CUS – Pop und Soziologie – von Elvis bis Ice T.

München, Hauptbahnhof. Greil Marcus, Gelehrtenkopf, kurzgeschnittenes, eisgraues Haar, Hornbrille mit dicken Gläsern, Sakko und Jeans, unauffällig, 52 Jahre alt, kauft die „Herald Tribüne“ und kippt am Kiosk einen Morgenkaffee runter. Neben ihm Rainer Langhans, „Ex-Kommunarde“, äußerlich das Gegenteil: wieder lange Locken, Nickelbrille, wehendes Weiß. Wir vier Frauen (Jutta Winkelmann, Anna Werner, Gisela Getty, Christa Ritter, der „Harem“ von Langhans) interessieren uns per Videokamera für den Rock’n’Roll-Professon Wir hatten „Lipstick Traces“ von Greil Marcus gelesen: über die Situationisten in den Fünfzigern, über Punk. Langhans hatte sein Thema: die Auflösung der Körperpanzer nach dem 2 Weltkrieg, das „Weibliche“. Was würde der Rock-Papst dazu sagen? Wir stiegen in den ICE nach Stuttgart Von dort aus würde Marcus zu einer Lesung nach Frankfurt fahren. Mystery Train. LANGHANS: (zieht erstmal die bequemen Earth Shoes aus) Alle wissen, was Rock’n ‚Roll ist wir nicht.

MARCUS: (sitzt ihm gegenüber am Zugfenster) Rock’n’Roll ist Musik. Er entsteht daraus, daß sich Jugendliche, Teenager zum erstenmal selbst ab Gruppe mit einer eigenen moralischen Legitimation wahrnehmen. Anders gesagt: Teenager sind nicht einfach nur Menschen, die noch nicht erwachsen, aber auch keine Kinder mehr sind. Das wird zu einem Lebensabschnitt mit einer eigenen Autonomie, und zu einem Lebensabschnitt, der als Utopie wahrgenommen wird, als Zustand, den man nie wieder verlassen möchte. Ich glaube, das beginnt eine Ahnung zu werden, kein Gedanke, sondern eine Ahnung. Gleich nach dem Krieg, auf jeden Fall bis 1948, gibt es lauter Kinder, die ohne Vater aufwachsen, und in mancherlei Hinsicht ohne Mutter im traditionellen Sinne. Das war auch in Amerika so kraß? Nicht nur in Europa? Daß das so viele waren, wußte ich nicht..

viele Mütter in Fabriken oder beim Roten Kreuz arbeiten. Sie wachsen unbeaufsichtigter au£ Gleich nach dem Krieg gab es alle möglichen Gruppen von Heranwachsenden, die sich selbst als Kulte oder Stämme verstanden – seien es die Motorrad-Gangs in den USA, seien es die Edwardians oder die Teddy Boys in England. Leute aus der Unterschicht, die totschicke Klamotten anziehen, die gegen die herkömmlichen Klassengrenzen verstoßen. SCHAFFNER: Guten Morgen, bitte die Fahrkarten.

Überall gibt es Leute, die sagen; „Das Leben ist nicht bedeutungslos, es ist nicht purer Existentialismus“, die Leute sind auf der Suche, auf der Suche nach Identität, auf der Suche nach Spaß.

Nach dem Krieg, da wird auch die Musik anders, körperlicher….

Der Trend in der Nachkriegsmusik, leidenschaftlicher zu sein, weniger professionell zu sein, ausgelassener zu sein, findet bei Weißen und bei Schwarzen sofort großen Anklang. Anfang der Fünfziger fangen sogar die Musiker an, von einer neuen Musik zu sprechen; da tut sich etwas, wir müssen einen Namen dafür finden. Und 1952 kündigt ein weißer Diskjockey, Alan Freed, in Cleveland die erste Rock’n’Roll-Tänzparty an, und er hat eine Menge Bands, die Mustk mit einem starkem Beat machen. Sie ist roher als Jazz, viel roher als Blues, sie hat dumme Texte und die

Künstler werden ermutigt, sich auf der Bühne so wild und unkontrolliert wie möglich zu geben.

Alles wurde jünger?

Exakt. Freed veranstaltet also diese Tanzparty auf einer Eisbahn in Cleveland, und es kamen fünfmal mehr Leute, als Platz war – ausnahmslos Schwarze – und das Resultat ist eine Orgie. Eine riesige Orgie! Für die meisten ist dies der offizielle Beginn des Rock’n’Roll. Plötzlich realisiert man, wieviele Leute auf etwas Neues, Mitreißendes warteten, etwas Kraftvolles.Wohin man nach 1952 in den USA auch blickt: Überall sieht man seltsame Phänomene – Leute, die zu laut singen, Leute, die sich mit übertriebenen Gesten bewegen, Leute, die dumme Texte singen…

Mehr Körpersprache, mehr Bauch…

Anstatt als Performer durch seine Gesten zu vermitteln, daß das Leben ruhig und geregelt und vorhersagbar ist, suggeriert man, daß das Leben völlig unkontrollierbar und unsicher ist, daß man tun kann, was man will. Dadurch werden die Gebärden ausdrucksstärker, direkter und spontanen Ich glaube, die große Befreiung des Körpers kommt mit Elvis. Es gibt bekanntlich verschiedene Meinungen darüber, ob Elvis einfach nachahmte, was schwarze Performer seit vielen Jahren gemacht hatten, und nur die Tatsache, daß man noch nie einen Weißen sich so hatte bewegen sehen, so schockierend war. Oder ob er sich tatsächlich mit einer Eleganz und einer den ganzen Körper durchdringenden Geilheit, einer von Kopf bis Fuß reichenden polymorphen Verderbtheit bewegte, die individuell und subjektiv war und nichts mit der Rasse zu tun hatte. Die einzigen, die das wirklich beurteilen können, sind Schwarze, und die sind sich nicht einig.

Also hat er’s nun von ihnen – oder woher?

Elvis ist ein seltsamer Kerl. Er ist seltsam in der High School, er ist seltsam in Memphis. Viele Leute meinen, daß er nicht ganz weiß ist Auf jeden Fall ist sein familiärer Hintergrund reichlich verworren. Er hat mit Sicherheit indianische Vorfahren, er hat möglicherweise jüdische Vorfahren. Ein ungewöhnlicher Typ. Er ist attraktiv, aber attraktiv in einer sexuell zweideutigen Weise. Als Teenager beginnt er, die Dinge zu tun, die Teenager Ende der vierziger Jahre zu tun beginnen. Er versucht, sich eine eigene Identität aufzubauen. Und das ist ein, kulturell gesehen, vollkommen neuer Gedanke, daß sich Teenager, Menschen, die 15,16,17,18 Jahre alt sind, ihre eigene Identität aufbauen, und nicht einfach wie ihre Eltern werden. Selbst wenn sie letztlich wie ihre Eltern werden, ist die Vorstellung neu, daß es so eine Art Freiraum von ein paar Jahren gibt, mit dem man rummachen kann, in dem man mit Identitäten experimentieren kann.

Elvis fangt also als Kid an, sich in der Beale Street herumzutreiben, das ist das Herz des schwarzen Memphis. Er geht in einen Laden namens Lansky’s. Das ist ein Klamottenladen, der Klamotten an Musiker und Schwule verkauft ausschließlich Schwarze. Es gibt dort die verrücktesten Sachen: gelbe Anzüge, pinkfärbene Anzüge, pinkfarbene und gelbe Anzüge, mit sehr langen Jacken oder sehr weiten Hosen. Er fangt an, sich Klamotten zu kaufen.

Woher hat er das? Das kam doch nicht von seiner Mutter?

