Chronist des Sündenbabel

Die Memoiren "Von Chicago nach Hollywood" des genialen Reporters und Drehbuchautors Ben Hecht werden neu aufgelegt.

Im Jahr 1975 war ich beim „Spiegel“, und so durfte ich Billy Wilders „Front Page“ (auf deutsch: „Extrablatt“) rezensieren, seine Version der unverwüstlichen und ultimativen Journalisten-Komödie Ben Hechts, einen satirischen Spiegel der Gangster und Alkohol-Schmuggler-Welt Chicagos, in der es korrupte Politiker und hemmungslose Journalisten gab, die Welt des Jazz, der Kaschemmen und Kneipen und der Slums, der Emporkömmlinge und Abstürzenden im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts. Es war eine Blütezeit der Trash- und Subkultur, und ihr skrupellos hellsichtiger Chronist war Ben Hecht.

Ich liebte den prallen und lauten Zynismus der knalligen Burleske (der die Zeichen der Wahrheit auf seiner Stirn trug). Und ich liebte Billy Wilder – schon seit „Some Like It Hot“, der aus dem blutigen Valentins-Massaker unter Chicagoer Gangstern eine wirbelnde Fummel-Komödie um die hinreißend naive Marilyn Monroe und des Musiker-Paars Jack Lemmon und Tony Curtis gemacht hatte.

Und so war ich fest entschlossen, auch seine Version von Ben Hechts Journalisten-Paar mit Lemmon und Walter Matthau zu lieben, die damals als zu laut und zu grell verschrien war und die auch floppte. Es ist die Geschichte von Chefredakteur Matthau, der seinem Reporter Lemmon die Ehe und damit die Flucht in die Wohlanständigkeit versaut, um den instinktsicheren Spürhund für seine Zeitung zu behalten. Sicher, Lemmon war 1974 für den verhinderten Honey mooner etwas zu bejahrt, aber die Anspielungen auf die Watergate-Affäre haben sich gehalten. Zynische Wahrheiten überleben den launischen Zeitgeist.

Doch wusste ich noch lange nicht, dass Wilder ähnlich wie der zwölf Jahre ältere Ben Hecht über den Umweg des Boulevards und gehobenen Revolverjournalismus‘ nach Hollywood gelangt war, wo beide eine Zeitlang zu den erfolgreichsten und bestverdienenden Drehbuchautoren gehörten. Ben Hecht machte seinen Weg über Chicago, er arbeitete 15 Jahre für das „Chicago Daily Journal“. Er war als 16-Jähriger von zu Hause abgehauen, sein Onkel brachte

ihn durch Vetternwirtschaft bei der Zeitung unter. Billy Wilder brachte es in Wien zur „Stunde“, weil er deren Chefredakteur Liebstöckel nach Dienstschluss auf dem Sofa mit seiner Sekretärin überraschte – als Journalist also zur rechten Zeit am rechten Ort. Später, bei der „B.Z.“ in Berlin, schrieb er eine Reportage als Eintänzer im „Hotel Eden“, und sein erstes Filmdrehbuch will er als Untermieter durch sexuelle Erpressung ergattert haben – als sich ein Stummfilm-Mogul vor dem eifersüchtigen Liebhaber seiner Freundin des Nachts in Wilders Zimmer flüchtete.

Wilders wie Hechts Journalisten- Leben, in denen sie mit Shakespearschem Witz und Pfiff durch das Unterholz der Großstädte stromerten, immer dem geilsten Foto und der sensationellsten Story auf den Hacken, bestehen aus Geschichten, die drehbuchreif sind. Beide mussten Bilder aus den Familienalben von Selbstmördern, Mördern und Bankrotteuren beschaffen.

Bei Ben Hecht geht es beispielsweise um Bilder des verheirateten Pfarrers, der mit seiner 17-jährigen Geliebten Selbstmord begeht. Er bringt eine stadtbekannte Hure als rumänische Prinzessin, die aus romantischer Liebe ein Vermögen verschmäht, auf die Titelseite, was natürlich auffliegt – es ist die schöne Variante der Journalistenregel über die Falschmeldung: „Was ist das Schlimme an einer Falschmeldung? Man hat sie exklusiv.“ Und die Berichtigung hat man auch exklusiv.

Hecht schreibt, dass er in Chicago „wie die Made im Speck“ gelebt habe und dass er in zwölf Berufsjahren den Schwur, „ein ehrlicher Zeitungsmann“ zu sein, gehalten habe – „so gut ich konnte“. Als er die Verhaftung eines Zahnarztes reportierte, der eine Patientin vergewaltigt hatte, hieß die Titelzeile: „Er füllte das falsche Loch.“ Feinsinn, Pietät und Takt sind nicht die gefragtesten Tugenden in der rauen Welt Chicagos, in der Ben Hecht 17 Menschen beim Besteigen des Galgens beobachtet hat.

