England brachen derweil die Arctic Monkeys alle Rekorde. Ihr „Whatever People Say l Am, That’s What Im Not“, mit dem sie nach dem Ende der Libertines den britischen Rock mit dem Lad-Leben abgeschauten Texten und durchschlagenden Riffs vor dem Wegdämmern bewahrten, verkaufte sich allein in der ersten Woche 360000 Mal und wurde somit das schnellstverkaufte Debüt aller Zeiten im UK. Entdeckt wurden die Arctic Monkevs übrigens im Internet, was 2006 noch eine Meldung wert war.

Der Song des Jahres, „Crazy“ von Gnarls Barkley, war die erste Single, die es ausschließlich durch Downloads auf Platz eins der britischen Single-Charts schaffte. „St. Elsewhere“, das nachfolgende Album des aus Produzent Dangermouse und Sänger Cee-Lo bestehenden Duos, tauchte am Ende des Jahres ebenfalls in den Bestenlisten der Kritiker auf, auch wenn es den Erwartungen, die die Single schürte, natürlich nicht ganz gerecht werden konnte. TV On The Radio erfüllten dagegen mit ihrem zweiten Album „Return To Cookie Mountain“ alle nach dem Debüt „Desperate Youth, Blood Thirsty Babes“ in sie gesetzten Hoffnungen und zeigten, wie Phil Spector vielleicht geklungen hätte, wenn ihm ein Sack Gras und ein Rechner mit ProTools zur Verfügung gestanden hätten.

Die Überraschung des Jahres lieferte allerdings die 24-jährige Harfinistin und Songwriterin Joanna Newsom. Ihr Debüt „The Milk-Eyed Mender“ von 2004 galt zwar in Neo-Folk-Kreisen als schräges kleines Meisterstück, doch mit einem derart kühnen Nachfolger wie „Ys“ hatte niemand gerechnet. Allein die Credits lesen sich wie der feuchte Traum eines Pop-Avantgardisten. Steve Albini nahm mit Newsom an der Harfe fünf epische Songgebilde auf, der Brian-Wilson-Kollaborateur Van Dyke Parks schrieb dazu idiosynkratische Arrangements für ein großes Orchester. Und Indie-Rock-Pop-Punk-Free-Jazz-Alleskönner Jim O’Rourke mischte alles zusammen und war von dem Ergebnis so begeistert, dass er in US-Zeitschriften ganzseitige Anzeigen mit einem Newsom-Foto und dem Zusatz „Music is back“ schalten wollte. Das Budget der kleinen Plattenfirma Drag City war nach den kostspieligen Aufnahmen zu „Ys“ allerdings ausgereizt. Doch wir haben es auch so gemerkt.

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