Das Gipfeltreffen der Liedermacher

Mai 2009 An wem orientiert man sich ohne Folk-Tradition? Wie soll man in einer Sprache singen, die als kantig und eckig gilt? Können junge deutsche Liedermacher überhaupt von den Altvorderen lernen? Diese und andere Fragen besprachen wir mit Reinhard Mey, Tom Liwa, Bernhard Lassahn und Gisbert zu Knyphausen.

Vor 30 Jahren hat Reinhard Mey mit dem Rauchen aufgehört. Sein Sohn, so erinnert er sich, war da gerade ein Jahr alt geworden. Und nachdem seine Frau bereits seit der Schwangerschaft nicht mehr rauchte, machte es dem Liedermacher keinen Spaß mehr, allein weiterzuqualmen. Wer weiß, was passiert wäre, wenn er damals schon Tom Liwa gekannt hätte. Der Duisburger Songschreiber hatte zu der Zeit – er war gerade 18 geworden – nämlich erst die Rauchwaren für sich entdeckt. Im gleichen Jahr wurde Gisbert zu Knyphausen geboren. Der sitzt – ebenfalls eine Zigarette zwischen den Fingern – nun mit dem Ex-Raucher Mey und dem Noch-immer-Raucher Liwa an einem Tisch in einem Fotostudio in Berlin-Kreuzberg.

Aber wir haben die drei nicht wegen ihrer Nikotinsucht eingeladen, auch wenn diese das erste Thema ist, auf das sich die Diskutanten einigen können. Sie sitzen hier als Vertreter dreier Liedermachergenerationen. Wobei mit Reinhard Mey wohl nur einer von ihnen landläufig mit dem Liedermacher-Genre assoziiert wird. Noch immer steht der Begriff vor allem für die erste Generation deutsch dichtender und singender Künstler wie Franz-Josef Degenhardt, Hannes Wader, Wolf Biermann oder eben Reinhard Mey. Liedermacher waren politisch, links – und meist männlich. In späteren Jahren haftete dem Begriff etwas Gutmenschelndes, Politisch-Korrektes, Studienrätisches an, mit dem niemand mehr assoziiert werden wollte. Sodass nachfolgende Generationen, wie etwa Tom Liwa mit seiner Band Flowerpornoes, sich davon abzusetzen versuchten und sich eher an angloamerikanischen Vorbildern orientierten. Das gilt teilweise auch noch für Knyphausen.

Doch auch Mey schaute in seiner Jugend ins Ausland, spielte in einer Skiffle-Band, lernte vom französischen Chanson (und sang unter dem Pseudonym Frederik Mey in französischer Sprache), denn eine deutsche Folk- bzw. Volksliedtradition gab es nach dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr. „Tot sind unsere Lieder/ Uns’re alten Lieder/ Lehrer haben sie zerbissen/ Kurzbehoste sie zerklampft/ Braune Horden totgeschrieen/ Stiefel in den Dreck gestampft“, sang Franz Josef Degenhardt 1967 und gab somit schon eine Minimaldefinition von dem, was den Liedermacher ausmacht: Er sucht nach Strategien, die deutsche Sprache wieder singbar zu machen.

Unser vierter Gast, der Schriftsteller Bernhard Lassahn, hat sich viele Jahre intensiv mit der deutschen Liedermacherszene beschäftigt. Von ihm stammt die Anthologie „Dorn im Ohr“, aber auch die vielleicht schönste Songzeile in deutscher Sprache: „Ich hol dir keine Sterne mehr vom Himmel/ Die liegen später doch nur zu Hause rum.“ Die gab er dem Liedermacher Thommie Bayer, mit dem er 1979 auch den Hit „Der letzte Cowboy“ schrieb. Als Insider und Experten hätten wir für diese Runde niemand Besseren finden können. Und es ist eine sehr gesellige Runde geworden, spontane Verbrüderungen finden statt, alle sind gleich auf Du und Du -und gequarzt werden darf natürlich auch.

Was ist das eigentlich, ein Liedermacher?

