Bob Dylan & The Band – „The Basement Tapes“

Einige Auszüge aus den liner notes zu den ersten beiden Bob-Dylan-Alben: ”Bob Dylan was born in Duluth, Minnesota, on May 24, 1941. After living briefly in Sioux Falls, South Dakota and Gallup, New Mexico, he graduated from high school in Hibbing, Minnesota ‘way up the Canadian border.’ […] In 1959, in Central City, Colorado, he had that first job, in a rough and tumble striptease joint. ‘I was onstage just for a few minutes with my folky songs. Then the strippers would come on. The crowd would yell for more stripping…’” (Stacey Williams zu ”Bob Dylan”)

”In addition to his singing and song writing, Dylan is working on three ”novels.” One is about the week before he first came to New York and his initial week in that city. Another is about South Dakota people he knew. And the third is about New York and a trip from New York to New Orleans.” (Nat Hentoff zu “The Freewheeling Bob Dylan”)

Dylan hat zu keiner Zeit in New Mexico oder South Dakota gelebt, dass er in Striplokalen gespielt hat, ist unwahrscheinlich. 1959 verbrachte er jedenfalls seine wohl behütete Jugend in Hibbing/ Minnesota und reiste nicht, wie sein großes Idol Woody Guthrie, auf Güterzügen quer durch die Vereinigten Staaten. Die von Hentoff erwähnten Romane sind niemals erschienen. Doch diese Passagen enthalten eine tiefere Wahrheit, das geht aus einem Zitat Dylans aus dieser Zeit hervor: ”Anything I can sing, […] I call a song. Anything I can’t sing, I call a poem. Anything I can’t sing or anything that’s too long to be a poem, I call a novel. But my novels don’t have the usual story-lines. They’re about my feelings at a certain place at a certain time.”

Die besagten Romane sind nichts Anderes als Dylans eigene Geschichte (his-story), in der er seine Herkunft und seine Musik an mythische Orte verlegt, die man markieren kann. Sie bilden eine große Landkarte, ein Territorium, in dem Dylan sich, wenn er Musik macht oder darüber redet, bewegt. Greil Marcus hat dieses Territorium einmal das “alte, unheimliche Amerika” genannt, das bereits von der “Anthology of American Folk Music” aufgespannt wurde. Doch Dylan hat dieses Land in vielerlei Hinsicht vergrößert, neu vermessen und vor allem neu bevölkert – ja quasi ein Paralleluniversum geschaffen. Dort trifft man tragische Gestalten wie Hattie Carroll oder John Brown, aber auch den Diplomaten mit der siamesischen Katze auf den Schultern, Saint Annie, die sie nur die Schicksalsgöttin nennen, Einstein, als Robin Hood verkleidet, Shakespeare und noch so viele andere. Er schreibt die amerikanische Erzählung als eine lebendige, unvollendete Tradition fort. Denn was ist schon die Vergangenheit, wenn wir sie in der Gegenwart nicht neu in Szene setzen können.

Dies wird auf keiner anderen Veröffentlichung deutlicher als auf den “Basement Tapes”. Einer Reihe von Aufnahmen, die Dylan 1967 zusammen mit seiner damaligen Begleitband – die sich kurz darauf The Band nannte – im Keller eines hässlichen pinkfarbenen Hauses in den Bergen um Woodstock aufnahm. Dorthin hatte er sich nach einem obskuren Motorradunfall zurückgezogen. Man merkt schon, während man die Geschichte der “Basement Tapes” erzählen will, wie viel Mythen mit den Umständen dieser Aufnahmen verbunden sind, ganz zu schweigen von denen, die die Songs selbst beschworen.

Auf dem Weg ins Basement geraten wir auf eine Party, die Band spielt Rockabilly und will uns weismachen, verlorene Zeit würde man niemals wieder finden. “Lost time is not found again” (“Odds And Ends”). Das glauben wir jedoch nur so lange, bis wir dem Puritaner begegnen, der so anschaulich von seiner Zugfahrt von San Antonio nach Pittsburgh, mit einem kurzen Abstecher ins gute alte Tennessee berichtet. Von seiner Scham, als der Schaffner nach seinem Namen fragt und er sich offenbaren muss. Lo and behold! Siehe und staune! Und schon sind wir mitten drin, in der Vergangenheit. In Anlehnung an “The Great Gatsby” von F. Scott Fitzgerald sang Dylan Jahre später: ”She says ‘You can’t repeat the past.’/ I say, ‘You can’t? What do you mean you can’t, of course you can’” (”Summer Days”, 2001).

Niemals hat man The Band wieder so frei und entspannt aufspielen, niemals mehr Bob Dylan so anrührend singen hören. Besonders, wenn Richard Manuel ihn begleitet, wie z. B. bei “Tears Of Rage”, muss man schlucken. Das klingt als sei da ein nur notdürftig gestopftes Loch in der Zeit, durch das man in die Vergangenheit schauen kann. Man kommt sich vor wie ein Voyeur, denn der Sound ist fast unanständig intim. Wenn jemand ins Zimmer kommt, während wir die “Basement Tapes” hören, fühlen wir uns ertappt.

Und doch, wie gerne würde man das Loch ein Stückchen größer machen, um noch mehr sehen zu können. Kein Problem eigentlich, denn es gibt noch eine Menge Songs aus den Sessions, die nicht auf der 1975 unter dem Titel “The Basement Tapes” erschienenen Doppel-LP (hier hört man auch später mitgeschnittene Songs von The Band ohne Bob Dylan) enthalten sind. Die finden sich beispielsweise auf den fünf CDs der “Genuine Basement Tapes”-Reihe. Hier gibt’s the big picture. Hier kann man nicht mehr unterscheiden zwischen Traditionals, Tin-Pan-Alley-Schlagern und Eigenkompositionen wie dem unglaublichen, unverständlichen “I’m Not There” oder dem fast jenseitigen “I Shall Be Released”, so sehr ist alles durch die Liebe zu und den Anleihen (“Diebstahl” scheint mir ein zu hartes Wort) von alten Folksongs verwoben. Die Zeit ist aufgehoben. Time out of mind.

Columbia, 1975

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