Brasil BASS

Natürlich geht es hier auch um die fantastischen Strände. Aber wer das Lebensgefühl Rio de Janeiros sucht, der stößt unweigerlich auf Baile Funk. Organisiert in Hunderten Soundsystems bringt der basslastige Electro-Groove Tausende zum Tanzen. Eine Reise durch Rio bei Nacht, dem Sound der Stadt auf der Spur -von der Copacabana bis in die Favelas, von den Bling-Bling-Clubs zu den dampfenden Turnhallen. Und natürlich auch zu den coolsten Strandabschnitten

Eine riesige Rauchwolke hängt unter dem gewölbten Blechdach des Boqueirão. Soeben hat der DJ zur Eröffnung seiner Show ein Feuerwerk entzündet, das von einer gigantischen Boxenwand wie ein Wasserfall aus Funken auf den Boden herabregnet. Raketen heulen grell durch den Raum. „Preparese!“ grollt eine tiefe Stimme aus den Lautsprechern, „macht euch bereit“. Doch von Panik keine Spur, die anwesenden Partygänger sind begeistert. Die Tanzfläche in dieser zum Partyort umfunktionierten Turnhalle ist gerammelt voll, und alles groovt zu ohrenbetäubend lautem Baile Funk, der in diesem Moment losrumpelt. „Tschumtschacktschacktschukutschumtschak“ donnert es durch den Raum, animiert von dem perkussiven Rhythmus bildet ein Teil der Gäste eine Polonäse, die sich hüpfend auf der Tanzfläche schlängelt.

Das Publikum ist jung und trägt die in Rio übliche Beachwear-Uniform: kurze Hosen, T-Shirts, Turnschuhe oder Badelatschen. Der Kleidungsstil unterscheidet sich nicht im Geringsten von der Sommergarderobe europäischer Teenager. Wie im Rest der Welt wird auch hier gerne gebounct. Unbeeindruckt von der immensen Lautstärke stehen vor der Boxenwand in zwei Reihen mehrere Dutzend knapp bekleidete Mädchen und gehen alle paar Takte immer wieder tanzend in die Hocke, hinter ihnen stehen ihre männlichen Begleiter und reiben ihre Hüften an den entzückt mit dem Hintern wippenden Mädchen. Ein MC betritt mit ein paar Tänzern die aus einigen Brettern gezimmerte Bühne neben dem DJ-Pult und begrüßt das Publikum. Als er mit dem Refrain „Ah Le Le Lek Lek“ loslegt, singt die ganze Halle euphorisch mit. Es ist Samstagabend, wir sind beim „Baile do Boqueirão“ im Stadtzentrum von Rio de Janeiro, und die Party erreicht soeben ihren Höhepunkt.

Wenn man das heutige Rio de Janeiro mit einem signifikanten Klang auf einen Punkt bringen möchte, dann mit dem Sound des Beatbox-Loops, der auch den Boqueirão zum Erzittern bringt: „Tschumtschacktschacktschukutschumtschak“. Dieser Beat wird der „Tamborzinho“ genannt und ist die Grundlage von fast allen Baile-Funk-Songs, zu denen in Rio de Janeiro heute getanzt wird. Er besteht aus einer zweisekündigen Human-Beatbox-Schleife des MCs Mr. Catra, die klingt wie ein dichtes Ensemble aus kleinen Handtrommeln. Wie ein akustischer Bienenschwarm ist der Tamborzinho in Rio omnipräsent. Man hört den Beat aus vorbeifahrenden Autos scheppern, er krächzt verzerrt aus den Lautsprechern von Mobiltelefonen, er ertönt auf den Straßenmärkten rund um die U-Bahn-Station Uruguaiana, und an den Wochenenden auf den über fünfhundert Baile-Funk-Partys, die im gesamten Stadtgebiet Rio de Janeiros stattfinden. Der Tamborzinho bringt die brasilianische Tropenmetropole zum Schwingen. Baile Funk ist die Musik der Jugend und gehört zu Rio de Janeiro wie die touristischen Klischeebilder Copacabana und der Zuckerhut, die riesige Jesus-Statue Cristo Redentor, Samba und der Karneval, aber natürlich auch die omnipräsenten Favelas, Geschichten von Drogengangs, Armut und Gewalt.

Fragt man als Europäer einen Brasilianer nach Baile Funk, bekommt man meist eine ambivalente Anwort. Auch wenn Baile Funk die ganze Stadt dominiert, setzen besser verdienende Brasilianer den Sound und seine Kultur mit der Gosse gleich, mit dem Rio der Favelas, der innerstädtischen Slums. Aber in den deftigen Baile-Funk-Texten geht es häufiger um Sex als um Sozialkritik. Die ist trotz des drastischen Wohlstandsgefälles, der rasant steigenden Preise und der im Vorfeld vom Fußball-WM und Olympischen Spielen grassierenden Polizeiwillkür nur selten zu hören. Funk aus Rio will vor allem Spaß. Sogar die Protzgesten der amerikanischen Bling-Kultur hat der Baile Funk adaptiert, auch wenn der „Funk Ostentação“, der „Angeber-Funk“, in der Business-Metropole São Paulo deutlich ausgeprägter ist als in dem vergleichsweise gemächlich wirkenden Rio de Janeiro.

Der Funk-Spaß steckt an. Baile Funk ist in der Metropole an der Guanabara-Bucht heute die dominante kulturelle Kraft, die auch ein Spiegelbild der innerstädtischen Struktur ist. Favelas sind in Rio -im Gegensatz zu vielen anderen südamerikanischen Megacities -nicht um die Stadt herum gewachsen, sondern befinden sich in direkter Nachbarschaft zu den wohlhabenden Wohngebieten an den Hängen der „Cidade Maravilhosa“, der „wunderbaren Stadt“. Viele der Favelas, die sich in der Nähe der Bilderbuchstadtteile Ipanema oder Copacabana befinden, sind inzwischen „befriedet“ worden -massive Polizeipräsenz soll die Kriminalität eindämmen. Doch nebenbei wurden dort auch etliche Baile-Funk-Partys verboten. Dabei ist die Favela-Kultur in Rio eng mit dem städtischen sozialen Gewebe verknüpft.

