Bob Dylan und „Through The Open Window“: Wie ein Pfadfinder
Der neueste Teil seiner Bootleg Series, zeichnet nach, wie Bob Dylan als völlig Unbekannter zum Meister des Folk-Genres wurde.
Ende 1961, kaum ein Jahr nachdem er aus dem Mittleren Westen nach New York City gekommen war, hatte Bob Dylan bereits eine Vielzahl von Facetten gezeigt. Der Beweis dafür findet sich gleich zu Beginn von „Through The Open Window“, der 18. Ausgabe von Dylans fortlaufender Bootleg Series.
In jenem Herbst nahm der damals erst 20-jährige Dylan sein erstes Album mit dem Produzenten John Hammond auf. Unter den vielen unveröffentlichten Aufnahmen, die auf den acht CDs der Box zu finden sind, befinden sich auch Überbleibsel aus diesen Sessions, darunter eine alternative Version des traditionellen Songs „Man of Constant Sorrow“.
Dylan klingt dabei wie ein unsicherer Pfadfinder, der nach dem Binden eines Kreuzknotens die Zustimmung seines Pfadfinderführers einholt. Er spielt eine Take ein und fragt dann Hammond: „Hast du das aufgenommen? … Hat es dir gefallen?” Als Hammond jedoch fragt, ob schon jemand anderes den Song aufgenommen habe, zeigt sich eine andere Seite von Dylan. „Nicht auf diese Weise … Auf eine andere Weise, denke ich”, sagt er, bevor er einen Kollegen aus der Szene erwähnt, der bereits eine Version des Songs veröffentlicht hatte. „Judy Collins hat es gemacht. Aber nicht eine Version … nicht so. Das ist eine andere.”
Ein beiläufiger, aufschlussreicher Moment
Auf einer Compilation, die uns zahlreiche Einblicke in Dylans Entwicklung und seinen kreativen Prozess vor seinem Wechsel zur E-Gitarre gewährt, ist dieser Moment sowohl beiläufig als auch aufschlussreich. Dylans Version von „Man of Constant Sorrow“ ist nicht wesentlich besser als die anderer Interpreten; er rockt sie nicht so wie andere Folk- und Blues-Songs, die er zu dieser Zeit spielte.
Aber seine subtile Abfuhr an Collins ist ein Zeichen für den übermütigen und frechen Jungen, der bereits zu erkennen ist – derselbe, der Menschen zurechtstutzen konnte, während er sich neu definierte und sowohl die New Yorker Folkszene als auch die Welt des Pop im Allgemeinen erschütterte.
Vom Mittleren Westen nach Greenwich Village
„Through The Open Window“ umfasst die Jahre 1956 bis 1963 und dient als inoffizieller Begleiter zur Biografie A Complete Unknown aus dem letzten Jahr. Es beginnt vor dem Start dieses glaubwürdigen und bewegenden Films, mit einem jugendlichen Robert Zimmerman, der in einem Musikgeschäft in St. Paul den Shirley-&-Lee-Hit „Let the Good Times Roll“ zum Besten gibt – die erste bekannte Aufnahme von Dylan.
Die Box endet etwa zwei Jahre vor Dylans stürmischem Auftritt beim Newport Folk Festival 1965. Wie der Film erzählt auch die Box eine bekannte Geschichte: Ein ernsthafter und ehrgeiziger, aber scheinbar unbeholfener Junge mit mysteriöser Vergangenheit zieht in die Großstadt, schmeichelt sich bei der Musikszene ein, beeindruckt alle mit seinem Können und seinen Songs und lässt dann all diejenigen, die von Schlagzeilen inspiriert sind, hinter sich, um sich ambitionierteren, poetischeren und persönlicheren Themen zuzuwenden.
Eine andere Seite der Verwandlung
Natürlich wurde diese Geschichte auch in seinen offiziellen Veröffentlichungen dieser Zeit erzählt – von Bob Dylan über „Another Side Of Bob Dylan“ bis „Bringing It All Back Home“ und darüber hinaus. Aber „Through the Open Window“ zeigt uns eine andere Seite dieser Verwandlung.
