Carsten Brosda, Christof Jessen und Das Weeth Experience: Jammen statt Jammern

Der Hamburger Kultursenator Carsten Brosda und die Band Das Weeth Experience betreiben Post-Rock-Politik

Christof Jessen arbeitet seit 1986 im Plattenladen Michelle Records am Gertrudenkirchhof, einer Hamburger Institution. Im Jahr 2000 hat er ihn mit zwei Kollegen aus der Insolvenz gerettet und übernommen. Jessen ist auch Sänger und Gitarrist der Band Das Weeth Experience, die seit Anfang der Neunziger Platten macht und unter anderem mit Yo La Tengo, Giant Sand und Calexico tourte. Als Michelle Records im ersten Lockdown im Frühjahr 2020 schließen musste, streamte die Band jeden Tag einen Song live aus dem Laden.

Eine Initiative, die zeigt, dass ein Plattenladen mehr sein kann als ein Treffpunkt für Connaisseurs, Nerds und Hipster – ein sozialer Ort, dem das seelische Gleichgewicht seiner Kund:innen am Herzen liegt, und ein wichtiger Teil des Kulturlebens einer Stadt. „Ich habe mich nie in meinem Leben, egal ob es meine Band oder meinen Laden betrifft, als Teil der Hamburger Kulturszene empfunden“, sagt Jessen. „Da gab es auch keine Berührungspunkte. Kultur und Politik haben erst seit Carsten für mich ein anderes Verhältnis zueinander.“

„Carsten“ ist Carsten Brosda, SPD-Politiker und seit 2017 Kultursenator der Stadt Hamburg. „Ich finde es wirklich erstaunlich, dass er von Staatsoper oder Theater bis zum Pudel Club oder irgendwelchen Metal-Übungsräumen alles beachtet, allem eine Stimme gibt und alles gleich ernst nimmt. Als wir im ersten Lockdown waren und keiner eine Ahnung hatte, wie man mit der Situation umgeht, habe ich ihm nachts um zwölf eine Mail geschickt und hatte um halb eins eine Antwort. Und ich dachte: Was ist denn das fürn Freak? Und es war nicht einfach nur eine Antwort, sondern eine ernsthafte Beschäftigung mit dem Thema.“

Und so kam Jessen auf die Idee, den Kultursenator, der ohne sein Wissen schon lange sein Kunde war, für eine Zusammenarbeit zu gewinnen. „Wir arbeiteten an einem Stück für die Vertonung eines längeren Textes. Und dann habe ich Carsten gefragt, ob er sich vorstellen kann, da im Rahmen unserer Lockdown-Konzerte mitzumachen.“ Im ersten Lockdown hat es aus Termingründen nicht geklappt, aber im zweiten fragte Dirk Matzke, der Booker vom Hamburger Club Knust, ob sie das Projekt nicht in seinen Räumen umsetzen wollten.

Wenige Tage später, am 18. Dezember 2020, standen Das Weeth Experience und Brosda auf der Bühne. Der Auftritt wurde als Benefizkonzert für die Essensausgabestelle DeinTopf im Hamburger Karolinenviertel live gestreamt und von Produzent Tobias Levin mitgeschnitten. Jetzt erscheint das 48-minütige Stück beim neuen plattenladeneigenen Label (erhältlich über michelle-records.de und inde und in ausgesuchten Plattenläden) streng limitiert auf 25 LPs auf „Willy-Brandt-rotem Vinyl“ (Jessen). Und auch der Titel ist ein Zitat des Ex-Kanzlers: „Nichts kommt von selbst, und wenig ist von Dauer.“

„Von Kunst wird zu oft eine vordergründige Politisierung erwartet“

Der Kultursenator liest zum Elektronik- und Americana-informierten Post-Rock-Stück von Das Weeth Experience einen Text, collagiert aus seinen Büchern „Die Kunst der Demokratie“, in dem er sein Verständnis von Kultur und Kulturpolitik ausführt, und aus „Ausnahmezustand“, einer kurzen frühen Reflexion über die Auswirkungen der Corona-Pandemie. Der Text hat durchaus popkulturelle Bezüge, er reflektiert etwa über Leonard Cohens Song „Democracy“ und die Country-Supergroup The Highwomen mit Brandi Carlile, die eine feministische Sicht auf gängige Macho-Country-Erzählungen gibt. Er interessiere sich für Künstler:innen, die „durchaus populäre, archaische Geschichten“ erzählen, „die politisch relevante Resonanzräume eröffnen“, so Brosda. „Das ist nicht vordergründig politisch, hat aber eine unglaublich hohe politische Relevanz. Ich finde, wir erwarten von Kunst heute viel zu oft eine vordergründige Politisierung. So nach dem Motto: Jetzt verhaltet euch doch mal zu … Das finde ich total langweilig. Aber natürlich ist der Umstand, dass Kunst eine Welt erschaffen kann, die nicht ist, aber sein könnte, eine eminent politische Erfahrung und zudem eine eminent politische Ressource.  Und diese Erfahrung der Kunst zu stärken und auf sie hinzuweisen, das ist das, was ich versuche.“

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Er sei kein Künstler, so Brosda, „aber ich bewege mich natürlich in durch Kunst geprägte Räume hinein mit dem, was ich da mache. Und das fand ich spannend. Zu gucken: Was entsteht eigentlich, wenn du einen eher politischen, analytischen Text nimmst und den in einen künstlerisch gestalteten Raum bringst? Und an so einem Moment, wo dann auch Widersprüche offensichtlich werden, habe ich Spaß. Das ist das Schöne.“

Ein Widerspruch besteht darin, dass Kunst mit seinem utopischen Potenzial den Zustand des Systems, das Brosda als Politiker repräsentiert, infrage stellt. Dass er sich darauf einlässt und daran Spaß hat, zeigt seine Offenheit und erklärt vermutlich auch seine Beliebtheit in der Hansestadt. Er könne als Politiker nur über die Möglichkeiten und die Relevanz der Kultur reden und schreiben, so Brosda. „Das ist aber nicht so emotional erfahrbar, wie das aus der Kunst heraus vielleicht auch gehen kann. Und das dann dazuzuholen und zu gucken, was dann passiert, finde ich hochspannend. Auch wenn ich in der Dimension der Dilettant dabei bleibe, dann müssen halt andere die Professionalität reinbringen.“

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