Ein weiterer Grund, warum manche Brasilianer über Baile Funk die Nase rümpfen: Es ist der Anti-Bossa-Nova. Ein Tamborzinho-Loop und ein Rapper genügen für einen Baile-Funk-Hit. Es ist elektronische Minimalmusik, die an billigen PCs auf gecrackter Software produziert wird und die auf CDs oder via MP3 in der Stadt zirkuliert. Sie ist nicht nur klanglich himmelweit entfernt von dem goldenen Musikerbe der 60er-Jahre, als in Copacabana und Ipanema die Bossa Nova entstand und von dort die Welt eroberte. Während Bossa Nova im wohlhabenden Teil von Rio erfunden wurde, ist Baile Funk auf öffentlichen Plätzen und in Turnhallen der Zona Norte, des armen

TANZ DER FARBEN

Brasilien ist nicht nur Sound und Strand. Brasilien ist Architektur, Literatur, Kunst. Hélio Oiticica hat alle zusammengebracht: die Maler und Musiker, die Schriftsteller und Filmemacher. Der bedeutendste Künstler Brasiliens, der bereits 1980 im Alter von 42 Jahren verstarb, hat wie selbstverständlich unterschiedliche Felder der Kultur miteinander verbunden. Der Vordenker der Tropicália-Bewegung ließ sich von der chaotisch gewachsenen Architektur der Favelas zu begehbaren Skulpturen inspirieren. Er verknüpfte die Samba-Kultur mit seinen bunten Capes, den „Parangolés“. Seinen Arbeitsstil bezeichnete er einmal als „Delílirio Ambulatório“, eine Art Schlafwandeln, begleitet von Drogen, Exzess und Musik. Er propagierte Kokain, integrierte das Pulver in seine Werke, um es schließlich als hirnerweichende Modedroge kategorisch zu verdammen.

Es war Oiticicas Installation „Tropicália“, die 1967 jenen Begriff prägte, den die Progressiven in Zeiten der Militärdiktatur für ihr künstlerisches Schaffen aufgriffen. Der Musiker und spätere Kulturminister Gilberto Gil erinnert sich, dass es dabei um mehr ging als um die Definition eines neuen Stilbegriffs, wie etwa bei der Bossa Nova: „Es war eine Lebenshaltung, eine kulturelle Einstellung, ein Konzept.“ Songwriter wie Gilberto Gil, Caetano Veloso oder Gal Costa wiesen aus brasilianischen Traditionen und internationalen Pop-Einflüssen einen eigenen (musikalischen) Weg.

Oiticica stellte damals eine verwinkelte Holzhütte in eine tropische Landschaft mit lebendigen Papageien, die von Sand umgeben und mit Plastikplanen verkleidet war. In ihrem Inneren summte ein Fernseher -zur damaligen Zeit ein veritabler Skandal. Schon bald wurde „Tropicália“ zu einer gesamtkulturellen Strömung des Aufbegehrens. Oiticica selbst emigrierte bereits 1969 nach London, denn das politische und kulturelle Klima seines Landes machte ein freies Arbeiten nahezu unmöglich. Im Exil zeigte er in der großformatigen Installation „Eden“ eine Fortentwicklung von Tropicália. 1970 zog Oiticica nach New York, wo er psychedelische Räume schuf und parallel dazu das Konzept des „Quasi Cinema“ entwickelte. Oiticica zeichnete Coverfotografien von Marilyn Monroe, Yoko Ono und Jimi Hendrix mit Kokain nach und traf auf die Protagonisten des New Yorker Undergroundfilms. Er selbst drehte mit dem Warhol-Darsteller Mario Montez und arbeitete an weiteren Experimentalformaten. Seine künstlerische Produktion verlagerte sich zunehmend auf Pläne und Modelle für künftige Werke. Erst 1978 kehrte Oiticica nach Brasilien zurück, wo er verstärkt mit seinen „Penetrávels“ Interventionen im Stadtraum entwickelte. Er schuf Architekturideen, die heute wie farbgetränkte Bungalow-Modelle erscheinen. Mit nur 42 Jahren verstarb Helio Oiticica an den Folgen eines Schlaganfalls in Rio de Janeiro.

Unter dem Titel „Das große Labyrinth“ ist im Rahmen des brasilianischen Kulturprogramms zur Frankfurter Buchmesse die bislang umfassendste Retrospektive Oiticicas vom 28. September bis 12. Januar 2014 im Frankfurter Museum für Moderne Kunst zu sehen. Gezeigt werden sowohl die abstrakten Malereien aus seiner Frühzeit als auch die schwebenden Reliefs, die farbigen „Bólides“-Holzkonstruktionen (Foto oben) und seine begehbaren labyrinthischen Rauminstallationen, jene „Penetrávels“, mit denen sich der Betrachter genauso aktiv auseinandersetzen kann wie mit seinen imposanten Stoffarbeiten, die zu gespenstischen Rückzugsräumen werden.

Nordteils von Rio, geboren worden. „Baile Funk“ bedeutet ursprünglich eine Musikveranstaltung, bei der zu Funk getanzt wird. Und tatsächlich spielten die DJs auf den ersten Partys in den mittleren 70er-Jahren Platten amerikanischer Soul-Künstler wie James Brown, Ohio Players oder Kool &The Gang. Später legte man auf den gleichen Partys Electro-Funk, Freestyle und Miami Bass auf. Vor allem Miami Bass setzte sich durch -dieser tiefergelegte Electro-Rap-Sound, der Mitte der 80er-Jahre mit der 2 Live Crew und Songs wie „Me So Horny“ oder „We Want Some Pussy“ kurzzeitig die Charts der Nordhalbkugel erstürmte, daraufhin aber ebenso schnell wieder in Vergessenheit geriet. In Rio gebar Miami Bass jedoch ein eigenes Musikgenre, den „Funk Carioca“ – benannt nach den Einwohnern Rios. Der Ausdruck „Carioca“(etwa „weißes Haus“) entstammt der Sprache der Tupi-Indianer, die vor der Ankunft der portugiesischen Kolonialherren die Bucht von Rio bevölkerten und die Herrschaften, die später in weiß getünchten Häusern wohnten, „Cariocas“ nannten.

Funk Carioca entstand, als die ersten MCs begannen, über Miami-Bass-Instrumentals zu singen. Da in Rio nur die gut ausgebildeten Schichten Englisch sprechen, sangen und singen die Künstler auf den Baile-Funk-Partys eigene, portugiesischsprachige Versionen ihrer Lieblingshits. Aus Run DMCs „You Talk Too Much“ wurde etwa „Taca Tomate“, der „Tomaten-Rap“. Die Compilation „Funk Brasil“ versammelte erstmals die eigenen Gehversuche von Rio-Funk-Künstlern und wurde 1989 zu einem Überraschungserfolg, der sich weit über die Stadtgrenzen hinaus hundertausendfach verkaufte.

Heute ist Baile Funk in Rio trotz seiner sozialen Stigmatisierung ein Teil der Alltagskultur, die eine lokale Ökonomie aus Soundsystems, Plattenlabels, DJs und Sängern hervorgebracht hat. Lange Zeit ein vor allem regionales, nur auf Rio beschränktes Musikphänomen, ist Carioca oder Rio Funk im YouTube-Zeitalter in ganz Brasilien bekannt geworden und steht sinnbildlich für das unbeschwerte Leben der Stadt, die über den saftigsten Sound -und über die schönsten urbanen Strände der Welt verfügt.