Bernhard Lassahn: Ich bin Jahrgang 51, und insofern ja eigentlich das Missing Link zwischen den hier vertretenen Generationen – too old to rock’n’roll, too young to die. Ich habe Reinhard Mey über die Plattensammlung meiner Eltern kennengelernt, und mit Tom und Gisberts Platten müsste ich, wenn ich sie denn kennen würde, über meine jüngeren Brüder in Berührung gekommen sein. Zu Reinhards Zeiten bestand allerdings ein Konsens in der Definition dieses Begriffs: Ein Liedermacher war jemand, dem man gerne zuhörte, weil der etwas zu sagen hatte. Es gab damals eine Art Goldgräberstimmung. Die Leute, die deutschsprachige Lieder schrieben, konnten dafür Aufmerksamkeit erwarten. Und das hat sich heute natürlich ganz grundlegend geändert.

Tom Liwa: Aber das kommt doch zyklisch immer wieder …

Reinhard Mey: Glaube ich auch. Ich bin mir sicher: In fünf oder zehn Jahren werden die Leute die Schnauze voll haben von all dem Mist, der momentan im Radio läuft, und es wird wieder etwas anderes kommen. Ist nur schade um die schöne Zeit bis dahin, dann bist du ja auch wieder zehn Jahre älter, Tom.

Liwa: Klar, aber wir können die Zeit ja auch anders totschlagen, da fällt uns schon was ein. (alle lachen)

Lassahn: Darf ich mal raten: Gibt es überhaupt eine Staffelübergabe eines Liedermachermodells von einer Generation zur nächsten, oder seid ihr nicht weniger von der deutschen Liedermacherszene inspiriert, sondern vielmehr von angloamerikanischen Songschreibern? Ich vermute das im Stillen …

Gisbert zu Knyphausen: Zu Recht. Meine Lieder sind sicher eher von amerikanischen Songschreibern inspiriert. Mir haben zum Beispiel schon öfter Leute gesagt, meine Musik sei ihnen zu liedermachermäßig – und das war nicht als Kompliment gemeint. Generell werden englischsprachige Songschreiber von jüngeren Menschen viel eher angenommen als deutschsprachige. So erlebe ich das zumindest.

Das war doch bei dir auch so, Tom, dass du gesagt hast, es habe in der deutschsprachigen Tradition eigentlich nichts gegeben, was dich berührt hat.

Liwa: Am Anfang war das so. Wenn man anfängt, sucht man nicht nur nach musikalischen Einflüssen und Inspiration, sondern auch nach Identität. Und den Trost und den Zuspruch, den ich etwa bei Neil Young, Dylan oder Joni Mitchell erfahren habe, wollte ich gerne selber weitergeben. Aber je älter ich wurde, desto weniger hatte das mit kulturhistorischen Zusammenhängen zu tun, sondern es ging immer mehr um das Werk einer Person. Und die Hauptinspirationsquelle ist sowieso mein eigenes Leben.

Lassahn: Erstaunlich finde ich jetzt, dass Neil Young und Bob Dylan für mich dieselbe Aufgabe und Wirkung hatten – nur zehn Jahre vorher.

Mey: Aber das zeigt ja nur, dass die Musik gut war und infolgedessen generationsübergreifend funktioniert.

Lassahn: Sicher, aber bei mir war sie auch neu … (alle lachen)

Liwa: Für mich war es zu dem Zeitpunkt, als ich diese Sachen erstmals gehört habe, auch neu.

Mey: Das habe ich auch bei unseren Kindern erlebt. Irgendwann landeten sie alle drei mit fünf-, zehn- und 14-jähriger Verspätung bei Leonard Cohen. Und für alle war es jedes Mal etwas Neues.

Liwa: Wenn man anfängt, sich ernsthaft mit Musik zu beschäftigen, dann geht’s ja auch an die Frage: Wer hat da Pionierarbeit geleistet, worauf kann ich zurückgreifen? Nicht nur in technischen Fragen, sondern: Was für role models gibt’s da schon?

Deutschsprachige Rollenmodelle gab es ja für die Liedermacher der 60er Jahre so gut wie keine, oder?

Mey: Ein paar schon. Georg Kreisler, an dem man sich wirklich die Zähne ausbeißen konnte, aber auch Leute wie Otto Reuter. Und natürlich Tucholsky und Kästner.

