Das freie Spiel der Marktkräfte

Chuzpe? Ein zu schwaches Wort. Unverfrorenheit? Trifft es besser. Frechheit siegt? Und wie! Als in der Wall Street nur Heulen und Zähneklappern zu hören waren, als Banken immer aberwitzigere Milliardenverluste meldeten, als sich Panik breitmachte selbst unter abgebrühten Zockern, als sich angeblich krisenfeste Portfolios und ganze Volkswirtschaften im freien Fall befanden, als die Apologeten der parasitären Spekulanten- und Glücksrittergesellschaft überall sicherheitshalber auf Tauchstation gingen, kurzum: als der internationale Finanzmarkt implodierte, wendeten die Partei-Liberalen Deutschlands flugs ihr Mäntelchen. War die Deregulierung der Märkte vor der Krise noch dringlichstes Anliegen der Neoliberalen, die Verhinderung staatlicher Eingriffe ins freie Spiel der Kräfte ihr vornehmstes Ziel, und der Spott über die „Vollkaskomentalität der „Leistungsunwilligen“ ein genüsslich gelutschtes Bonbon bei einschlägigen Talk-Runden, hieß es nun dreist: andersherum! Nicht die Raffgier von Bankern und Brokern, nicht das Hypotheken-Unwesen, nicht Billigzinsen und die Geldmengenvermehrung der Notenbanken, weder Kredithaie noch massenhaft habituell über ihre Verhältnisse lebende Kreditnehmer trugen die Hauptschuld an der Misere. Nein, der Staat war’s. Weil er seiner Aufsichtspflicht nicht nachgekommen sei und nicht rechtzeitig reguliert habe. Potzblitz!

Und dabei schauten sie treuherzig in die Kameras, die Westerwelles, Lambsdorffs und Niebels, vertrauend auf das lachhaft kurze Gedächtnis der Wähler. Mit Fug und Recht, wie nicht nur die Demoskopie bestätigt. Bei der Hessenwahl heimste die FDP ein Ergebnis ein, das ihren Vorsitzenden, früher auch mal im Guidomobil zu Besuch im Big-Brother-Container, sofort staatsmännische Töne anschlagen und von einer schweren Verantwortung schwadronieren ließ, die nun zu schultern die Liberalen mit allem gebotenen Ernst bereit seien. Sicher, der abschreckende Unsympath Koch und Ypsilantis Machenschaften spielten den Kurswechslern in die Karten. Den Grünen auch, doch wollten die vor dem Finanzkollaps weder die Bankenaufsicht abbauen noch fanden sie es verkehrt, dem enthemmt vagabundierenden Kapital klare Grenzen zu setzen. Die Ideologen der KasinoÖkonomie schon: freie Spekulation für freie Bürger. „Nein“, haarspaltet Westerwelle nun durchsichtig, nicht „weniger Staat“ habe er gewollt, nur „weniger Bürokratismus“.

Vor kaum einem Jahr hörte sich das noch völlig anders an. Es sei empörend, so Herr Westerwelle, wie Investoren aus dem Ausland als Heuschrecken beschimpft würden, man solle doch froh sein, wenn ihr Geld zum Wachstum unserer Wirtschaft beitrüge. Auch Bedenken gegen den Handel mit Derivaten mochte er nicht teilen, je weniger in den Finanzmarkt von staatlicher Seite hineingepfuscht würde, desto besser. Gilt folglich auch für sogenannte Leerverkäufe. Mit deren nahen Verwandten, den bezahlten Downloads, sich derzeit die Musikbranche zu sanieren sucht. Das heißt, ganz dasselbe ist das nicht. Man bekommt für sein Geld zwar nichts, das irgendeinen Tauschwert hätte oder einen Wiederverkaufswert, weder Sammlerwert noch Liebhaberwert, doch hat das erworbene Datenpäckchen immerhin einen Gebrauchswert, indem es vorgaukelt, Musik zu sein. Money for next to nothing. Wohingegen der Spekulant beim Leerverkauf etwa die Aktie, auf die er spekuliert, gar nicht erwirbt. Money from nothing.

Abstruse Praktiken, von der Finanzkrise erst mal erledigt und von den Freidemokraten als „Auswüchse“ eines „Raubtierkapitalismus“ gegeißelt, als gäbe es einen anderen. Der neue Dreh Früher beklagte Guido Westerwelle staatlichen Konrolwahn — nun fordert er Regulation, beim Krisenmanagement, dem auch die Liberalen viel abgewinnen können, ist die Sozialisierung der Verluste. Den Banken werden die Milliarden fast aufgedrängt, Abwrackprämien und Straßenbau sind mindestens so kostspielig für das Klima wie für den Staatshaushalt, und alle Konjunkturprogramme laufen selbstverständlich auf Pump. Zahlen wir später. Derweil die Profite in Privathand bleiben und sich Banker, die eben erst mit öffentlichen Mitteln vor dem Ruin bewahrt wurden, großzügig Boni gewähren. In Amerika in Milliardenhöhe. Was der gerade ins Amt eingeführte Präsident „schändlich“ nennt, aber offenbar nicht ändern kann. Das korrupte Kartell aus Banken, Börsianern, Rating-Agenturen und Wirtschaftsprüfern begreift, nachdem man sich einige Wochen zerknirscht gab. um an Staatstöpfe zu gelangen, den Finanzmarkt schon wieder als Selbstbedienungsladen. Regulieren ließe sich dieser Markt eh nicht, so der einstige US-Notenbankpräsident Greenspan, bevor die Blase platzte, dazu seien die Beteiligten zu findig. „Es gibt nichts“, erkannte er, „das so kreativ macht wie Gier.“ Länger als ein paar Wochen brauchte es auch hierzulande nicht, um die Ursachen des Finanzfiaskos zu verdrängen, obschon längst die Realwirtschaft darunter leidet und eine Rezession unvermeidbar scheint. Anfang Oktober schlug Guido Westerwelle im Bundestag noch schallendes Gelächter aus allen Fraktionen entgegen, als er eine effektive Bankenkontrolle forderte. Derselbe Politiker, der jahrelang gegen „staatlichen Kontrollwahn“ wetterte, im selben forschen Ton. ganz im Einklang mit seinen „liberalen Werten“. Werte offenbar, mit denen sich so ziemlich alles in Einklang bringen lässt. Weshalb sie wohl gewählt wird, die FDP.

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