Rio mag eine Stadt mit großen sozialen Unterschieden und Abgrenzungen sein – aber am „Praia“, dem Strand, kommen die Cariocas alle zusammen. Egal ob arm oder reich und gleich welcher Hautfarbe. Wenn sie nicht Sand-Tennis oder Foot-Volley (ein Mix aus Fußball und Volleyball) spielen, erfrischen sich die Cariocas am Strand bei einer Caipirinha, einem wässrigen, eiskalt servierten brasilianischen Bier, oder sie bestellen gegrillten Halumi. Fliegende Händler schwirren von früh bis spät über den Sand.

Während Copacabana als etwas abgewrackt gilt und vor allem von internationalen Touristen des Klischees wegen besucht wird, ist der Strand von Ipanema der Ort, an dem sich das coole Rio trifft. Am Arpoador, dem nördlichen Zipfel der Bucht von Ipanema, hängen – je nach Wellenlage -die Surfer, dann folgen Richtung Leblon die „Postos“, die Wachhäuschen der Lifeguards, die durchnummeriert sind und nicht nur als Orientierungsmarke für Verabredungen dienen, sondern auch die sozialen Präferenzen der Cariocas verkörpern. Posto 8 ist etwa für Familien, zwischen Posto 8 und 9 liegt das schwul-lesbische Rio im Sand, am Posto 9 rauchte die studentische Opposition in den Siebzigern ihren Pot, und am Posto 10 trifft man vor allem wohlhabende Locals aus den angrenzenden Stadtteilen. Dort meckert man zwar über den Rio Funk -aber zu später Stunde wird auch in Leblon, Ipanema oder Gávea dazu getanzt.

Es sind die teuren Stadtteile der Zona Sul, der „Südzone“, wo der Eintritt in die exklusiven Clubs schon mal mit 50 Euro zu Buche schlagen kann -vorausgesetzt, man kommt überhaupt am Türsteher vorbei. Dort sitzt man dann an kleinen Tischen, bestellt eine Flasche Wodka und verbringt den Abend mit einem Musikmix aus internationaler Chartmusik und brasilianischen Popsongs. Aber wenn es richtig abgehen soll, streuen die DJs auch hier natürlich die aktuellsten Baile-Funk-Hits in den Mix, und das Bling-Bling-Publikum, dessen deutsches Pendant man in den entsprechenden Discos von Düsseldorf oder München findet, grölt freudig mit.

Wer es weniger domestiziert mag, sollte auf richtige Bailes gehen. Der bereits erwähnte Baile do Boqueirão ist für interessierte Nicht-Insider am besten geeignet. Die umfunktionierte Turnhalle eines örtlichen Sportclubs liegt im Zentrum Rio de Janeiros im Stadtteil Glória, direkt neben dem Innenstadtflughafen Santos Dumont. Die Party im Boqueirão richtet sich an ein aufgedrehtes, feierwütiges Publikum aus der Umgebung, das den weiten Weg in die unsicheren Favelas der Zona Norte, der „Nordzone“ scheut, wo heute die Mehrzahl der Baile-Funk-Partys stattfindet. Während in den Favelas die Funk-Parties zumeist von den dort herrschenden Drogengangs veranstaltet werden -beäugt von Knarrenmännern mit geschulterten Maschinengewehren -, sieht man im Boqueirão keine Waffen, und die Drogengangs bleiben draußen. Der Boqueirão wird dennoch gut bewacht, Besucher können sich hier sicher fühlen -vor dem Eingangsbereich der Halle stehen Aufpasser in kugelsicheren Westen und taxieren jeden neuen Gast.

Hat man seine 10 Reais Eintritt (umgerechnet knapp 3 Euro) gezahlt, wird man gründlich abgetastet. Auch auf der Tanzfläche verteilen sich unauffällig bullige Aufpasser, die dafür sorgen, dass es den ganzen Abend über trotz ausgelassener Partystimmung, Indoor-Feuerwerk und einer dicht gefüllten Tanzfläche nicht zu Handgreiflichkeiten kommt. Vor der Turnhalle werden Caipirinhas für 5 Reais (umgerechnet 1,50 Euro) verkauft, penibel werden dabei Ausweise kontrolliert: Alkoholische Drinks dürfen nicht an Minderjährige ausgeteilt werden – und das nimmt man hier ernst.

Der Anteil junger Frauen ist im Boqueirão ebenfalls überdurchschnittlich hoch, was nicht nur daran liegt, dass der Baile im als verhältnismäßig sicher geltenden Veranstaltungszentrum „Glória“ stattfindet, sondern auch, weil es neben der großen Tanzfläche einen kleineren Dancefloor gibt, auf dem „Baile Charme“ gespielt wird -die romantische Variante des Baile Funk. Während in der Turnhalle der Tamborzinho die Wände zum Wackeln bringt, stehen auf dem Charme-Floor Pärchen engumschlungen, hier tanzt man Steh-Blues, Carioca-Style.

„Furacão 2000“ strahlt als Neonlicht-Schriftzug im großen Saal des Boqueirão über der Boxenwand durch den Feuerwerknebel. Es ist der Name des Baile-Funk-Soundsystems, das hier heute Abend gastiert. „Furacão 2000“ ist eines der dienstältesten Funk-Soundsystems von Rio de Janeiro, und für den Baile do Boqueirão hat man eigens riesige Lautsprecherwände angekarrt, die -ähnlich wie bei den Reggae-Partys auf Jamaika -auch in Rio die Potenz und Bedeutung eines Soundsystems ausmachen. Steht man als clubsozialisierter Europäer vor einer dieser rund drei Meter hohen Wände, muss man sich allerdings die Ohren zuhalten. Es ist unfassbar laut! Das kommt vor allem daher, dass viele der Baile-Funk-DJs von ihren Laptops oder CD-DJ-Playern Baile-Funk-MP3s in niedriger Auflösung abspielen, was hundertfach verstärkt für massive akustische Verzerrungen sorgt. In Sachen Sound achtet man bei den Baile-Funk-Partys nicht unbedingt auf Klangqualität -es geht vor allem um die Lautstärke.

Die Tänzer im Boqueirão kümmern die Gewohnheiten sensibler Europäer allerdings wenig. Auch um drei Uhr früh ist hier die Party mit voller Intensität im Gange und die Tanzfläche unverändert voll. Am Rande leuchten vereinzelt Handy-Displays im Halbdunkel, wer sich auf der Tanzfläche nähergekommen ist, tauscht Telefonnummern aus oder added sogleich die neue Bekanntschaft auf Facebook.

Vor dem Boqueirão hat sich indes eine lange Schlange aus Taxis gebildet, die die ersten Partygänger zurück in die Stadt bringen. Zwei Taxifahrer stehen zusammen und singen den Refrain mit von „Quebra Quebra“, dem jüngsten Hit der Bonde Das Maravilhas, der aus der Turnhalle schallt. Zwei Mädchen gesellen sich spontan dazu, beugen sich halb vor und beginnen lachend ihre Taillen vor den Taxifahrern zittern zu lassen -wie funky Wespen. Die Taxifahrer klatschen den Rhythmus von „Quebra Quebra“ begeistert mit. Der Tamborzinho ist einfach nicht zu stoppen.