Elvis hatte ein ausgeprägtes Gespür für seine Andersartigkeit, was dazu hätte fuhren können, sich völlig zurückzuziehen und später zum Massenmörder zu werden, aber in diesem Fall führte es dazu, daß er sich, öffentlich darstellen wollte. Er wollte, daß die Leute ihn sehen und hören. Deshalb fangt er an, seltsame Klamotten anzuziehen. Er geht mit einem Bild von Tony Curtis, das er aus einer Zeitschrift ausgeschnitten hat, in einen Damensalon und sagt: „So möchte ich aussehen“, und die Friseuse steckt ihm Lockenwickler ins Haar« Das machten Männer oder Jungs damals nicht – das machen sie nicht mal heute öffentlich. Für ein Kid ist das eine Bedrohung seiner Sexualität, wenn es mit Lockenwicklern im Haar bei einem Damenfriseur sitzt Aber er möchte ein bestimmtes Aussehen haben, das ist für ihn das Wichtigste.

Er fangt an, sich in schwarzen Musikklubs in Memphis rumzutreiben, was Weiße bis dahin nie, nie getan hatten. Und er geht einfach rein, steht herum und fragt, ob er mit den anderen Musikern spielen darf. Sie sind so schockiert, daß ein Weißer sie so etwas fragt – er könnte auch fragen: „Darf ich bitte mit deiner Frau schlafen“ -, daß sie nicht wissen, wie sie reagieren sollen, also sagen sie Ja“. Und er klettert auf die Bühne, und von Anfang an sagen die Schwarzen: „Der Kerl ist komisch – genau wie alle Weißen.“ Sie sagen nicht: „Oh, das ist einer von uns“ oder: „Er ist uns sympathisch“ oder so etwas, sondern sie fragen: „Was ist das für ein Typ?“ Nicht weil er gut ist, nicht weil er schlecht ist, sondern nur, weil er seltsam ist So fangt Elvis an, öffentlich aufzutreten, er fangt an, sich in einer Weise zu bewegen, mit der wir heute mehr oder weniger vertraut sind. Presley konnte sich mit einem Schaudern bewegen, einem Schütteln, das seinen ganzen Körper durchwanderte. Das war wie ein Zaubertrick.

Selbst heute läuft’s einem kalt den Rücken runter, wenn man die ersten Aufnahmen sieht.

Ein treffender historischer Kommentar stammt von dem Musiker Butch Hancock, einem Texaner. Er unterhielt sich mit einem Schriftsteller namens Michael Ventury über einen Fernsehauftritt von Elvis aus dem Jahre 1956: „Das war der Tanz, den alle vergessen hatten. Das war der Tanz, der so stark war, daß es eine ganze Zivilisation gedauert hatte, ihn zu vergessen, und zehn Sekunden, um sich wieder an ihn zu erinnern.“

Er will damit sagen, daß das ein heidnischer Tanz ist, ein dionysischer Tanz, der in unser aller Erbe schlummert, das ist die Jungianische kulturelle Erinnerung jedes Menschen. Eine ganze Zivilisation hatte aufgebaut werden müssen, um diesen Tanz unter Kontrolle zu bringen und die Erinnerung daran auszulöschen, jeden Ausdruck dafür auszulöschen, egal ob körperlicher Ausdruck oder sprachlicher Ausdruck. Und es reichte aus, daß ein Mensch sich in aller Öffentlichkeit erhob, diesen Tanz begann – und eine riesige Zahl von Leuten sagte sofort: Ja! Natürlich! Ich erinnere mich daran!“

Die alten, vergessenen „Worte“.

Vielleicht kann man Rock’n’Roll noch einfacher mit einem Ausspruch definieren, den Neil bung einmal gemacht hat: „Rock’n’Roll ist unbekümmerte Hemmungslosigkeit, Freiheit ohne Grenzen, ohne Konsequenzen und ohne Ziele“, und er sagte: „Blues und Country waren historisch betrachtet zuerst da, aber sie entstanden eigentlich nur, um den Rock V Roll zu kontrollieren.“ Das ist ein etwas komplizierter Gedanke: Blues und Country sollten sozusagen den Geist des Rock’n’Roll in Schach halten, aber irgendwie bricht der Geist aus, weil Blues und Country selbst zu erfolgreich sind, sie unterdrücken zu stark. Und das Unterdrückte nimmt eine neue, härtere Form an und bricht aus – und plötzlich haben wir den Rock’n’RolL Und er scheint etwas ganz Neues zu sein, aber in Wahrheit ist er sehr, sehr alt Es ist etwas, das immer als gefährlich galt Bei den alten Griechen mußten sie sich heimlich in Olivenwäldchen verziehen, um ihre Orgien abzuhalten. Sie konnten das nicht in der öffendichkeit machen – was heute natürlich selbstverständlich ist Das Gleiche behauptet ja auch Camiue Paglia…

Was ich an ihrem Buch so spannend finde, ist dieser wunderbare Gedanke, daß das Christentum das Heidentum nie besiegt hat, daß für die westliche Gedankenwelt – unsere Gedankenwelt – die Anziehungskraft heidnischer Vorstellungen eindeutig stärker ist als die Anziehungskraft christlicher Ideen; Ideen, die besagen, daß das Leben Opfer bedeutet, daß es Leiden bedeutet, daß es eine Belohnung in der Zukunft gibt, daß wir Kinder der Sünde sind, daß wir unsere Körper und uns selbst verabscheuen müssen, weil wir nicht so gut sind, wie Gott uns haben wollte. Diese Vorstellungen können nicht mit heidnischen Konzepten über das Leben mithalten – es ist Spaß, es ist Befriedigung, Instinkt und Lust.

Es ist“ Urwaldmusik“.

Der Schock, die Erkenntnis kam Mitte der sechziger Jahre, als man allmählich realisierte, daß die Leute da nicht einfach rauswachsen würden, daß dieses Phänomen nicht wieder verschwinden würde, daß die Welt tatsächlich ein wenig anders geworden war. Das war der Schock Mitte der sechziger Jahre, darum ging es damals beim Rock’n’RolL Es war die Musik von Leuten, die schon mit dem Rock’n’Roll aufgewachsen waren und ihn nun selbst machten. Das hatte es zuvor noch nie gegeben, diese Weitergabe einer kulturellen Spaltung von einer Generation auf die nächste. Wodurch sich der Spalt nur noch vergrößerte.

Und in der 68er Generation kulminierte dann diese Spaltung. Das war wohl nicht mehr der übliche¿ Jugendrausch…

Ja, der Jugendliche macht das Radio an und hört, in seinen eigenen schönen Worten, „die sound of another life“. Wenn man die Frage beantworten könnte, wie er dieses andere Leben hört, wenn man diese Frage beantworten könnte, könnte man alle Geheimnisse des Lebens entschlüsseln, weil man verstehen würde, warum etwas, das so banal und leer und abgedroschen klingt, jemanden erreichen kann, ihm wertvoll erscheinen und Identität und Lustgewinn versprechen kann. Und genau das ist geschehen: Wir wissen nicht, wie es geschah, aber wir wissen, daß es geschah.

Vor dieser Rock’n’Roll-Explosion gab es ja bereits die Beatniks. Welche Rolle spielten sie?

Sie wollten vor allem berühmt sein. Meiner Meinung nach haben, mit Ausnahme von Allen Ginsberg, all diese Leute in den Fünfzigern nichts produziert, was irgendeinen Wert hatte. Für mich ist Jack Kerouac einer der am meisten überschätzten Schriftsteller Amerikas, während es bei Allen Ginsberg Momente gab, in denen er mit einer wahrhaftigen und neuen Stimme sprach. Wir haben es hier mit einer Gruppe von Menschen zu tun, die im Grunde genommen alle furchtbar gehemmt waren und – wenn man sie mit jemandem wie Elvis vergleicht – auch ziemlich spießig. Sie gefielen sich darin, ihre Unsicherheit, ihre scheinbare Wichtigkeit und ihren eigenen Mythos zu kultivieren, aber eigentlich war das nur eine Publicity-Masche. Und außerdem war es sehr erwachsen, sehr ernsthaft, und im Rock’n’Roll geht es um etwas völlig anderes, er findet in einer ganz anderen Dimension statt Wie bist Du persönlich denn in diese Rock’n’Roll-Aufbruchsstimmung hineingeraten?