Liwa: Im Prinzip geht’s ja noch viel weiter zurück. Was für mich wirklich ein Kick war, war Leute wie Rilke oder Else Lasker-Schüler oder auch Eichendorff zu entdecken. Zu gucken: Wie haben die ihre Zeit gespiegelt und was hat das möglicherweise für mich für Konsequenzen? Das Musikalische und das Textliche waren bei mir lange zwei parallel verlaufende DNS-Stränge, die sich dann irgendwann überschnitten haben. Aber nach textlichen Einflüssen konnte ich auch in der Literatur suchen. Der Punkt ist: 1980 war ich 19, und da war natürlich jemand wie Reinhard Mey nicht hip. Weil da eben Punk und so was passiert ist, da hätte ich einfach ein Identitätsproblem gehabt, wenn ich mit Mey angekommen wäre.

Später habe ich dann seine Musik und auch andere Sachen aus der Zeit entdeckt … Ich hab angefangen, deutsch zu texten, weil ich gemerkt habe: Ich kann deutlicher und expliziter sein. Nicht weil ich Rio Reiser sein wollte, den mochte ich nämlich nicht …

Hast du denn damals eine Konkurrenz zu Gleichaltrigen wie Jochen Distelmeyer oder Tilman Rossmy gespürt, mit denen du ja auch in den Medien oft verglichen wurdest?

Liwa: Da hatte ich Schwierigkeiten. Weil man natürlich aneinander gemessen wird und als eine Generation auf dem Prüfstand steht. Aber ich glaube, das ist Psychomüll! Wenn ich das losgelöst von diesem ganzen medialen Theater betrachte … So was relativiert sich doch sehr, wenn jemand früh stirbt, so wie Nick Drake, der auf ewig der 26-Jährige bleiben wird. Dann ist da nur noch das Werk, und um das sollte es gehen.

Knyphausen: Gut, aber ein bisschen will man sich ja schon den Vertretern seiner Generation gegenüber abgrenzen …

Liwa: Natürlich, da ist der Druck viel größer. Ein bisschen so wie bei der Abgrenzung von den eigenen Eltern.

Wie war das denn bei dir, Reinhard, gab es zu Leuten wie Hannes Wader oder Degenhardt eine Konkurrenzsituation?

Mey: Eigentlich nicht. Mit Hannes war ich sehr befreundet. Als wir angefangen haben, hatten wir nicht genug Repertoire, um einen ganzen Abend zu füllen, und sind deswegen zusammen aufgetreten, jeder hat 45 Minuten gespielt. Da gab es keine Probleme, weil jeder seine eigene Handschrift hatte. In der Presse wurde allerdings schon eine vermeintliche Rivalität konstruiert. Da sind schlimme Sachen über uns geschrieben worden, was wir angeblich übereinander gesagt hätten, war aber alles gelogen: Ich liebe ihn, und er liebt mich auch. Degenhardt hingegen war 1964 auf der Burg Waldeck der Ältere, zu dem haben wir aufgeblickt. Er war der Star. Wenn er auftrat, hat das ganze Auditorium andächtig gelauscht. Er war für uns Jüngere … nicht eine Institution, auch keine Respektperson … wie nennt man das?

Liwa: Autorität?

Mey: Das ist es! Eine Autorität, danke. Genau: Wir haben staunend davorgestanden, und er war der von allen akzeptierte Lehrmeister. Mit dem konnte man sich gar nicht vergleichen, der spielte in einer ganz anderen Liga. Aber mit denen, die gleichzeitig angetreten sind, gab es nie Probleme. Dafür gab es auch keinen Grund, es war ja genug für alle da. Jeder hat seine Kohle für Miete, Bier und Tankfüllung gekriegt, alle waren zufrieden.

Liwa: Klingt gut, ist jetzt leider bisschen anders.

Knyphausen: Allerdings, heute muss man sich eher prügeln um die Auftritte.

Wovon lebt man denn heute noch als Songwriter: eher Konzerte oder Plattenverkäufe?

Liwa: Bei mir sind das in erster Linie die Konzerte, das ist ja auch der Höhepunkt. Songs schreiben und Platten aufnehmen ist zwar sehr inspirierend, aber immer auch Arbeit. Auftreten hingegen ist Belohnung und Fest, weil ich da meine Musik mit den Leuten teilen kann, um die es geht.