I NFO

WEBSITES

www.ipanema.com www.rioguiaoficial.com.br/en www.riotimesonline.com

ANREISE

Hin/Rückflüge unter 850 Esind meist mit langen Umsteigezeiten verbunden. Die Lufthansa fliegt ab 783 Eab FRA/MUC via São Paulo, die TAM ab 986 E ab FRA, KLM ab 892 Evia AMS

HOTELS

California Othon Classic, Av Atlantica 2616, www.othon.com.br

Rio Design Hotel, Rua Francisco Sá 17, www.riodesignhotel.com

Impanema Inn, Rua Maria Quitéria 27, www.ipanemainn.com.br

Rio Guesthouse, Rua Francisco Sá 5, www.rioguesthouse.com/

AUSGEHEN

Die Zona Sul mit den Vierteln Copacabana, Ipanema, Leblon und Botafogo ist der gediegene Teil Rios. Unser Autor empfiehlt das Restaurant Nova Capela in Lapa (bestes Brokkoli-Risotto und Bacalhau), die seit 1894 bestehende Confeitaria Colombo wegen ihrer Sandwiches und der heißen Schokolade mit besonders hohem Kakaoanteil (www.confeitariacolombo. com.br) sowie die Bar Do Mineiro in Santa Teresa (bardomineiro.net), wo es die beste Feijoada gibt, das Nationalgericht mit Reis, Bohnen und Schweinefleisch.

KUNST &KULTUR

MAR, Kunstmuseum, www.museudeartedorio.org.br

MAM, Moderne Kunst, www.mamrio.com.br

MAC, Moderne Kunst, www.macniteroi.com.br

CCBB, Kulturstiftung der Banco do Brasil, www.bb.com.br

SOUNDS DO BRASIL

VON DETLEF DIEDERICHSEN

Kurzversion für Twitter-Nutzer: Rio ist NYC. SP ist L.A. Salvador: New Orleans. Das Land beherbergt ein Pop-Paralleluniversum, in dem es alles das gibt, was es im angloamerikanisch dominierten Universum auch gibt, nur anders. Ist Recife also Nashville? Und Lissabon London? Nein, so einen Fall von Geschichtsverdoppelung gibt es in der Realität natürlich nicht. Man sollte also genauer hinsehen.

Rio de Janeiro ist New York in zweierlei Hinsicht: zum einen als Heimat der brasilianischen Entertainment-Industrie mit der entsprechenden Sogwirkung für alles Kreative, zum anderen als erstes Einfallstor für Europäer und europäische Kultur und Kulturvorstellungen. Salvador da Bahia lässt sich mit New Orleans vergleichen, weil es die afrikanischste Großstadt Brasiliens ist und eine Brutstätte neuer Musikideen von immenser Fertilität. São Paulo gilt vielen Besuchern als unüberschaubar-riesenhaft, dadurch unzugänglich und seelenlos – sie ist die modernste Metropole des Landes. Daher der L.A.-Vergleich. Recife schließlich ist Heimat des Forró, der mittlerweile landesweit immens populären Musik der Landbevölkerung Nordostbrasiliens. Musikalisch klingt und funktioniert das ganz anders als Country, aber musiksoziologisch und -ökonomisch drängt sich der Vergleich auf.

Rio ist aber vor allem die Heimat von Samba und Choro, zwei der Hauptsäulen der brasilianischen Musik. Samba – das sind einerseits die Lieder der kleinen Leute in den Arbeitervierteln und Favelas, wie sie in den Songs von Nelson Cavaquinho, Cartola oder Adoniran Barbosa unsterblich gemacht wurden. Andererseits sind es die riesigen, wohlorganisierten Sambaschulen, deren Umzüge zu Karneval Hunderttausende Touristen aus aller Welt nach Rio locken. Choro wird als zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstandene Instrumentalmusik oft mit dem New-Orleans-Jazz verglichen, hat aber musikalisch wenig Ähnlichkeiten. Es gibt zwei Richtungen: In der einen dominieren Blasinstrumente wie Flöte, Klarinette und Saxofon, sie wurde vor allem von dem Bläser und Komponisten Pixinguinha geprägt, während Jacob do Bandolim einen etwas leiseren Zweig begründete, geprägt von Saiteninstrumenten wie Bandolim (eine Art Mandoline), Cavaquinho (eine Art Ukulele) und einer 7-saitigen Gitarre. Diese Bands agierten auch meist als Begleitgruppen von Samba-Vokalisten, hinzu kommt in jedem Fall einiges an Percussion, Tamburin, Shaker, gerne auch Streichholzschachteln und Flaschen.

Als Stadt der Plattenfirmen und Radiostationen zog Rio seit Anfang der 20. Jahrhunderts Musiker aller Art an, von denen vor allem die Sängerinnen und Sänger (z. B. Carmen Miranda, Orlando Silva oder Dalva de Oliveira) und die Songschreiber (z. B. Ary Barroso, Noel Rosa oder Dorival Caymmi) berühmt wurden. In den 50er-Jahren begründete eine Gruppe junger Bohemiens, Jazz-Fans und unterforderter Musiker als Reaktion auf die pompösen Klänge der „Radio-Ära“ mit ihrem Belcanto-Gesang und üppigen Orchesterarrangements die Bossa Nova. Nach dem Militärputsch 1964 folgten die Tropicalisten und Rocksänger, all das floss dann zusammen zu einem eher unspezifischen Ganzen namens MPB (Música Popular Brasileira), zu dem noch heute alles zählt, was nicht dezidiert einer eigenen Rechnung zuzurechnen ist (etwa Metal oder Rap).

Seit Radio und Tonträger keine große Rolle mehr spielen, sinkt der Stern Rios etwas, und der von São Paulo geht auf, was nicht zuletzt an seiner vitalen Elektronikszene liegt. Aber auch eine Reihe neuer Singer/Songwriter meldete sich zuletzt von hier zu Wort.

Salvador da Bahia und sein fruchtbares Hinterland bereichern Brasiliens Musikszene seit Jahrzehnten nicht nur durch afrikanische Einflüsse, Stilistiken wie Axé und Samba Reggae und seine eigene Candomblé-Spiritualität, sondern auch mit Persönlichkeiten wie João Gilberto, der Caymmi-Familie und den Tropicalisten Gilberto Gil, Caetano Veloso, Maria Bethânia und Gal Costa.

Weiter im Norden beginnt das Forró-Gebiet, jene afrikanisierte Polka mit Akkordeon-Dominanz, eine ursprünglich derbe Bauernmusik, die Luiz Gonzaga ab den 40er-Jahren zähmte und mit Sophistication versah, was von dem jüngst verstorbenen Dominguinhos weitergeführt wurde. Weniger sophisticated, dafür umso erfolgreicher ist eine Fortentwicklung von Forró in Richtung Pop, eine Entwicklung, die an die der modernen Countrymusik bzw. die deutschsprachige volkstümliche Musik erinnert. Bands wie Mastruz com Leite füllen landesweit Stadien.

