Das Ende der Parabel

Über all der Hysterie, dass in Deutschland erstmals gute Laune herrschte und Gäste freundlich begrüßt wurden, hat man beinahe einen Jahrestag vergessen – den 50. Todestag eines der berühmtesten Repräsentanten der deutschen Kultur im Ausland. Bertolt Brecht hatte große Angst davor, lebendig begraben zu werden, und traf diesbezüglich präzise Vorkehrungen. Der Stich ins Herz war ja durchaus eine dramatische und mehr noch lyrische Methode des Dichters, dessen Stücke heute freilich als holzschnittartig empfunden werden, seine Parabeln als schulmeisterlich und besserwisserisch. Wer sich in der Schule der 80er Jahre durch den „Kaukasischen Kreidekreis“ quälte (oder durch den „Guten Menschen von Sezuan“), der schätzt die Dialektik Brechts vermutlich nicht so sehr. Andererseits: Auch „Nathan der Weise“ oder „Emilia Galotti“, gar „Faust“ wecken bei den wenigsten Schülern die Liebe zum Theater.

Die noch immer beliebteste Arbeit Brechts ist die „Dreigroschenoper“, was auch damit zusammenhängt, dass die Musik von Kurt Weill stammt, der später – anders als Brecht, der sich in Hollywood vergeblich an Drehbüchern versuchte – in Amerika hoch geschätzt wurde. Die Schlager dieses Singspiels sind auch für denjenigen unwiderstehlich, der die Texte gar nicht versteht oder das Lehrstück bloß als Gaunerfarce liest. Nun ist auch wenig Belehrung in dem Drama und viel Liebe, Frechheit, Jargon und Chuzpe, und die Melodien tragen über manche Schwäche der Handlung hinweg. Die Weimarer Jahre waren eine harte, aber eben auch eine wilde Zeit, und das amerikanische Tempo wurde damals mühelos erreicht (wenngleich eher der pathetische Expressionismus der deutschen Filmkünstler in den USA reüssierte, der eine Weile bewundert und nachgeahmt wurde).

Die „Dreigroschenoper“ liegt so nah bei den Liedern und Musicals von Cole Porter, George und Ira Gershwin, dem Vaudeville, der Hollywood-Revue, dass keine Vermittlung nötig war. Zumal eine ganz und gar amerikanische Figur, der Gangster, ähnlich glamourös auftritt wie James Cagney und Paul Muni in den Filmen von William Wellman und Howard Hawks. Die Songs aus dem Stück wurden von Ella Fitzgerald gesungen und von Frank Sinatra, von Sting und Gianna Nannini und Robbie Williams. In den 60er und 70er Jahren, als Brecht in Mode war, entdeckten die Studenten und die Jazz-Musiker die „Dreigroschenoper“. James Last, kein Parteigänger der studentischen Linken, dirigierte 1968 eine Aufnahme mit Berta Drews, Helmut Qualtinger, Martin Held, Hannes Messerner, Karin Baal und Franz Josef Degenhardt – das staatstragende deutsch-österreichische Theater also und zugleich ein Aufbruch in die Libertinage der Siebziger.

Nach den Jazzern kamen die Popmusiker – natürlich wurde dem Bildungsbürger Sting Mitte der 80er Jahre vorgehalten, er hätte erst den Punk gespielt, um sich nun an der Hochkultur schadlos zu halten. Leuten wie Udo Lindenberg, die sich demonstrativ außerhalb des Spießbürgerlichen verorteten, wurden ihre wohlfeilen Exkurse in die Nostalgie dagegen niemals übel genommen. Erst kurzlich versuchte sich die Band Slut an der „Dreigroschenoper“, durfte aber nur fünf Stücke aus der Inszenierung veröffentlichen. Und Epigonen wie die Dresden Dolls aus Boston beschwören gleich die ganze Weimarer Republik, Brecht und Kokoschka und Heartfield herauf, was beim deutschen Publikum gut ankommt.

Wie relevant ist Brechts Stück noch, wie intakt die, äh: Botschaft? Claudius Seidl hat in der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ festgestellt, die Adressaten des Finales („Zuerst müsst ihr uns was zu fressen geben/ Dann könnt ihr reden“) seien dem Stück abhanden gekommen, die Absender eigentlich auch, denn Polly und Macheath litten ja nicht an Hunger. Nun ist das mit dem Fressen und der Moral allerdings nicht bloß wörtlich zu verstehen, und es gibt ja auch einen Hunger, der mit Lebensmitteln nichts zu tun hat. Die Bonzen und Haie mit den Zähnen im Gesicht wird der Kritiker kaum im Stadttheater finden (dort auch), sondern in den Nachrichtensendungen, den Wirtschafts-News, den Tageszeitungen. Zu essen und zu saufen haben die Leute, aber satt macht das nicht, sonst würden sie sich nicht an der eigenen grundlosen Euphorie berauschen.

Insofern sollte man hinschauen, wenn Klaus Maria Brandauer die „Dreigroschenoper“ inszeniert, denn er hat in Hendrik Höfgen, dem „Mephisto“, das eleganteste und intelligenteste arme Schwein dargestellt eine wahrhaft dialektische, wenn auch keine Brechtsche Figur.

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