Ich bin nur jemand, der aufmerksam zugesehen hat Ich hatte das Glück, mehrmals zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein, bei entscheidenden historischen Ereignissen. Warum war das wichtig? Die „Free Speech“-Bewegung 1964 in Berkeley zum Beispiel. Ich war da nur einer der Zuhörer. Ich war einer von denen, die an einem lag absolut und kompromißlos überzeugt und am nächsten verwirrt und verunsichert waren – so wie die meisten Leute. Und das ging drei Monate lang so, Tag für Tag, das war ein einschneidendes Ereignis. Und das hat mich wirklich geprägt 1967 beim Altamont-Konzert dabei zu sein, war ebenfalls ein Erlebnis, das mich aufrüttelte, und alle Naivität, die ich noch in mir hatte, wurde durch die Depressivität dieses Ereignisses ausgelöscht Damals war ich Journalist und mußte mich ab Journalist damit beschäftigen. Ich mußte die Angehörigen der Leute, die dort umgekommen waren, interviewen – und das ist unsagbar schwer, wenn man so etwas vorher noch nie gemachthat Und so gab es viele Ereignisse, an denen ich teilgenommen habe, jede Menge gewaltsamer Demonstrationen und wunderbarer Konzerte, und das hat einen gewissen Kernbestand von Erfahrungen geschaffen, zu dem ich jederzeit wie zu einer Goldmine zurückkehren kann; ich kann immer schürfen und etwas Neues finden, das ich vorher nicht wußte. Was ich ablehne, was mich wütend macht, ist die Behauptung, daß das isolierte historische Ereignisse gewesen seien, die sich in künstlichen Jubiläen einordnen lassen, auf die wir dann nostalgisch zurückblicken. Weil diese Ereignisse für mich noch gegenwärtig sind.

Du hast auch über die europäischen Situatonisten geschrieben. Waren sie unsere Beatniks?

Was mir bei den Situationisten schon immer gefiel, von Anfang an, war diese leidenschaftliche Vehemenz: „Wie können wir das, was wir zu sagen haben, so schnell und so wirkungsvoll wie möglich vermitteln?“ – eine Haltung, die mehr mit Pop als mit Literatur zu tun hat Diese Lust am Lärm als solchem.

Also Rock’n’Roll?

Als ich anfing, ihre Sachen zu lesen, fand ich darin dieselbe überschäumende Kraft Diese Leute schienen zu sagen: Wie können wir diese Kraft in Bahnen lenken, ohne sie zu verlieren, wie können wir sie zu einer Waffe machen? Der Instinkt, aus dem Kunst hervorgeht, ist ein magischer Instinkt: Male ein Bild – und es wird passieren. Wir müssen diesen Willen, diese Sehnsucht, diese Lust loslösen von dem Konzept des Kunstwerkes.

Also warfen sie alle Leute heraus, die tatsächlich malten, die Dinge schufen, die man kaufen und verkaufen kann. Sie sagten: Wir müssen diesen Willen, Kunst zu schaffen, die Welt in einem Bild, einem Rahmen einzufangen, von der Kunst trennen und ihn in das Leben überfuhren, damit die Menschen beginnen, mit derselben Zielstrebigkeit zu leben, mit demselben Bück für das Wesentliche und mit demselben Gefühl unbegrenzter Möglichkeiten.

Ein eminent „politischer“ Denkansatz.

Wir brauchen die Welt nicht zu akzeptieren, wie sie ist; wir sind Künstler, auch wenn wir „Kunst“ nicht länger ausüben wollen; wir können uns lossagen von der scheinbaren Realität dieser Welt und eine andere Welt erdenken ohne Entschuldigungen, Vorbereitungen oder Verhandlungen, einfach so. Und genau das taten sie.

Eigentlich post-marxistisch: die Kunst als Hebel Die Familie, die Schule, die Zeitung -die Aura von Legitimität und Beständigkeit, die alle Institutionen umgibt, löst sich auf, wenn man Institutionen wie Kunstwerke betrachtet Wenn du diese Zeitung da als Kunstwerk verstehst, wird dir klar, daß ein System dahintersteckt Oder nimm die Institution der Ehe: Wenn du sie als etwas betrachtest, das bestimmte Zwecke erfüllen soll, wirst du irgendwann herausfinden, was für Zwecke das sind, und du wirst versuchen zu verstehen, wie sie funktionieren. Wenn du Dinge aus dieser Perspektive siehst, erkennst du, daß du sie ändern kannst Sie sind weder natürlich noch gottgegeben. Sie sind eigentlich nichts als Lügen. Sie geben vor, etwas zu sein, das sie in Wirklichkeit nicht sind.

Ist der Vietnam-Krieg mit Rock’n’Roll verloren worden?

Das ist eine Frage, mit der sich noch keiner so richtig beschäftigt hat Man müßte sie sowohl aus Sicht der Amerikaner wie aus Sicht der Europäer betrachten – und aus vietnamesischer Sicht natürlich, weil Rock’n’Roll für beide eine wichtige Rolle spielte. In Amerika waren es nicht so sehr die

Protestsongs, die der Antikriegsbewegung entscheidende Impulse gaben, sondern es war Popmusik im allgemeinen, weil durch sie eine ganze Generation zu einer gemeinsamen Identität fand und zu der Erkenntnis: Wir sind verwundbar, wir müssen diesen Krieg beenden oder wir werden alle von ihm verschluckt. Außerdem diente Pop als Vehikel für alle möglichen Botschaften, verbreitete Werte und Zielsetzungen, die mit den Wertvorstellungen derer, die für den Krieg waren, kollidierten.

Die Antikriegsbewegung hat zweifellos viel dazu beigetragen, den Krieg zu beenden. Welchen Einfluß Rock’n’Roll dabei hatte, ist weniger klar. In manchen Fällen hat er den Soldaten wohl tatsächlich beim Kämpfen geholfen. Es war ihre Musik Sie zogen an die Front mit Songs von Jimi Hendrix und den Doors und Otis Redding und Aretha Franklin auf den Lippen. Die Musik gab ihnen Stärke und Entschlossenheit Oder sie rief das Gefühl hervor: Was soll’s, wenn ich heute sterbe, verabschiede ich mich mit Jim Morrison. Andererseits wurde die Kampfkraft der Soldaten im Krieg gegen den Vietkong durch Rock’n’Roll und Drogen natürlich auch unterminiert.

(Aus dem Lautsprecher: Meine Damen und Herren. In wenigen Minuten erreichen wir Ulm-Hauptbahnhof.) Rock’n’Roll in Vietnam und Rechts-Rock wo sind da die Parallelen?