Noch weiter im Norden, Richtung Amazonas-Mündung, trifft man auf Genres wie Guitarrada (oft instrumentale gitarrenlastige Musik, Surf-nahe) und vor allem Tecno Brega: Die elektronisch aufgepimpten Billo-Schlager sind gerade dabei, künstlerisch wie kommerziell zu explodieren. Dabei handelt es sich interessanterweise um ein echtes Post-Tonträger-Genre, bei dem die Künstler ihre MP3s verschenken, um für Tanzveranstaltungen und Konzerte zu werben.

Riga

wird mit über 200 Veranstaltungen zur Europäischen Kulturhauptstadt 2014. Die Nationalbibliothek erfindet sich neu -als spektakulärer „Palast des Lichts“. Schon jetzt lässt sich das jungbewegte Baltikum bei einem Streifzug durch die Off-Clubs der Altstadt entdecken. DJs spielen Beats zu lettischen Volksweisen, draußen in den Gassen avancieren Fahrräder zu post-sowjetischen Fetischobjekten

VON DIANE HIELSCHER

Märkte sind wie Reiseführer. Die riesigen Berge von Fisch, Fleisch, Obst, Gemüse, Pyramiden von Honig-und Marmeladengläsern, grotesk bunten Haufen von Bonbons und Pralinen -sie erzählen einiges über die Stadt. Zunächst beantwortet der Zentralmarkt von Riga natürlich die Frage: Was essen und trinken die Menschen hier? Geräucherten Fisch, geronnene Milch, gefüllte Pfannkuchen, eingelegten Kohl, Unmengen an Dill und Bier. Es gibt einfach alles hier, in großen Mengen und vor lauter Kulisse -die Frauen und Männer, die in den ehemaligen Luftschiffshallen verkaufen, sind in der Sowjetunion geboren worden und sprechen Russisch. Nebenan fließt die Düna, die seit ihrer Quelle über 1.000 Kilometer zurückgelegt hat, um hier in Riga ins Meer zu fließen.

Nach einer knappen halben Stunde Fußweg durch graue Häuserschluchten, moderne Bürogebäude und vor-sowjetische Altbauten, gilt es zu bewundern, wie viele Retro-Möbel in einen kleinen Raum passen. Das Bufete ist eines der ältesten Cafés mit Indie-Appeal in Riga. Während die Rentnergruppen in der Altstadt Bier trinken, zwischen Gauklern, Straßenmusikern und Jugendstil, kann man hier den weißen Geländewagen, den Fixies und den Omas dabei zusehen, wie sie sich durch das neue Riga bewegen. Das Bufete ist nur etwa 15 Quadratmeter groß, hat aber trotzdem 20 Sitzgelegenheiten auf Sesseln und Sofas aus den 70er-Jahren. Depeche Mode pluckern aus den Lautsprechern, ein altes Grammofon glotzt in den Raum. Büsten, colorierte Bilder aus den 40er-Jahren, Bücher, Zeitschriften, Vasen und alte Uhren. Zwei Gäste haben ihre Fahrräder in die Mitte des Lokals gestellt. Der Kaffee wird in filigranen Blümchen-Tassen serviert.

Und auch in Riga haben die Hipster Computer von Apple, enge Hosen, umgebaute Rennräder ohne Bremsen und große Sonnenbrillen. Und offenbar verändern sie die Stadt. Immer mehr Bars, Kneipen und Clubs haben in den letzten zwei Jahren zwischen oder in den verfallenden Altbauten eröffnet. Es ist wie in Berlin, Prenzlauer Berg, kurz nach der Wende. Verfallene, leere Gebäude und junge Menschen, die Spaß haben wollen und Ideen haben.

Im Oktober werden die Cafés rund um die Kalnciema-Straße auf der anderen Seite der Düna wahrscheinlich noch voller sein als sonst. Musiker, Medienkünstler, Filmemacher und Netzaktivisten finden sich zu gleich zwei Festivals in Riga ein. Welche Rolle spielt die Kunst bei der Gestaltung einer nachhaltigen Zukunft? Diese Frage steht beim Kulturfestival der Neuen Medien im Mittelpunkt. Es findet vom 8. bis 12. Oktober unter dem Motto „Die Kunst der Anpassung“ statt. Fast zeitgleich können Besucher neue Tendenzen in der Musikwelt und philosophische Filme erleben – bei „Klangwald“, dem Festival für neue Musik und neuen Film.

Die lettischen Kreativen haben es sich in den modernisierten, hundert Jahre alten Holzhäusern in der Kalnciema-Straße gemütlich gemacht. Es gibt Bier und Wein zwischen Designergeschäften, einem Fahrradladen und einem antiken Kinderkarussell. Man trinkt kühles Alus, das lokale Bier. Und wie in Barcelona, London und Berlin wischen auch hier alle auf ihren Smartphones rum.

Wer das neue Riga nachts erleben will, geht ins KKC. Das Kanepes Kulturas Centrs ist einer der angesagtesten Clubs und Konzertlocation. 2012 wurde es in einem zweistöckigen, renovierungsbedürftigen Holzhaus eröffnet. Ein gigantischer schwarzer Löwe hängt kopfüber an der Wand vor dem Gebäude, drinnen: Holzfußboden, Konzertplakate und natürlich ein Fahrrad mitten im Weg, Symbol für das junge Riga. Es hat über zwanzig Jahre nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion gedauert, bis die Fahrradkultur die Stadt erobern konnte. „Kanepes“ ist übrigens lettisch für Cannabis, was reiner Zufall ist, denn Namensgeber ist nicht die Droge, sondern der Lette Darvis Kanepes, er heißt eben so. „Es war ein Unfall, dass ich das Zentrum eröffnet habe“, sagt der junge Mann mit dem Lockenkopf. Eigentlich ist Darvis Filmemacher, hat in Riga studiert, in Rom gearbeitet und ist zurückgekehrt in seine Heimat. „Dieses Haus hat wirklich nach jemandem gesucht. Früher war es eine Musikschule. Das heißt, in jedem Raum gab es 15 Jahre lang Musik. Aber es verfiel, wir haben alles selbst renoviert.“

Tagsüber Kaffee und verkaterte Kulturschaffende, nachts wird es schnell brechend voll -die Schlange an der Bar versperrt den Weg ins Obergeschoss, Hunderte schöner Menschen amüsieren und unterhalten sich, stehen herum und trinken. Im zweiten Stock beginnt ein Konzert. Es ist Samstagnacht, die lettischen Schauspielerinnen Anta Aizupe und Madara Bodmane singen, der Elektro-DJ Madant liefert die Beats dazu. Der Saal schwitzt, springt und jubelt. Die beiden Frauen klingen wie lettische Volksmusikerinnen, die Bässe wummern dazu.