Einmal, im bitterkalten Winter, beschaffte er ein Foto bei Hinterbliebenen, indem er den Schornstein ihres Hauses mit Schnee zuschaufelte. Als die armen Leute hustend und prustend aus ihrer verrauchten Bude auf die Straße stürzten, stieg er in den Qualm und klaute die geschwünschten Bilder. Alles so wahr und echt wie in Chicagos Glanzzeiten. Damals! Damals? Noch nach Obamas Wahlsieg und Umzug nach Washington sollte sein Senatorenposten von den Demokraten seiner Heimatstadt meistbietend verscherbelt werden.

Billy Wilder schreckt in seiner „Front Page“-Version nicht vor der politisch unkorrekten Verarschung eines schwulen Journalisten zurück: Er lässt ihn mit einer rosaroten Klorolle auf der Toilette verschwinden. Und er baut die Klamotte eines total meschuggenen Psychoanalytikers ein. Späte Rache. Wilder sollte eines Tages Sigmund Freud zur Wahl Mussolinis interviewen. Wilder klingelte und störte Freud beim Mittagessen. Der erschien, die Serviette um den Hals, an der Wohnungstür und sagte, kaum dass Wilder einen kurzen Blick auf Freuds berühmte Couch werfen konnte, mit warnendem Zeigefinger: „Da ist die Tür!“

Ben Hechts Erinnerungen, die Balzacsche Tiefe und Hogarths scharfen Witz in unendlich leicht wirkenden Geschichten vereinen, handeln von Banken-Crashs und privaten Pleiten vom Format der Lehman-Brothers-Tragödie. In einem feinen Restaurant bewirtet einer der erfolgreichen Neureichen alle Gäste, lädt sie zu Essen und Trinken ein – um sich dann aus dem Fenster des Wolkenkratzer-Restaurants zu stürzen.

Ben Hecht wurde später, wie gesagt, zum bestbezahlten Drehbuchautor Hollywoods, der für die Regisseure Alfred Hitchcock, Howard Hawks und Michael Curtiz arbeitete, obwohl er die Traumfabrik hasste. New York verließ er nur, um zum Drehbuchschreiben mit seinem gesamten Ostküstenhaushalt in Hollywood einzufallen (drei Hausmädchen, Chauffeur, Masseur, sämtliche Lieblingsmöbel). Die bigotte Scheinwelt aus ahnungslosen Agenten und rücksichtslosen Film-Moguln, die ein wildes Monopoly und Tingeltangel hinter einem Schleier schlüpfriger Scheinmoral aufrecht erhalten, beschreibt Hecht anhand der Posse um die neunjährige Drehbuchautorin Daisy Marcher. Aus Groschenheften schreibt sie ein Skript, das einen Tycoon erreicht und zu Tränen rührt. Er wittert ein Millionengeschäft. Das Skript heißt: „Eine sündhafte Frau“. Der Tycoon vermeint, in die Abgründe einer weiblichen Seele zu blicken.

Der Agent aber versteckt die Kleine. Und der hinzugezogene Profi-Autor schreibt um und um und wieder um. „Der neue Schluss, den ich für unseren Film geschrieben hatte, erforderte nun einen neuen Anfang.“

Ist die Geschichte nun wah r? Sie sie so wahr wie die Geschichte Malvolios in Shakespeares „Was Ihr wollt“.

Ben Hecht kehrte Hollywood in der McCarthy-Ära den Rücken. Schon früher setzte der Zionist all sein Geld und all seinen Ruhm ein, um Englands anti-jüdische Politik in Palästina zu brandmarken und zu entlarven. Ausgewählte Episoden aus seiner Zeitungs- und Film-Zeit erscheinen nun in dem neu aufgelegten Band „Von Chicago nach Hollywood“ (Berenberg Verlag).

Auch erhältlich sind Hechts Erinnerungen an das Deutschland des Jahres 1919. Er erlebte die „Revolution im Wasserglas“: draußen das Chaos, Straßenkämpfe, Demonstrationen; drinnen, im Hotel Adlon, ein katzbuckelnder Kellner in einer rotplüschigen Luxuswelt mit Champagner und Kokain, schwulen Offizieren und frivolen Spielchen. Schein und Sein konnte Hecht aufspüren wie kein Zweiter.

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