Kunst repräsentiert eine subjektive Art zu leben und zu kommunizieren. Wenn deine Musik wirklich lebt, wenn das Element der Überraschung und des Zufalls, das dich von einer Note zur nächsten trägt – wenn du in dieser Weise offen für Musik bist, dann wird es dir große Schwierigkeiten bereiten, die Objektivität zu wahren, die nötig ist, um eine Band für bestimmte politische Zwecke einzusetzen. Kunst beinhaltet immer ein gewisses Maß an Zweifel und Unsicherheit und Instabilität; das liegt in der Natur der Sache. Was immer mit diesem rassistischen Rock aus der rechten Ecke passiert: Wenn er sich weiterentwickelt, wird er dort nicht stehenbleiben – aber wahrscheinlich wird er sich gar nicht weiterentwickeln. Die „Oi“-Bands, diese faschistischen Skinhead-Bands, die es Ende der Siebziger gab, verschwanden praktisch über Nacht, weil sie nichts anderes konnten als JBumm bumm bumm, wir hassen Schwarze, bumm bumm bumm, wir hassen Pakis“. Sehr bald wäre daraus nämlich etwas anderes geworden: „Bumm bumm bumm, was sind Pakis? Bumm bumm bumm, was sind Schwarze?“ Die scheinbar objektive Beschreibung einer Situation hat meist keinen Bestand.

Warum passierte Punk – und was war der Unterschied zum Rock’n’Roll?

Da gibt es einen großen Unterschied, aber das ist auch eine große Frage – die Frage, um die es in meinem Buch JJpstick Traces“ geht Die Wut in Johnny Rottens Stimme kam nicht vom Rock ’n‘ Roll. Es gab dafür keine Entsprechung bei Chuck Berry oder Bob Dylan oder den Rolling Stones. Ich hatte so etwas noch nie gehört, ich wußte nicht, woher es kam oder was es bedeuten sollte. Ich suchte im gesamten 20. Jahrhundert nach Analogien, und ich fand sie bei Dada, den Situationisten und überall dort, wo Menschen alles taten, um ihre persönlichen Schutzmauern einzureißen und die Akzeptanz einer Welt, die von den meisten einfach hingenommen wird, in Frage zu stellen. Alle Brücken hinter sich abzubrechen und mit einer Stimme zu sprechen, die voller Zorn und Wut ist Diese Stimme wird sehr schnell zu etwas, aus dem sich Befriedigung und Freude schöpfen lassen.

Ich könnte soziologische Erklärungen dafür geben, die sich andere ausgedacht haben, und diese Erklärungen sind sicherlich wichtig, aber es scheint fast so, als nähme diese Sache ganz einfach ihren Anfang, sobald jemand sagt: Was wäre, wenn wir die Realität dieser Welt nicht zu akzeptieren brauchten? Was wäre, wenn ein einziger Schrei genügte, um die Aura der Legitimität, die all diese Institutionen umgibt, zu zerstören? Versuchen wir’s. Und plötzlich hört man diesen Schrei, andere stimmen ein – und tatsächlich, die Aura scheint zu bröckeln.

Das ist eine sehr radikale, sehr avantgardistische, sehr modernistische Vorstellung dessen, was Kunst, Leben und Aktion bedeuten; in mancherlei Hinsicht viel ehrgeiziger, viel extremer als Rock’n’RolL Deshalb habe ich Punk und die Sex Pistols schließlich in einer außermusikalischen Tradition wiederentdeckt Es ist wichtiger, eine Stimme zu finden, mit der sich die Welt verändern läßt, als eine, die nur zum Vergnügen aufruft (Zwei alte Damen mit Koffern: Entschuldigung. Sind das wirklich Ihre Plätze? Wir haben nämlich eine Reservierung….“) Aber geht es nicht beim Punk um die gleiche Ekstase wie beim Rock’n’Roll?

Sicher, Punk ist eine Spielart des Rock n RolL Aber Punk ist auch etwas anderes. Natürlich hat beides mit Ekstase zu tun. Wenn man ein Manifest gegen etwas entwirft und völlig darin aufgeht, ist das auch Ekstase. Es gibt eine schöpferische Ekstase, die völlig unabhängig ist von dem, was denn da geschaffen wird.

Die Welt verändern statt Spaß haben – ist das nicht ein Phänomen, das man heute im Rap findet?

Nein, Rap hat für mich nichts Ekstatisches. Rap ist eine sehr kontrollierte Musik. Rap ist cool, geprägt durch Selbstbeherrschung. Der Sänger oder Rapper muß beweisen, daß er alles unter Kontrolle hat Diejenigen Rap-Songs, in denen Zweifel ausgedrückt werden, in denen der Sänger sagt: „Ich weiß nicht, was los ist, ich habe keine Kontrolle über mein Leben“ – das sind Songs, die dem Hörer tatsächlich ein wenig von diesem Gefühl der Freiheit, diesem Gefühl der Ernüchterung und der Losgelöstheit vermitteln. In Songs wie „The Message“ von Grandmaster Flash oder „Mind Playing Tricks On Me“ von den Geto Boys geht es um Zweifel und Unsicherheit, sie fließen, sind in Bewegung. Die meisten Rapper verurteilen das; für sie ist Rap gleichbedeutend mit Beherrschtheit und Überlegenheit Und das paßt mit der Vorstellung von Ekstase und Befreiung einfach nicht zuWas Rap am Leben erhalten hat, ist die Tatsache, daß er trotz aller Beherrschtheit und trotz des so ostentativ zur Schau gestellten Selbstbewußtseins etwas Zügelloses hat, ein Element der Überraschung und des unvermittelten Kontrastes in der Musik, der Instrumentierung, der Orchestrierung. Eindimensional ist er ganz sicher nicht Aber die Stimme, die man hört, die Person, die zu dir spricht, sagt immerzu: „Ich weiß, wovon ich rede“, selbst wenn das, was drumherum passiert, eher auf das Gegenteil hinweist Ich höre diese Ekstase, die du meinst, in „The Message“ von Grandmaster Flash, weil der Sänger an dem Punkt, an dem er versucht, dieses Gefühl der Verunsicherung zu vermitteln, eine ganz eigene Dynamik entwickelt Diese Dynamik findest du auch bei den Geto Boys, aber nicht bei Public Enemy, nicht bei Ice T und auch nicht bei den meisten anderen Rappern.

Hast Du dafür ein persönliches Beispiel?

Du arbeitest in einer begrenzten Form, mit einem bestimmten Instrument, einer begrenzten Spieltechnik. Als Bob Dylan und The Band 1965 in der Royal Albert Hall ein Live-Album aufnahmen, gab es einen Augenblick in „Highway 61 Revisited“, in Robbie Robertsons Gitarrensolo, als er plötzlich aus dem Song herauszuspringen scheint und eine Art Leere hinterläßt Natürlich spielt er immer noch, aber trotz des Krachs scheint irgendwie Stille zu herrschen. Ein merkwürdiger, elektrisierender Moment Er schöpft aus dem Moment heraus?

Robbie Robertson ist ein Freund von mir, also rief ich ihn an und sagte: „Robbie, erinnerst du dich an diese Stelle in »Highway 61′, gleich nach der dritten Strophe?“, und er sagte: „Klar!“

Es überraschte mich ein bißchen, daß er genau wußte, wovon ich sprach. Ich fragte: „Was ist damals passiert?“ Er sagte: „Ich geriet in Panik, wußte auf einmal nicht mehr, wie es weiterging, und mußte improvisieren, einfach irgendwie weitermachen.“ Das bedeutet also, innerhalb dieser Form, innerhalb dieses eng gesteckten Rahmens du mußt schließlich den Song weiterspielen kann alles passieren.

Für manche Musiker ist dies das einzige, was zählt, worauf sie hoffen und warten. Sonic buth zum Beispiel wurden, wenn man so will, nur deswegen gegründet, um solche Momente möglich zu machen, um eine Musik zu spielen, die immer so kurz vor der Auflösung steht, daß diese Momente zur Regel werden.

Woher stammen eigentlich die Titel Deiner Bücher?