„Ich bin aus Rom zurückgekommen, weil ich das Gefühl hatte, dort entwickelt sich kulturell nichts Neues mehr. Hier in Riga verändert sich alles im Moment“, sagt Darvis. „Als ich vor sechs Jahren in Riga mit dem Fahrrad zur Uni gefahren bin, haben sich Radfahrer noch gegrüßt, einfach weil wir so wenige waren. Mittlerweile ist es ein Fetisch geworden. Großartig!“

Es ist zwei Uhr nachts, leerer wird es nicht im KKC. Man könnte für einen Schlummertrunk ins Chomsky ziehen, benannt nach Noam Chomsky, dem intellektuellen US-Linken. Das Licht ist gedämmt, Chomsky schaut mit schwarzer Tinte gemalt von der Wand. Es gibt süßes Apfelbier und leise Musik. Eine Gruppe junger Menschen sitzt betrunken auf den Sofas und kichert. Ein Fahrrad versperrt den Weg zum Klo. Am nächsten Tag geht es einfach weiter, in den zahlreichen kleinen Cafés und Bars an jeder Ecke, immer den Fahrradwegen folgend. Und wer doch mal in die Altstadt möchte, geht am besten ins „I Love You“. Dort gibt es Live-Rock, direkt hinter dem mittelalterlichen Tor der jahrhundertealten Befestigungsanlage.

I NFO

STADTINFO

www.liveriga.com

ÜBERNACHTUNG

Elizabete Hotel, Elizabetes iela 27, www.elizabetehotel.lv, ab 50 E

ADRESSEN

Bufete, Krisjana valdemara iela 34

Kalnciema Kvartals, Kalnciema iela

Chomsky, Lacplesa iela 68 I Love You, Aldaru iela 9

FESTIVALS

Festival der Neuen Medien vom 8. bis 12.10.13 www.liveriga.com/lv/5728

Festival Musik und Kunst „Klangwald“ vom 10. bis 12.10.13 www.liveriga.com/lv/4879

Brüssel

lädt zum architektonischen Rundgang und lenkt den Blick auf seine eigenwilligen Stadtviertel. Jenseits der Grand Place lockt die EU-Hauptstadt mit derben Brüchen und lässigem Genuss. Frittenbuden, Bürobunker und Afroshops, Art Nouveau, Comics und Chocolatiers -bekommt man tatsächlich an einem Wochenende hin. Ganz wichtig im Übrigen: Vor dem Popkonzert wird getafelt!

VON RALF NIEMCZYK

Am Ende landet man im L’Archiduc in der Nähe der Börse. Auf der Rue Antoine Dansaert mag Brüssel tagsüber den Ruf Antwerpens als belgische Modemetropole ankratzen und im angrenzenden Saint-Gery-Viertel brodelt aufgeregt das Nachtleben. Doch in jener Jazz-Bar aus dem Jahr 1937 kommt die Stadt zu sich. Anderswo wäre der holzgetäfelte Laden längst eine ausgereizte Touristenattraktion; während man hier am Tresen von vierschrötigen Originalen in eine Debatte über die deutsche Bundesliga verwickelt wird. Aus den Boxen klingt die „Low End Theory“ von A Tribe Called Quest.

Die EU-Hauptstadt mit ihren Bausünden und Eckkneipen lebt von solchen Orten. Im Gesamtbild keine Schönheit und sicher auch kein Epizentrum der Popmusik, dennoch wie geschaffen für einen schillernden City-Trip. Das liegt an der schludrigen Vielfalt und den schroffen Brüchen zwischen Bürobunkern, barocken Ensembles und afrikanisch geprägten Vierteln. Man kann das Flohmarkt-Quartier Marole durchstreifen oder über die Verwaltungspaläste der Europäischen Gemeinschaft staunen. Es gibt einen Jacques-Brèl-Rundgang, eine Comic-Tour oder eine Route des Jugendstils.

Als im Frühsommer im Kuppelbau des Cirque Royal ein ausverkauftes Konzert im Rahmen des Indie-Festivals Les Nuits Botanique stattfand, servierten die Wirte in den umliegenden Gassen der Place de la Liberté den Fans vor dem Beginn Sekt und kleine Speisen. Eine kulinarische Mischung, die hier hervorragend funktioniert. Wer eine traditionelle Version dieser Mixtur erleben möchte, besucht das seit 1886 existierende Café Le Cirio. Hier bestellt man einen korrekt eingeschenkten „half en half“(Weißwein/Champagner), während der Blick über ältere Damen, gedrechselte Kugellampen und palmenartige Säulen hinweg schweift.

Vielleicht dient der 150. Geburtstag von Henry van de Velde ja als Reisegrund. An vier Wochenenden im Oktober erinnert die Art-Deco-und Art-Nouveau-Biennale an den großen belgischen Architekten und Designer. In geführten Exkursionen können erhaltene Art-Nouveau-Gebäude besichtigt werden, die sonst nicht öffentlich zugänglich sind. Zum Beginn des 20. Jahrhunderts versuchte auch die Brüsseler Jugendstil-Bewegung, technische Innovationen mit einer eigenen Ästhetik zu verbinden. In den folgenden Jahrzehnten wurde dieses Erbe nonchalant vernachlässigt, ganze Ensembles wurden einfach abgerissen. Heute pflegt man den erhaltenen Bestand mit großer Hingabe. Etwa durch Umnutzung wie im sehenswerten Comic-Museum in der Rue des Sables, das Victor Horta, ein anderer Art-Nouveau-Star, im Jahre 1906 als noble Stoffhandlung entworfen hatte. Die filigrane Stahlkonstruktion des Kaufhauses „Old England“ von Paul Saintenoy ermöglicht einen imposanten Rundumblick über das Häusermeer; mit einer kostenlosen Aufzugkarte gelangt man ins Dachcafé des heutigen Instrumentenmuseums.

Das innere Brüssel ist eine kompakte Angelegenheit. Als die Fernzüge noch in Bruxelles Central hielten, stieg man dort wie aus einer U-Bahn-Station an die Oberfläche und war in wenigen Minuten an der Grand Place, der guten Stube der Stadt. Heute halten Thalys oder ICE im terminalartigen Bahnhof Midi am Rande der Innenstadt. So bleibt auf dem Fußweg ins Zentrum etwas Zeit, sich an das rumpelige Stadtbild zu gewöhnen, über dem der wuchtige Justizpalast wie eine Trutzburg thront. Erstes Ziel ist natürlich der zentrale Marktplatz, der in seiner barocken Pracht immer wieder beeindruckend wirkt. Die umliegenden Gassen mögen als Einstimmung ins pralle Leben dienen, wo Nepp und ausgezeichnete Traditionsrestaurants Haus an Haus liegen. Auch das örtliche Schwulenviertel findet hier seinen Platz. In Richtung Mont des Arts wurde der Autoverkehr von weiteren Plätzen und Gassen verdrängt -eine Ausdehnung der Fußgängerwelten. Gegenüber dem Palais des Beaux Arts liegt in der Rue Ravenstein die Schokoladen-Manufaktur von Laurent Gerbaud, der in seiner Manufaktur mit angeschlossenem Café hochwertigen Kakao verarbeitet. Gerbaud ist der Vorreiter der unabhängigen Chocolatier-Zunft, der die üppige Brüssel-Machart mit Kakaobutter strikt ablehnt und seine herben Köstlichkeiten stattdessen mit Ingwer oder Chili kreuzt.