Anhand einer Fülle von Quellen – ausgegrabenen Clubaufnahmen, Tonbändern aus Privathäusern, Outtakes, Bühnenbemerkungen – können wir mitverfolgen, wie Dylan vom Mittleren Westen nach New York zieht, die Kaffeehaus- und Clubszene des Village erobert, Songs vor Freunden ausprobiert, mit anderen Künstlern interagiert, Teile ihres Repertoires plündert (insbesondere das seines Mentors Dave Van Ronk) und sogar mit einem überschwänglichen Radio-DJ interagiert.
So vertraut uns diese Entwicklung auch sein mag, noch nie wurde uns ein so detailliertes Dokument dieser Metamorphose vorgelegt, das zeigt, wie schnell, unerbittlich und oft atemberaubend sie war.
Raritäten mit historischem Wert
Die von Steve Berkowitz und Sean Wilentz zusammengestellte Box enthält auch Material, das bereits auf früheren Ausgaben der Bootleg Series zu hören war. Doch 48 der Titel waren bisher nur Sammlern bekannt, was ihren historischen Wert zusätzlich erhöht.
Endlich können wir einen seiner Auftritte aus dem Herbst 1961 im Gerde’s Folk City hören – nicht den legendären Abend, der ihm seinen Plattenvertrag einbrachte, sondern einen wenige Nächte später. Wir hören die allererste Live-Aufführung von „Blowin’ in the Wind”, die zeigt, wie ausgereift der Song schon damals war.
Nicht alle Raritäten erfüllen die hohen Erwartungen: Das Set aus dem Folk City ist etwas unscheinbar, und „Talkin’ John Birch Paranoid Blues” wirkt leicht überdreht. Doch ihre Aufnahme in eine Dylan-Sammlung ist längst überfällig.
Im Laufe der Zeit ist Dylans Wandlung vom lebhaften, mutigen Folk-Newcomer zum Meister seines Fachs in großen und kleinen Details zu hören. Aufnahmen, auf denen er Songs von Woody Guthrie und Jesse Fuller spielt, bevor er nach New York zog, zeigen, wie sehr er sich bereits mit der amerikanischen Volksmusik beschäftigte.
Wir hören frühe Versionen von „Tomorrow Is a Long Time“ oder „Bob Dylan’s New Orleans Rag“, und sogar einen Song namens „I Got a New Girl“, der schon andeutet, dass Dylan nie ein Purist war.
Der Witz des jungen Dylan
Wie jeder, der seine frühen Auftritte in New York erlebt hat, bezeugt: Dylan war witzig. Auf diesen Aufnahmen bezaubert er das Publikum mit absurden Geschichten, ironischen Beobachtungen und seinem typischen Schalk. Es ist eine gesprächige, liebenswerte Seite, die man später kaum noch zu hören bekam.
Die Box endet mit der vollständigen Aufnahme seines Konzerts in der Carnegie Hall im Herbst 1963 – ein Höhepunkt, der seinen Status festigte. Hier vertieft sich Dylans Gespür für traditionelle Songs, und seine rasante Entwicklung als Songwriter bleibt erstaunlich.
„Tomorrow Is a Long Time“ wird zu einem düsteren, wunderschönen Lied; „The Lonesome Death of Hattie Carroll“, bei einem Freund in Los Angeles aufgenommen, ist faszinierend. Als Dylan mit drei Alben im Gepäck die Bühne der Carnegie Hall betritt, hat er seine Stimme, seine Songs und seine Präsenz vollends gefunden.
Dieses Band, das die letzten beiden CDs der Box ausmacht, ist unerwartet aufschlussreich. Das Publikum ist still während der Protestsongs, lacht über Dylans Ironie und wirkt ehrfürchtig. Man kann sich kaum vorstellen, dass er diesen Ansatz bald hinter sich lassen würde – doch Through the Open Window zeigt genau das: Dylan war immer kurz davor, ein Fenster zu schließen und ein anderes zu einer völlig neuen Welt zu öffnen.