„Lipstick Traces“ ist der Titel eines alten Songs von Allan Toussaint, den Benny Spellman, ein Rhythm 8C Blues-Sänger aus New Orleans, gesungen hat Toussaint hat dieses Bild von den Lippenstiftspuren wahrscheinlich aus dem Song „These Foolish Things (Remind Me Of You)“ geklaut. In Benny Spellmans Version heißt es ungefähr: „Lipstick traces on a cigarette / The memory of you in years to come yet“ Diese Zeile fiel mir urplötzlich ein, als ich nach einem Titel für mein Buch suchte.

(Bayern München-Fans trampeln grölend durch den Gang: „Hallo, da sind wir wieder!“) (Verzieht sein Gesicht) Es geht in dem Buch viel um kulturelle Strömungen und Ereignisse, die kaum Spuren hinterlassen haben, die niemals Teil der „offiziellen“ Geschichte wurden und an die nicht mit Gedenktafeln erinnert wird. Wie gesagt, sie haben kaum eine Spur hinterlassen, aber es kommt mir trotzdem vor; als hätten sie unsere Vorstellung von Freiheit und Unfreiheit außerordentlich stark beeinflußt Sie sind ein wichtiger Teil unserer Welt und doch kaum wahrnehmbar. Und gleichzeitig besitzen sie etwas, das irgendwie sexy ist, etwas Unwiderstehliches, Glamouröses™ „Mystery Train“ war ursprünglich nur der Titel des allerletzten Teils dieses Buchs, des Kapitels über Elvis. Und ich dachte: So muß das Buch heißen, weil Rock’n’Roll irgendwie einem Zug ähnelt, der durch die amerikanische Erfahrung, die amerikanische Seele rollt. Wie er sich in Bewegung gesetzt hat und wo er ankommen wird, ist ein Geheimnis.

Wie die ersten Pioniere.

Das ist ein interessanter Gedanke. Mir wird gerade zum ersten Mal klar, daß der „Mystery Train“ in meinem Buch nach Osten und Süden fahrt Ein düsterer Zug. Ein Zug, der geradewegs ins Unbewußte fährt Eine Rückkehr. Eine Rückentwicklung. Jedenfalls ist der Ort, an den er dich bringt, kein guten Welche fünf Songs würdest Du auf die sattsam bekannte einsame Insel mitnehmen?

In diesem Augenblick? Ich würde „Split“ von Liliput mitnehmen, einer Frauen-Punkband aus Zürich. Die Platte stammt von 1981 und ist letztes Jahr wiederveröffentlicht worden. Dann würde ich „Come On In My Kitchen“ von Robert Johnson nehmen, aufgenommen 1936, weil es eines der unheimlichsten und schönsten Stücke Musik ist, die ich kenne, und weil eine Stille darin liegt, eine Ruhe, die dich jede Art von Konfusion vergessen augenblicklich läßt Dann würde ich „Complete Control“ von den Qash nehmen, weil es der explosivste Rocksong ist, den ich kenne, und weil ich dabei jedesmal denke: „Ich kann einfach nicht glauben, daß Leute solche Sounds hervorbringen können. Das muß ein Trick sein, ich hör’s besser nochmaL“

Dann würde ich „Like A Rolling Stone“ von Dylan nehmen, weil ich auch nach 29 Jahren noch nicht genug davon habe. Und schließlich würde ich Dylans Album „GoodAsI’veBeen Tb Y&u“vom letzten Jahr von vorne bis hinten spielen, weil ich noch nicht dahintergekommen bin, was es bedeutet und dann etwas zu schreiben hätte.

Sind die Beatles überschätzt worden?

Nein, aber ich glaube, daß die Musik der Beatles etwas Vergängliches an sich hat Sie kommt und geht Übergangsmusik. Irgendwie scheint sie nicht bleiben zu wollen. Vielleicht, weil sie damals so oft gespielt worden ist, daß nicht mehr viel davon übrig ist Ich weiß es nicht Aber du hast mich nach fünf Titeln gefragt – fünf von hunderttausend oder mehr, und wenn du mich eine Stunde später fragen würdest, würde ich fünf andere Stücke wählen.

Was ist eigentlich mit den Frauen im Rock’n‘ Roll? Oder ist Rock immanent eine männliche Ausdrucksform?

Nein, ein männlicher Rockmusiker ist immer androgyner, besitzt immer mehr weibliche Facetten als ein männlicher Politiker, Industriemagnat, General oder all diese maskulinen Vaterfiguren. Ganz gleich, wie stark Rock’n’Roll von Männern dominiert wird und ganz gleich, wie die Statistiken über das Verhältnis von Rockstars zu Groupies aussehen – Rock ist sexuell vielschichtiger als die meisten anderen Bereiche gesellschaftlichen Lebens.

Punk hat den Rock’n’Roll sicher insofern verändert, daß er Frauen ein größeres Betätigungsfeld geöffnet hat Auf einmal war es nichts Besonderes mehr, eine Frau als Bandleader auf der Bühne zu sehen. Aber diese Entwicklung war ebenso schnell wieder zu Ende, und die Frauen verschwanden aus den Bands oder wurden in ein Avantgarde-Pop-Ghetto abgedrängt Mittlerweile ändert sich das wieder, glaube ich.

Aber Tatsache ist, daß die Stellung der Frau in der Popmusik nicht einmal diskutiert wurde, bevor Punk auf der Bildfläche auftauchte. Heute stellen die Leute wenigstens den Status Quo in Frage, beschäftigen sich mit dem Thema. Vorher gehörten Frauen grundsätzlich ins Kuriositäten-Kabinett oder mußten sich mit den Prä-Rock’n’Roll-Stereotypen zufriedengeben: die leidende Blues-Sängerin oder die Pop-Chanteuse, die ständig versichert, wie sehr sie ihr Publikum liebt Magst Du Sinead O’Connor?

Ich liebe Sinead O’Connor. Ich rechne allerdings auch damit, daß sie eines Tages Dinge sagen wird, die mich zur Weißglut bringen werden. Dafür ist sie nämlich da -um Unruhe zu stiften. Wenn sie etwas tut, mit dem ich mich identifizieren kann – wenn sie zum Beispiel auf der Bühne das Bild des Papstes zerreißt – sage ich: „Gut!“

Ich weiß gleichzeitig aber auch, daß Sinead O’Connor nur ihre eigene Meinung vertritt, und die ist nicht immer identisch mit meiner.

Aber bisher hat sie mich noch nicht wütend gemacht Sie ist eine großartige Sängerin und eine mutige Person. Und sie ist anders, sie läßt sich mit niemandem vergleichen.

Aber ich glaube, wir sollten das Gespräch jetzt besser beenden. Ich beginne, allzu persönlich zu werden. Ich spreche ja ständig mit Nachrichtenmedien, wobei ich festgestellt habe, daß – wenn man etwas wirklich Banales und Offensichtliches sagt – genau das und nur das von ihnen verwendet wird.

Deshalb muß man in solchen Situationen sehr darauf achten, nur provokative oder zugespitzte Kommentare zu geben, damit sie die zitieren müssen. Wenn man ihnen hingegen so etwas sagt wie: , Ja, die Beatles waren wirklich die Musik unserer Generation“ und damit eigentlich nur zu etwas Interessantem überleiten will, dann werden sie genau das verwenden.

Diese Medienleute wollen den Leuten nämlich nur Dinge erzählen, die sie schon längst wissen. Die wollen den Leuten überhaupt keine neuen Ideen, keine neuen Informationen geben, sondern nur bestehende Meinungen zementieren.