Mey: Ich glaube, das wird sich immer weiter in diese Richtung entwickeln. Die Plattenverkäufe gehen ja zunehmend in den Keller. Und ich merke das auch an der Art, wie man selbst mit Platten umgeht. Als ich hierher gefahren bin, hab ich dein Album noch mal gehört, Tom. Im Player lag noch eine CD meiner Tochter, und die hab ich vorher rausgenommen und so achtlos …

Liwa: Aus dem Fenster geschmissen? (alle lachen)

Mey: Nee, nicht aus dem Fenster. Aber auf den Rücksitz, ohne Hülle. Das hätte ich früher nie gemacht, eine Platte oder eine CD so zu behandeln. Vinylplatten waren doch damals Heiligtümer. Wertvoll ist nunmehr nur noch die Musik, nicht der Tonträger selbst.

Liwa: Was aber nicht den Wert verliert, ist der persönliche Kontakt.

Mey: Eben. Je weniger der Tonträger wert ist, desto wertvoller und wichtiger wird das Konzerterlebnis. Alles andere können sie digitalisieren und bei YouTube reinstellen – das nicht.

Wir haben jetzt viel über die Besonderheiten des Liedermachens in deutscher Sprache geredet. Inwiefern hat man denn vielleicht auch eine Funktion in der Gesellschaft oder Verantwortung als Songschreiber?

Liwa: Man stellt quasi eine Stimme für die Sprachlosen dar. Ich kann ja gar nicht anders, als die Gesellschaft und mein direktes Umfeld zu spiegeln. Andersrum erfahre ich Gesellschaft auch als Spiegel meiner selbst. Wenn ich singe und Texte formuliere, bin ich automatisch in dieser Dialektik drin.

Lassahn: Ich erinnere mich als Oldtimer noch an eine heftig geführte Grundsatzdiskussion: politisches Lied gegen privates Lied. Christof Stählin hat damals ganz offensiv seine Platte „Privatlieder“ genannt, und Degenhardt hat heftig davor gewarnt: Vorsicht vor privaten Liedern!

Knyphausen: Echt? Nicht zu fassen. (alle lachen)

Lassahn: Ja, das kann man sich aus heutiger Sicht gar nicht mehr vorstellen. Zumal das noch vor der Frauenbewegung war. Die haben ja dann eine ganz andere Form von Privatheit in die Politik gebracht. Die Parole „Das Private ist politisch“ kam also aus einer ganz anderen Ecke, als das erwartet wurde. Aber bei den Liedermachern wurden diese Dinge wirklich ernsthaft diskutiert. Man hatte gefälligst politisch relevant zu sein, da gab es einen großen Rechtfertigungsdruck. Und diese Erwartungshaltung wurde bedient: von Degenhardt, aber auch von Wolf Biermann, der davon gesprochen hat, dass die Lieder wie Pflastersteine seien, die man auf den Feind werfen könne. Also man hat sich automatisch nicht etwa legitimiert, weil man auf einem Egotrip gewesen wäre – oh, wie schrecklich! – oder sich gar selbst zur Sprache gebracht hätte, das kam nur ganz indirekt vor, sondern über die aktuelle Situation. Als wäre die Nachrichtenlage die Vorgabe, nach der sich der Liedermacher richten sollte, und nicht etwa irgendwelche musikalischen Einflüsse oder gar das eigene Empfinden.

Knyphausen: Das ist heute anders. Ich glaube sogar, dass es manche Leute abschrecken würde, wenn ich explizit politische Themen einbauen würde.

Liwa: Zumindest sollte man es nicht so konkret tun, sonder eher abstrakt und durch den persönlichen Filter. Aber einen ähnlichen Diskurs, wie Bernhard ihn gerade angesprochen hat, gab es vor zehn Jahren auch noch mal. Wo dann auch vom Ende des Songwriters die Rede war und so. Na ja. Aber da bin ich wieder bei Psychomüll, das scheinen mir doch oft nur Scheingefechte zu sein.

Reinhard, du bist ja in dieser Situation damals auch gehörig zwischen die Fronten geraten, oder?