Danach ist man reif für weniger frequentierte Innenstadtreviere und Stadtteile außerhalb des autobahnbreiten Ringboulevards. Die Streifzüge durch die Bezirke Schaerbeek, Ixelles und Saint-Gilles gestalten sich raumgreifender, wobei sich stets Gelegenheit zu Abschweifung bietet. An der großzügigen Place Flagey bieten Exil-Portugiesen in einer Marktbude Spanferkel-Brötchen und Vinho Verde feil. Im Hintergrund prunkt stolz wie ein Ozeandampfer das ehemalige Haupthaus des Belgischen Rundfunks im Moderne-Stil, das heute das Café Belga beherbergt. Hier pluckern milde Elektro-Beats durch das Design-Interior. Im großbürgerlichen Quartier an den nahen Teichen von Ixelles kann man dann wieder in die Jugendstil-Spur einschwenken und im Vorübergehen wundersame Schnörkelhäuser von Ernest Blerot entdecken. An der Place du Châtelain kippen die EU-Parlamentarier ihre Nachsitzungs-Drinks. Da kann das Atelierhaus von Art-Nouveau-Meister Victor Horta ruhig eine Weile warten. Zum Abschluss landet man im filigranen Doppelgebäude in der Rue Américaine, das seit seiner umfangreichen Restaurierung ein Museum beherbergt, das gegen Voranmeldung besichtigt werden kann.

Der Brüsseler Rhythmus, er besteht aus kulinarischen Entdeckungen und Architektur nach Plan.

I NFO

STADTINFO

www.visitbrussels.be

ÜBERNACHTUNG

Hotel Saint-Gery, Place Saint-Gery 29-32, www.hotelstgery.com ab 80 E

ADRESSEN

Le Cirio, Rue de la Bourse 18

L’Archiduc, Rue Antoine Dansaert 6

Café Belga, Place Eugene Flagey 18

L’Ultime Atome, Rue Saint-Boniface 14

FESTIVALS

Stadtfestival Nuit Blanche am 6.10.13 www.nuitblanchebrussels.be

Biennale Art Nouveau Wochenende 5.10. bis 27.10. www.voiretdirebruxelles.be

Madeira

ist ein wunderbarer Fluchtpunkt. Wenn es bei uns graupelt und stürmt, präsentiert ein Festival auf der Blumeninsel im Atlantik aktuelle Avantgarde-Strömungen. Abends wird eine Schieferklippe über dem Meer zum spektakulären Schauplatz für Krachexzesse und Dream Pop. Am Nachmittag liegt man am Pool oder wandert durch lichte Lorbeerwälder

VON JENS BALZER

Manchmal kann es wirklich auch sehr angenehm sein, wenn man sich für menschenverachten den Lärm und experimentelle Popmusik interessiert. Ich erinnere mich zum Beispiel an einen Dezembertag vor zwei Jahren: Daheim in Berlin ging gerade grässlicher Graupel auf geduckte Gestalten nieder, ein widriger Wind wehte wüst durch die schmutzigen Gassen. Ich indes stand in einer schön warmen Nacht unter dem afrikanischen Sternenhimmel. Auf einer dramatisch sich über das glitzernde Meer hinwegreckenden Schieferfelsklippe war eine kleine Bühne errichtet worden; auf selbiger saß ein bekannter Improv-Gitarrist und quälte aus seiner vielfach verzerrten Gitarre immer lautere und schrillere Rückkopplungen heraus. Dazu tanzte eine japanische Tänzerin einen lieblich vom Mond beschienenen Schleiertanz; später legten dann deutsche und portugiesische DJs Industrialkrach mit und ohne Beats auf den Plattenteller.

Experimentelle Elektronik, zwitschernde und quietschende Geräuschcollagen, aber auch nihilistischen Lärm in ungewöhnlich entspannter Atmosphäre: Das und noch mehr kann man an jedem ersten Wochenende im Dezember auf Madeira erleben, der Bananen-und Blumeninsel im Atlantischen Ozean, etwa auf der Höhe des südlichen Marokko gelegen und auch in diesem eher garstigen Monat mit behaglichen Temperaturen gesegnet.

Dann nämlich findet hier das Madeira Digital Festival statt. Vier Abende lang wird dem geneigten Hörer dabei ein Überblick über die aktuelle Avantgardeund Noise-Pop-Szene gegeben. Stephen O’Malley von SunnO))) und der Orgel-Drone-Meister Tim Hecker haben hier schon erhabene Sakralkrachkonzerte gegeben, Lee Ranaldo spielte einen seiner ersten Soloauftritte nach der Auflösung von Sonic Youth.

In diesem Jahr -vom 6. bis zum 9. Dezember -werden zum Beispiel die harschen britischen Elektrominimalisten von Emptyset zu hören sein oder die in dieser Zeitschrift schon vielgefeierte New Yorker Avantgardistin Pharmakon, aber auch die Dream-Pop-Meisterin Grouper oder die vom Jazzanova-Ensemble bekannte Berliner Sängerin Clara Hill, die – wie wir an dieser Stelle schon mal verraten dürfen – auf ihrer im Oktober erscheinenden neuen Solo-LP „Walk The Distance“ eine formidable Mischung aus Field Recordings, abstraktem Gefrickel und folkinspiriertem Gesang präsentiert.

Das Programm wird seit 2008 von dem Berliner DJ und Impresario Michael Rosen zusammengestellt. Zu Hause betreibt Rosen, der hauptberuflich in der Hotelbranche tätig ist, die Agentur „Digital in Berlin“. Darauf empfiehlt und präsentiert er avantgardistische Musik aller Art. Anders als bei vergleichbaren Konzerten und Festivals, kann man sich beim MA-DEIRADiG von komplizierten Kompositionen und Krachkonzerten aber sogleich bei einer indischen Kopfmassage entspannen oder im Whirlpool mit Blick auf das Meer; auch geführte Wanderungen durch die berühmten Lorbeerwälder der Insel werden geboten. „Das MADEIRADiG ist ein Festival für Leute, die keine Festivals mögen“, erklärt Rosen. „Keine Menschenmassen, ein kleines, verlassenes Küstendorf, ein traumhaftes Hotel, wenige, aber intensive Konzerte und zwischendrin viel Entspannung, Sonne und Natur.“

Wellness und Noise sind hier tatsächlich kein Widerspruch -die abendlichen ästhetischen Exzesse befinden sich im interessantesten Einklang mit den regulierten Tagesabläufen. Nachmittags liegen die Musiker und ihr Publikum gemeinsam am Swimming Pool, abends werden alle pünktlich um neun in Shuttlebussen zum Konzertsaal gefahren und pünktlich zehn Minuten nach dem Ende des letzten Konzerts wieder zurück.