Ich hab lange gebraucht, um das zu kapieren. J3

Drew Barrymore kippt ein Bier. Kein alkoholfreies, wohlgemerkt, sondern ein richtiges Pils, zur Feier des Tages. Sie ist in der Laune für ein kleines Gelage. Zum einen wegen ihres Auftrittes in der David Letterman-Show: Zwei Abende zuvor hatte sie während eines heißen kleinen Tanzes auf Lettermans Schreibtisch ihr T-Shirt gelüftet, um dem Showmaster eindrücklich zu demonstrieren, daß sie kein kleines Mädchen mehr ist Mit der Konsequenz, daß heute nachmittag bei ihrem Spaziergang durch New Yotk lüsterne Herren jeden Alters anerkennend den Daumen hoben.

Zu diesem noch immer nachwirkenden Kitzel gesellt sich der erfreuliche Faktor, daß ihre Verbindung mit Eric Erlandson, dem Gitarristen von Hole, heute exakt zehn Monate währt – was für einen Gedenktag allemal reicht Aber es gibt noch einen weiteren, wichtigeren Grund für Friede, Freude, Eierkuchen: Drew Barrymore ist frei. Nach elf Monaten gerichtlichen Gerangeis ist sie seit heute offiziell geschieden – von Jeremy Thomas, einem 32jährigen Barbesitzer, mit dem sie sechs VMxhen lang den heiligen Stand der Ehe teilte. Das Hochgefühl läßt sie jegliche Reserviertheit vergessen. Einmal beginnt sie einen Satz mit: „Mein Ex“, hält dann inne und verbessert: „Verzeihung – der Teufel“ und kichert los. Nicht mit dem weitläufigen Lachen, das sie gelegentlich von sich gibt, um zu signalisieren, daß sie ganz schön rumgekommen ist und allerhand erlebt hat Es ist ein eher kindliches Glucksen, das in ihrem Gegenüber unwillkürlich den inneren Babysitter weckt Ein Teenager lacht so, wenn er was ausgefressen hat – aber Barrymore weiß nur zu gut, daß sie nie ein Teenager war.

Sie setzt die Flasche an, nimmt einen kräftigen Schluck und sagt einen Moment lang nichts – wie um nachzudenken, ob sie irgendein Thema vergessen hat Abstürze und Strip tease, Liebschaften und Scheidung— nee. Wenn das nicht reicht, um selbst die neugierigsten Frager erst mal ruhigzustellen, dann reicht gar nichts.

Sie nimmt noch einen Schluck. „Ich will frei sein“, bilanziert sie. „Nur darum ging’s mir, seit ich klein war, und darum geht’s mir nach wie von“

Wbhl wahr. Drew Barrymore ist 20, aber sie hat schon eine ganze Reihe von Leben hinter sich. Keine KinderstarAnekdoten à la Shirley MacLaine, sondern eher Erlebnisse, wie wir sie von alternden Countrysängern kennen, die in ihren Liedern Saufgelage, Prügeleien und Gefängnisse besingen. In Drews Wörterbuch schreibt sich „Leben“ mit Großbuchstaben. Fettgedruckt!

Man braucht nur die Eckdaten durchzugehen, um auf Kindesmißbrauch zu stoßen, auf ein Jahr in der Alkohol-Klinik, auf Drogenabhängigkeit mit 13, auf einen Selbstmordversuch, auf die gerichtliche Lossagung von ihren Eltern mit 15, auf Ehe und Scheidung, auf Karriere und Schiffbruch.

Barrymore galt in den USA bislang weniger als Schauspielerin denn als gesellschaftliche Ikone – die Verkörperung von Tragödie und Wiedergeburt Inzwischen abep nach diversen, vielbeklatschten Film-Rollen (ihr Techtelmechtel mit Chris O‘ Donneil in JVlad Love“ kommt im Herbst in die deutschen Kinos) sowie einer Rolle im nächsten Batman-Streifen, ist die Schauspielerin Barrymore in aller Munde.

Sie stellt ihr Bier ab, schleudert einen Pfeil auf das Dartboard und bricht in einen Siegestanz aus – eine kleine Göre, die sich auf dem Spielplatz wichtig macht und auf Anerkennung hofft In zwei Minuten jedoch wird sie wie eine abgebrühte alte Hollywood-Diva vom morgendlichen Meeting mit einem mächtigen Produzenten erzählen. Danach wird, genauso abrupt, das Kind zurückkehren.

„Ich bin erwachsen und ein Kind“, erklärt sie. „Beide kommen und gehen. Ich hole heute das Kind nach, weil ich keines war, als ich eines hätte sein sollen. Aber in mancher Hinsicht bin ich eine alte Frau – hab’s erlebt, hab’s gesehen, hab’s getan, war mitten in der Action und hab sogar zur Erinnerung das T-Shirt davon.

Müssen wir nach diesen Worten die Symbolik der folgenden Szene noch erklären? Es ist Nachmittag, und Barrymore sitzt am hintersten Tisch einer dunklen Bar in New Yorks East Village. In ihrer linken Hand hält sie ein Budweiser, in der rechten einen Micky-Maus-Lolli. Das Gespräch dreht sich um Drews Mutter, und in ihren Augen glänzen Tränen.

„Meine Mutti hat mir gerade ein Buch gewidmet Sie hat so eine Art Joy of Sex‘ für die Neunziger geschrieben. Sehr passend.“ Drew ringt sich ein Lachen ab und schiebt den Lolli von einem Mundwinkel in den anderen. „Wir bringen es beide noch nicht fettig, miteinander zu reden, aber daß sie mir dieses Buch widmet, ist ihre Art, ihre Liebe zu zeigen.“

Mutter und Tochter haben seit vier Jahren nicht mehr miteinander gesprochen. Seit zwei Monaten schreiben sie sich immerhin regelmäßig, aber Drews Gefühle sind gemischt Ihre Mutter hat ihr früh Bitterkeit und Zynismus eingeimpft, die auch heute noch nachwirken: „Sie sagte immer, daß man irgendwann von jedem Partner verlassen wird; daß wir alle allein geboren werden und genauso allein sterben. Das hat mein Vertrauen in die Liebe reichlich ruiniert“ Obwohl sie bat, man möge ihre Mutter für diesen Artikel nicht interviewen, glaubt Barrymore doch, daß eine Aussprache in nicht allzu ferner Zukunft stattfinden könnte.

Ganz anders stehen die Dinge, was ihren ‚Vater anlangt Wo er wohnt, weiß sie nicht Was sie jedoch weiß, ist: Er hat in den letzten 40 Jahren kein Paar Schuhe sein eigen genannt, glaubt nicht an Besitz und lebt wie ein Zigeuner. Manchmal stellt er sich konsternierten Passanten mit Bibel-Sprüchen in den Vfeg.

Das war nicht immer so. Bevor ihm Drogen und Alkohol zum Verhängnis wurden, hatte John BarrymoreJnimmerhin Sproß einer der traditionsreichsten Schauspieler-Familien Hollywoods – vielversprechende Erfolge im Film, wenn auch vor Drews Geburt Ihre früheste Erinnerung an ihn geht auf die Zeit zurück, als sie

drei Jahre alt war. Damals schleuderte er sie gegen eine Wand. „Mein Vater war 30 Jahre lang Junkie und Alkoholiker. Nette Kombi, was? Erzeugt ein reichlich beschissenes Erhalten. Und damit klarzukommen, war für mich als Kind nicht leicht. Er war total chaotisch und gewalttätig und beängstigend. Als ich Sieben war, schrieb ich mal auf seine Zigarettenschachtel: ,Fuck you, you’re an asshole‘ – und gab ihm die Zigaretten mit den Worten: .Rauch sie, du motherfuckec‘ Ich warf einen Stuhl nach ihm und verbot ihm, mich je wieder anzufassen. Von da an sprach ich kein Wort mehr mit ihm. Bis ich 14 war.“

Zu diesem Zeitpunkt hatte Drew schon ihre eigenen Probleme. Nachdem sie mit Sieben durch „E.T.“ ins Rampenlicht geraten war, schien die Laufbahn des Kinderstars vorgezeichnet Sie war eine 40jährige im Körper einer Neunjährigen, und sie spielte diese Rolle mit frühreifer Leichtigkeit. Talk-Shows, Drinks, Filmangebote, Kokain. All das in einem Alter, wo andere Mädchen noch Poesiealben vollkritzeln. Aber dann, mit 14, wurde es zuviel.