Mey: Ja, ich war genau in dieses Getriebe geraten, von dem Bernhard gesprochen hat, und saß zwischen allen Stühlen. In dieser Situation habe ich trotzdem geschrieben und gemacht, wozu ich Lust hatte. Jedenfalls habe ich nie, was man mir vorgeworfen hat, bewusst auf den Erfolg hin komponiert. Das geht meiner Meinung nach auch gar nicht.

Liwa: Frag mal Annette Humpe …

Mey: Ich glaube, in dem Moment, wo sie schreibt, denkt sie auch nicht bewusst an Erfolg.

Knyphausen: Es gibt aber schon so Leute, die bewusst auf so was hinarbeiten …

Mey: Klar, aber auch die sind nicht automatisch immer erfolgreich. Wie auch immer: Ich hab dann mein Ding gemacht, zwischen den Stühlen, zwischen den Fronten – und ich habe überlebt.

Lassahn: Ich glaube, das Missverständnis lag darin, dass diejenigen, die das Politische gefordert haben, den politischen Gehalt dessen, was du gemacht hast, verkannt haben. Und auch ein bisschen den guten Willen unterschätzt haben. Dabei wollten wir doch alle für das Gute sein.

Mey: So ist es, Bernhard.

Liwa: Und wie wir wissen, steckt im Guten immer ein böser Kern …

Knyphausen: War ja klar, dass da jetzt wieder so ein weiser Spruch aus der Ecke kommt. (lacht) Ein häufig gehörtes Vorurteil gegenüber der Liedermacherszene ist ja, dass die Musik nur der Karren ist, auf dem die Inhalte transportiert werden.

Mey: Es macht einfach mehr Spaß, wenn du eine Geschichte mit Musik unterlegt erzählen kannst. Für mich ist es schön, einen Text zu lesen, aber noch viel schöner ist es, eine Melodie dazu zu haben. Das überwindet leichter irgendeine Firewall, die sich gegen Eindrücke oder Gefühle wehrt.

Liwa: Da wird direkt die Seele angesprochen. Musik vermittelt uns die Harmonie, die wir da draußen nicht finden. So wichtig meine Texte mir sind – in dem Moment, wo ich Musik höre, verlieren sie mitunter an Bedeutung. Das Schöne an Musik im Konzert ist ja auch: Wann hält heute überhaupt noch mal jemand anderthalb Stunden am Stück die Schnauze?

Lassahn: Ich möchte euch herzlichen Menschen doch widersprechen und mal den kaltherzigen Kritiker raushängen lassen. Diese Musiker unterliegen nämlich einem Missverständnis. Sie denken alle, dass sie erfolgreich sind, weil sie so nette Kerle sind und so gut Gitarre spielen können und einen schönen Text singen. Aber was ist nun wirklich der Grund, dass jemand Erfolg hat? Manche glauben, das steuerten alles die bösen Plattenfirmen, als ob die so was steuern könnten! Und die Musiker selbst glauben natürlich, das hinge mit ihrem Können zusammen – das müssen sie wahrscheinlich auch glauben. Ich hingegen denke, es sind vor allem zwei Sachen, die hier zusammenkommen. Einerseits die Identität des Künstlers. Der muss ganz bei sich selbst sein und an einem Punkt in seinem Leben angekommen sein, an dem er sich absolut wohl fühlt mit sich und dem, was er tut. Und dadurch kann er dann überhaupt erst Menschen fesseln und diese besondere Atmosphäre herstellen. Aber, Punkt zwei, es sind eben auch die Aktualität und der Zeitgeist, die dieses Gefühl ermöglichen. Dass das Publikum den Eindruck gewinnt, genau zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein.

Liwa: Als Provokation kann ich das nicht auffassen, das würde ich sofort unterschreiben.

Lassahn: Ach Scheiße, ihr seid einfach zu nett. (lacht) Das Perfide: Man kann an beiden Knöpfen nicht regulieren. Weder kann man sich einer Bewegung anschließen, die einem nicht entspricht – und bei sich selbst kann man eben auch nicht so fürchterlich viel regulieren. Wir sind Kinder unserer Zeit, ob wir wollen oder nicht.