Wesentlich gefördert wird das MADEIRADiG von den Betreibern des Hotels Estalagem, eines spektakulär auf einem Felsen über dem Dorf Ponta do Sol thronenden Terrassenbaus. Hier wohnen die meisten Teilnehmer des Festivals, dort finden auch die After-Show-Partys statt. Die Konzerte werden hingegen im Nachbardorf Calheta abgehalten, im Casa das Mudas, einem geometrisch geduckten, aus Basalt und Beton gebauten neomodernistischen Kultur-und Veranstaltungszentrum.

Neu hinzugekommen ist das Madeira Micro International Film Festival (MMiFF), das Michael Rosen in diesem Jahr zum zweiten Mal organisiert. Zwei Tage nach dem MADEIRADiG kann man sich drei Tage lang „fantastische und surrealistische Filme“ aus aller Welt ansehen; zudem gibt es Filmkonzerte mit prominenten Musikern. In diesem Jahr wird der von Gruppen wie Cluster und Harmonia bekannte Krautrockpionier Hans-Joachim Roedelius mit dem Schauspieler und Komponisten Christopher James Chaplin auftreten, dem jüngsten Sohn von Charlie Chaplin. Das MMiFF findet ebenfalls in Ponta do Sol statt, in einem zauberhaften Art-Deco-Kino aus dem Jahr 1933, das am Berghang gegenüber dem Estalagem Hotel liegt. In den stillen Momenten der Filme kann man das Meer rauschen hören, während der Mond in den Kinosaal schimmert.

I NFO

INSELINFO

www.visitmadeira.pt

ÜBERNACHTUNG

Hotel Estalagem, www.pontadosol.com/, ab 160 E

ADRESSEN

Hotel Da Vila, Rua Dr. J. A.Teixeira

Snack Bar Sol Poente, Cala do Ponte do Sol

Dos Amigos, Estrada dos Combatentes 89

Cantinho da Madalena, Avenida 10 de Fevereiro, alle in Ponta do Sol

FESTIVALS

Madeira Digital Festival vom 6. bis 9.12 .13 www.madeiradig.com/

Madeira Micro Film Festival vom 12. bis 14.12.13 mmiff.com/

Reise-Blues

Schon mal versucht, mit Gitarre zu fliegen? Besser, Sie lassen es. Nehmen Sie lieber einen iPod mit. Oder bleiben Sie zu Hause

VON HELGE TIMMERBERG

F lughafen Hannover. Ich will nach Wien. Mit Air Berlin. Scheiß-Idee, denn ich habe eine nagelneue akustische Gitarre dabei. Eine Guild, ein Superteil, 2.000 Euro hatte ich dafür hingelegt. Oder waren es 2.400? Beim Check-in sagt mir eine süße Airline-Mitarbeiterin, dass ich die Gitarre nicht als Handgepäck mitnehmen darf, sondern als Gepäck abgeben muss. Ich sage, das geht aber nicht, denn dann ist sie nachher kaputt. Im Frachtraum ist es, sobald die Maschine ihre Flughöhe erreicht, für sie zu kalt. Fünf Grad minus verzieht das Holz. Das tut mir leid, sagt sie, aber anders geht es nicht.“Warum denn nicht?“ – „Sie passt nicht ins Gepäckfach.“ – „Okay, dann nehme ich sie aus dem Gitarrenkoffer und gebe nur den als Gepäck auf.“ – „Nein, das dürfen sie auch nicht.“ Ich hole die Guild raus und zeige ihr, wie klein, schlank und elegant das Instrument ist. Die passt mit Sicherheit in die Fächer. Jeder andere nimmt mehr Handgepäck mit. „Nein“, sagt sie.

Ab sofort finde ich die Frau überhaupt nicht mehr süß und gehe zum Office der Airline, in der Hoffnung, dort jemand zu treffen, der a) musikalisch und b) nicht bescheuert ist. Ich finde einen wahnsinnig freundlichen Glatzkopf, der mein Problem versteht, aber trotzdem dieselbe Meinung wie die süße Airline-Mitarbeiterin am Check-in vertritt. Die Gitarre passt nicht ins Gepäckfach, sie muss in den Frachtraum, egal wie kalt es da ist. Allerdings: Er bietet mir eine Alternative an. Ich kann ja ein Ticket für mein Instrument kaufen. Dann habe ich auch einen Extrasitz für die Guild. Was kostet das? 40 Minuten vor Abflug erfahrungsgemäß viel. Um die 300 Euro. Das wäre dann doppelt so viel, wie das Ticket für meinen Arsch gekostet hat. Ich frage ihn, ob er scherzt. „Nein“, sagt er. „Entweder kaufen Sie ein Ticket für Ihr Instrument oder es bleibt hier.“ Kurzer Check der Lage: Natürlich lasse ich die 2.000-Euro-Guild hier nicht einfach stehen. Den Flug canceln und mit dem Zug nach Wien? Das wären zehn Stunden Fahrt statt eine Stunde Flug und finanziell macht es auch wenig Sinn, denn so kurz vor Abflug liegen die Stornierungskosten meines Tickets bei 100 Prozent. Und die Zeit drängt. Ich hole die Gitarre noch mal aus dem Koffer und zeige sie ihm. Welch ein schönes Instrument. Ich liebe es und hoffe, ihn mit dieser Liebe ein wenig anstecken zu können. Klappt aber nicht. Der Glatzkopf bleibt stur wie Beton und weist noch mal darauf hin, dass diese kleine, schlanke Guild mit Sicherheit nicht in die Gepäckfächer über den Sitzen passt und ich kriege einen Hals, wie schon lange nicht, als ich schließlich den Platz für meine Gitarre für 300 Euro kaufe.

Ein bisschen später und jetzt im Flieger von Air Berlin, stelle ich fest, dass sie natürlich, und auch mit Koffer, ohne Probleme im Gepäckfach unterzubringen ist, stelle sie aber trotzdem auf meinen Nebensitz ab. Er gehört ja ihr. Die Stewardess eilt herbei. „Warum legen Sie Ihre Gitarre nicht ins Gepäckfach?“

„Weil ich 300 Euro für den Platz bezahlt habe!“ Inzwischen ist mein Hals geplatzt und ich rede ein bisschen laut. „Ach so“, sagt sie, „aber dann müssen sie die Gitarre anschnallen.“ „Okay, und nen Kaffee will sie auch.“ Nach dem Flug habe ich recherchiert. Das Instrumentenverbot in der Passagierkabine gibt es nicht nur bei Air Berlin, sondern praktisch bei allen Fluggesellschaften. Es wird nur unterschiedlich streng praktiziert. So grottenhart wie diese Monster in Hannover sind nicht alle. Aber ein Glücksspiel bleibt es und wenn man es verliert, ist entweder die Gitarre kaputt oder man kauft ein zweites Ticket für sein Instrument. Ist das Abzocke? Ja. Ist das seelenlos? Ja. Ist das schlimm? Nein. Musiker brauchen den Blues.

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