„Ich hab zwar versucht, mich umzubringen, aber ich wollte nicht wirklich sterben“, sagt Barrymore rückblickend. „Zumindest wollte ich nicht für alle Ewigkeit vom Erdboden verschwinden. Sie fuhren mich ins Krankenhaus und retteten mich, und da mußte ich dann die endgültige Entscheidung treffen. Und die lautete: Ich will leben.“

Das Krankenhaus, in dem sie die darauffolgenden Monate verbrachte, war eine Mischung aus Reha-Klinik und Psychiatrie. Nach der Entlassung wollte sie es alleine packen. Sie unternahm die für eine Trennung von ihren Eltern nötigen Behördengänge, um genauso lange arbeiten zu dürfen wie sonst erst 18jährige. Denn als 15jährige mit Drogenvergangenheit, so fand sie schnell heraus, hat man leicht Probleme mit der Miete.

„Sie ist sehr intelligent und ansprechend, ein durch und durch liebenswertes Wesen“, schwärmt Musiker David Crosby. Er und seine Frau Jan nahmen Barrymore nach ihrer stationären Behandlung ein Jahr lang bei sich auf. „Die Zerstörung dieser Familie durch den Alkohol zieht sich schon durch vier Generationen. Ich hab das miterlebt, und deswegen ist mir das Mädchen sehr nah. Sie ist ein großes Talent, aber sie hat’s wirklich schwer gehabt Dir Vater war eine Katastrophe, und er hat nie einen Versuch unternommen, daran was zu ändern. Und mit der Lebensauffassung ihrer Mutter bin ich überhaupt nicht einverstanden – um es mal vorsichtig auszudrücken. Ich hoffe inständig, daß Drew sich von ihr fernhält Diese Mutter ist der schlechteste Einfluß, den man sich denken kann.“

Ein Glück für Drew Barrymore, daß sie noch mehr solcher Ersatz-Eltern hatte. Steven Spielberg etwa versichert ihr bis heute immer wieder, daß sie seine älteste Tochter sei. „Ohne Menschen wie David und Jan und Steven war ich wahrscheinlich noch viel mehr am Arsch, als ich es ohnehin bin“, resümmiert sie trocken. „Durch sie konnte ich nach und nach den Glauben daran finden, daß es vielleicht doch ein paar Leute gibt, denen man vertrauen kann.“

Sie wird zappelig und setzt zaghaft zu einer Mini-Tirade über Spielberg an, weil der immer nur das kleine Mädchen in ihr sehe. Aber einen Moment später muß sie lächeln und räumt ein, daß ihr das eigentlich sehr gut gefalle. An ihrem letzten Geburtstag ließ Spielberg ein Päckchen in das Restaurant bringen, in dem sie mit Freunden feierte. Das Päckchen enthielt eine Decke und jene Playboy-Ausgabe, in der Barrymore posierte, vorwiegend nackt natürlich. Die beigefügte Karte lautete: „Hier ist meine Vfersion von Dir im Playboy. Und eine Decke, um Dich einzuhüllen.“ Spielbergs Grafik-Spezialisten hatten die Fotos in der Zeitschrift bearbeitet und Drew auf jedem Bild eine computergenerierte Garderobe verpaßt In Fleisch und Blut wirkt Barrymore unerwartet zierlich, wie eine Miniatur-Ausgabe ihrer selbst Sie trägt ultrahippe 70er-Jahre-Klamotten, die ihre Streichholzglieder eng umhüllen, und einen koketten Blick in einem Gesicht, das seit ihrem Auftritt in „E.T.“ um keinen Tag gealtert zu sein scheint Was ihr die seltene Gabe verleiht, ihre Unweit auf zwei höchst gegensätzliche Arten einzuwickeln: einmal mit ihrer Begeisterungsfanigkeit, mit einem unerschöpflichen Vorrat an positiver Energie – zum anderen mit einer kaum verhüllten Traurigkeit, gespeist aus dem Bewußtsein, daß sie allerhand mit sich schleppt und ein wenig Hilfe beim Schleppen ganz gut vertragen kann. Beide Taktiken verwendet sie gleichermaßen, beide mit Erfolg.

Völlig unvermittelt sagt sie: „Ich glaub, an dem lag, an dem ich einen Zeitungsartikel lese, in dem nicht von meiner Vergangenheit die Rede ist, scheiß ich mir in die Hosen. Ich hab mir noch nie in die Hosen geschissen, aber da wird’s passieren.“

Unter den sezierenden Blicken der Medien und der Öffentlichkeit fühle sie sich manchmal „wie in einem Aquarium“, erzählt sie und betont, daß ihre Drogen-Karriere ohne die Schnüffeleien eines ehrgeizigen Reporters nie nach draußen gedrungen wäre. „Fragen Sie irgendjemanden aus der Filmbranche, ob ich jemals einen verdammten Dtehtermin verpaßt habe oder betrunken erschienen bin oder mich unbeherrscht aufgeführt habe. Das ist nie vorgekommen. Sagt das denn nicht auch etwas aus?“

Erst nachdem besagter Reporter seine Story veröffentlicht hatte, habe sie selbst das Wort ergriffen. „Ich mußte die Geschichte klären. Ich mußte mich hinstellen und sagen: ,Gut, ich bring mein verdammtes Leben in Ordnung.‘ Und jetzt geht’s mir gut“ Sie tupft mit den Fingern die Tränen ab, die wieder über ihre Backen kullern, und setzt ihren alierkindlichsten Tonfall ein: „Kann ich nicht einfach mal glücklich sein?“

Mehr ab alles andere scheint es der ständige Kampf zwischen Unabhängigkeit und Schutzbedürftigkeit zu sein, der Drew Barrymore im Kern beschreibt Immer wieder betont sie, daß Freunde Dir die Familie ersetzen. Seit sie 15 war, lebt sie ein extrem unabhängiges Leben; gleichzeitig aber war sie nie längere Zeit ohne Boyfriend – und zu den meisten ihrer Partnerschaften gehörte automatisch die gemeinsame Wohnung. Auch mit Erik Erlandson zog sie zusammen, kaum daß die Beziehung begonnen hatte.

Wobei die übrigens ganz und gar nicht so begann, wie man sich das idealerweise vorstellt – außer, die Idealvorstellung schließt Übelkeit und Erbrechen mit ein. Jedenfalls fand die erste Begegnung vor einem Musikclub in LA statt, wo Barrymore gerade dabei war, ihren Magen von allem zu entleeren, was sie in den vergangenen 24 Stunden zu sich genommen hatte. Plötzlich spürte sie eine Hand auf der Schulten Erlandson hatte die gekrümmte Gestalt bemerkt, die sich da im Hinterhof erleichterte, und hatte gefragt, ob Hilfe erwünscht sei. Der Liebesbote mit dem Pfeil hatte seinen Einsatz allerdings verpaßt.

Auch zwei Wochen später, als Drew von einem Fotografen die falsche Hotelzimmernummer bekommen hatte und irrtümlich an Erlandsons Tür klopfte – wenngleich sich da ein gewisses Knistern bereits zart bemerkbar machte, wie sie gesteht Bei den Dreharbeiten zu „Mad Love“ in Seattle begegneten sie sich dann ein drittes MaL Und diesmal lud Erlandson sie in sein Apartment ein, um naja – Musik zu hören. Der Rest ist Geschichte.