Das Generationentreffen der Liedermacher erforderte monatelange Vorbereitungen. Die Schwierigkeit bestand darin, die Zeitpläne der vier Hauptbeteiligten zu synchronisieren. Ende Februar ergab sich plötzlich ein Termin, zu dem alle konnten. Reinhard Mey, ausdrücklicher Wunschkandidat der jüngeren Teilnehmer als Vertreter der ersten Liedermachergeneration, hatte den kürzesten Weg: Der 67-Jährige wohnt seit Jahren in Berlin-Frohnau. Knyphausen reiste direkt von einem Konzert in Bielefeld an und Liwa aus seiner Duisburger Heimat.

Alle Diskutanten hatten sich auf den Termin gefreut und teilweise akribisch vorbereitet. So brachten Liwa und Knyphausen Gitarren mit, auf denen sie anschließend eine lose improvisierte Session spielen. Tom Liwa hat sich außerdem ein weiteres Mitbringsel einfallen lassen, das in besonderer Weise zur Erheiterung der Runde beiträgt: vier chinesische Glückskekse, die von den Diskutanten nach einer kurzen Pause unter Gelächter und Geraschel ausgepackt werden …

Liwa: Bei mir steht „Du bist ein besonders häuslicher Mensch, und deine Familie kommt immer an erster Stelle“. Das lasse ich jetzt mal unkommentiert.

Mey: Ich habe „Eine angenehme Überraschung erwartet dich“. Auch nicht schlecht.

Knyphausen: Bei mir steht „Du inspirierst andere“. Das ist doch toll!

Liwa: Hat jemand auch richtige Scheiße?

Lassahn: Nee, ich glaube, das machen die nicht! „Den wahren Dichter küsst die Muße ohne Hemd und ohne Bluse.“ Das hatte ich mal an Silvester, hat sich aber leider nicht bewahrheitet. (alle lachen) Und jetzt habe ich, Moment, das ist ja auf Englisch: „You will soon discover how truly fortunate you are.“ Ah, die Übersetzung ist auf der anderen Seite: „In Kürze wirst du entdecken, dass du wirklich sehr erfolgreich bist.“ Hm, das ist was anderes! Der Glückskeks ist ein schlechter Übersetzer, da wird Glück mit Erfolg gleichgesetzt. Das ist problematisch, finde ich.

Tom, bei dir hatte ich zum ersten Mal das Gefühl, dass das gar nicht deutsch klingt, wenn du singst. Das fließt so, wie ich das vorher nur aus dem Englischen kannte.

Lassahn: Das kann ich wirklich bestätigen. Der hat eine Art, Texte zu schreiben, die ihre Form nicht als störend mittransportieren, wo man nicht das Gefühl hat, da hat einer ein Regal aufgebaut, aus dem noch sämtliche Nägel rausgucken.

(Liwa greift in die Tasche, holt ein paar Münzen raus und steckt sie Lassahn zu, alle lachen)

Lassahn: Bisschen wenig, die paar Euro. Ich mach mal weiter: Es ist gerade die große Kunst, es so wirken zu lassen, als wäre gar keine Kunst dabei gewesen. Weil es sich keiner starren Form unterwirft. Die zitierten Vorbilder, Reuter oder Kreisler, die waren Perfektionisten der Form, hatte auch was für sich. Bei dir aber wirkt das wie beiläufig, man hat nie das Gefühl, dass irgendwas dem Reim geschuldet ist, sondern das sind alles ganz selbstverständlich fließende Sätze. Sehr normal.

Liwa: Das macht wahrscheinlich der starke Drang zur Häuslichkeit. Danke, danke. (wird rot) Können wir jetzt bitte aufhören?

Spielt Spiritualität bei euch als Thema in der Musik eine Rolle?

Liwa: Das Spirituelle ist ja genauso verpönt wie das Politische. Als dieser spirituelle Ansatz in meinem Leben eine sehr große Rolle spielte, weil bestimmte Dinge passiert waren, musste ich also darauf achten, dass ich das nicht zu sehr in den Vordergrund stelle. Aber für mich persönlich spielt es eine Rolle. Ein Problem, das ich mit dem Wort Liedermacher habe, ist übrigens, dass es die pragmatische Seite zu sehr betont. Weil ich oft das Gefühl habe, ich bin das gar nicht, der das Lied macht. Ich bin eher so eine Art Geburtshelfer.

Mey: So geht es uns doch allen, klar.