„Ich liebe ihn so sehr“, sagt Barrymore jetzt Und hundert weitere Male danach. „Durch Eric hab ich jetzt auch Familie. Dabei hatte ich gedacht, daß ich nie so etwas wie Familiensinn entwickeln würde, bevor ich nicht selbst Kinder habe.“

Natürlich gibt es noch eine weitere Familie: Erlandson hat Courtney Love im Schlepptau – seine Bandleaderin und selbst eine Art psychologisches Experiment auf zwei Beinen. Fast möchte man Popcorn kaufen, sich zurücklehnen und dem Psychokrieg zuschauen: Während der Proben für den Hole-Auftritt in „MTV Unplugged“ peinigte Courtney ihren Gitarristen mit dem Spruch: „Du bist doch der mit der Freundin auf dem Playboy-Titel.“

Barrymore bemüht sich um Diplomatie. „Wir stehen einander nicht nahe“, sagt sie, „aber das ist doch okay. Wir haben einfach nicht den Drang, Busenfreundinnen zu werden. Aber jede respektiert die Situation der anderen. Es kann einer Frau nichts Entsetzlicheres passieren, als den Mann zu verlieren, den sie liebt Und das läßt mich alles akzeptieren. Ich entschuldige nicht alles, aber ich kann es akzeptieren.“

Ortswechsel. Wir sind in Los Angeles – Stadt ihrer Jugend (oder dessen, was ihre Jugend hätte sein

sollen), Schauplatz ihrer Renaissance, geistiger Sitz ihres Mobiltelefons. Barrymore sticht durch die Gegend, als würde sie ihr gehören. Sie steuert eine Art Monster-Truck; auf dem Armaturenbrett unter der Windschutzscheibe geht eine Armada von Plüschtieren in Deckung. Drew pflügt durch den Verkehr; steigt mitten auf dem Sunset Boulevard heftig in die Eisen, um einen anderen Autofahrer anzupöbeln, und schlingert breit lächelnd weitet Es gibt kein Spiel in dieser Stadt, das sie nicht beherrscht.

Als sie kein Geld hatte, arbeitete sie hier in einem kleinen LokaL „Vier Monate lang, bis der Besitzer sagte: JDu nervst Du bist eine miserable Bedienung 1 .“ Wenig später kam das Telefonat, das sich als der Anfang vom Anfang erwies. Es hatte sich herumgesprochen, daß Banymore bei ihren Vbrsprech-Terminen eine gute Figur machte. Und so klingelte denn schon bald das Telefon: Man teilte ihr mit, daß sie für „Poison Ivy“ als mordende junge Schlampe auserkoren sei. Sie weinte Freudentränen.

„Ich wußte, dieser Film würde mir genau das bringen, was ich unter allen Umständen wollte“, erinnert sie sich. „Wenn man sich als Kinderstar einen Namen gemacht hat, ist Sex ja das letzte, womit einen die Leute in Verbindung bringen. Ich hatte diese Vision von mir als Lolita. Irgendwas Verrücktes mußte es sein – etwas, worauf niemand gefaßt wat“

Es folgten weitere Rollen. Ein paar gute, viele katastrophale – auf jeden Fall aber war sie wieder wen und mit „Kaffee, Milch und Schokolade“ schaffte sie schließlich den Sprung zurück in die erste Liga. Ganz egal, wie man den Kitsch-Quotienten des Films beurteilt – und er war hoch -, Barrymore hat der Geschichte zweifellos eine Menge Leben eingehaucht Da erstaunt es nicht, daß sie diese Rolle als diejenige betrachtet, die Drew privat am ähnlichsten ist Inzwischen bekommt sie Hauptrollen. „Mad Love“ ist ein herzerwärmendes Märchen aus dem Hause Disney – das die Heldin allerdings mit nicht eben Disney-kompatiblen Vokabeln beschreibt Die Figuren seien keine kaputten Kids, sondern süße Kerle, die einfach glücklich sein wollten. Im Originalton: „They’re not just these fucked-up fuckers who are just fucking out-of-control crazy. They’re just sweet kids who just want fucking happiness.“

Richtig, eines von Barrymores Lieblingsworten beginnt mit F. Aber sie benutzt besagtes Wort nicht, um Aggression auszudrücken, sondern vielmehr Begeisterung. Wenn sie etwa ihre Lebensphilosophie umreißt und erklärt, sie wolle jeden einzelnen Tag bis aufs Mark aussaugen, dann klingt das wie folgt „I have to be fucking crazy and live my life and just fucking go for it, flick everything and just fucking suck the marrow out of every fucking day.“ Noch Fragen?

Aus heiterem Himmel erhielt Barrymore als nächstes die Einladung, neben Tommy Lee Jones in „Batman Forever“ zu spielen, einem garantierten Kassenknüller, was wiederum deutlich macht, daß Hollywood die Scheu vor ihr verloren hat „Mir scheint, Drew wird das Wunder vollbringen und ihre unglückselige mich. Versuchen Sie statt dessen doch mal, für eine Sekunde die guten Seiten meines Lebens zu betrachten. Und schreiben Sie über das, wohin ich unterwegs bin; nicht nur über das, was ich hinter mir habe.“

Doch da sitzt sie nun. Sitzt in einer gediegenen und vollbesetzten Hotelbar und schreit:

„FUUUUUUCK!“

Nein, sie ist nicht die Bohne zornig. Ganz im Gegenteil, dies sind reine Freuden-Fuuucks. Bloß ein bißchen laut Aber so demonstriert sie einem eben gut verständlich ihre Theorie, daß man an den Tagen, an denen man schlechtgelaunt aufwacht, dem Frust einfach kurz Luft machen sollte, um dann ganz befreit ans Tagwerk zu gehen.

Das Exempel ist vor allem deswegen interessant weil es noch etwas ganz anderes beleuchtet: Obwohl Barrymore nämlich viel von ihrer Sehnsucht nach Anonymität spricht, Familientradition brechen“, kommentiert David Crosby. „Sie wird oben bleiben, sie wird die Ketten sprengen. Sie hat sich mit langem Atem den Respekt ihrer Freunde und Kollegen zurückerobert. Und sie hat jedes bißchen davon verdient“

Und da wir beim Verdienen sind: Barrymore hat kürzlich eine eigene Produktionsfirma gegründet; wenn sie nicht gerade dreht, ist nun diese Firma ihr tägliches Betätigungsfeld. Filmprojekte sollen dort entwickelt und nach eigenen Vorstellungen verwirklicht werden. Die junge Chefin hat ihr Unternehmen Flower Films getauft.

^UUUUUCK!“

Wer hier schreit? Drew Barrymore. Die gleiche Drew Barrymore, die einen Tag vorher noch gesagt hatte: „Bitte, machen Sie mich nicht zum ProblemfälL Urteilen Sie nicht über handelt sie doch permanent so, daß sie alle Blicke auf sich zieht Fragende Blicke. Bohrende Bücke. Viele Blicke. Anekdoten von offensichtlich genießerischen Aktionen nach dem Motto „Alle mal herschauen!“ verfolgen Barrymore und Freund Erlandson wie ein Bluthund, der ein persönliches Interesse an der Jagd hat Sie gibt den verwirrenden Widerspruch zu. „Es ist komisch, ich weiß. Mein ganzes Leben war immer dieses offene Buch. Und in gewisser Hinsicht hab ich mich dran gewöhnt und hab auch wirklich damit umzugehen gelernt, weil es ja doch nie anders sein wird. Die Leute werden sich immer für meine Geschichte interessieren, weil sie einfach so abgedreht ist Alles, was ich ihnen zu sagen habe, ist: ,Fuck you‘ – und gleichzeitig: ,Hereinspaziert‘.“

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