Liwa: Wir greifen da was, was im Raum ist, und wissen auch teilweise gar nicht, was da passiert.

Mey: Es schreibt eher mich.

Liwa: Genau, und deshalb finde ich es wichtig, dieses Ego-Ding nicht überzubetonen und mich für den zu halten, der das alles macht. Das ist auf jeden Fall ein spiritueller Vorgang.

Knyphausen: Im kreativen Prozess oder im Konzert?

Liwa: Ganz eindeutig: beides.

Knyphausen: Bewusst ist mir eine Spiritualität im Schreibprozess nicht … Klar, es gibt auch bei mir zwei bis drei Lieder, die einfach so passiert sind, die weniger Arbeit für mich bedeuteten als sonst. Aber mit dem Wort Spiritualität kann ich nicht viel anfangen.

Liwa: Vielleicht sollte ich mal definieren, was für mich Spiritualität bedeutet. Das wird ja häufig als ein bestimmter Lebensweg verstanden oder wie ein Accessoire. Aber in ihrem Kern bedeutet Spiritualität für mich, mich mit meinen dunklen Seiten zu beschäftigen, da hinzugucken und diese dunklen Seiten aufzulösen, wo ich sie auflösen kann.

Knyphausen: Also sich dem Leben gegenüber zu öffnen?

Liwa: Genau, mich dem Leben zu öffnen und es als mein Material zu sehen.

Knyphausen: Aber an dem Punkt bist du ja dann doch wieder Handwerker, wenn du das Material des Lebens formst …

Liwa: Natürlich steht mir das alles zur Verfügung: mein Leben, die Dinge, die mir passieren, aber auch meine technischen Fertigkeiten, die ich über die Jahre immer weiter verfeinern konnte. Das sind eben zwei Stränge. Einer der wichtigsten Sätze ist: Nichts ist fix. Alles ist ständig in Bewegung und ändert sich, und dafür offen zu bleiben ist ein ganz wichtiger Grundsatz.

Knyphausen: Das kann ich nachvollziehen. Was anderes: Tom und Reinhard, ihr beide habt ja schon wahnsinnig viele Lieder geschrieben und Platten gemacht. Habt ihr nicht manchmal das Gefühl, dass es nichts mehr zu sagen gibt?

Liwa: Wenn ich gerade nichts schreibe, also: Wenn ich nichts sage, habe ich das Gefühl, es gibt nichts zu sagen. Aber sobald ich wieder was schreibe, bin ich selbst überrascht, dass es doch noch was zu sagen gab – und zwar ohne mich zu wiederholen.

Mey: Da ich weiß, wie alt du bist und wie viel Zeit du zum Sammeln hattest, kann ich dich beruhigen: In deinem Alter habe ich ständig in der panischen Angst gelebt, mir könnte nichts mehr einfallen. Jedes Mal, wenn ich eine Platte fertig hatte, dachte ich: Das kriegst du nicht noch mal hin. Und irgendwann musste es dann sein, und dann ging es eben doch wieder.

Knyphausen: Beruhigend!

Mey: Klar. Das hat mich sehr lange gequält. Wann immer ich mich hinsetzen musste, um zu schreiben, ich hab das immer zu einem bestimmten Termin gemacht …

Knyphausen: Und dich dann eingeschlossen?

Mey: Genau, ich hab mich eingeschlossen, bin in Klausur gegangen – und hatte panische Angst vor diesem Termin. Je näher er rückte, desto schlimmer war es. Inzwischen, so vielleicht seit zehn Jahren, hat sich das geändert. Nun bin ich mir sicher: Mir wird immer was einfallen.

Liwa: Ist bei mir auch so. Ich begebe mich zwar nicht so bewusst wie Reinhard in Klausur, aber mich kann zum Beispiel ein unfertiger Song unendlich quälen.

Mey: Ja, der versaut dir das ganze Leben.

Liwa: Genau, der muss fertig werden.

Mey: Und dann ist man auch für seine Familie kein Genuss …

Liwa: Für niemanden. Ich war letztens im Studio und wollte unbedingt etwas fertig kriegen, und die armen Jungs von der Technik mussten stundenlang warten, während ich bei Kerzenlicht auf der Couch saß und krampfhaft nach Zeilen suchte.

Insofern ist Songwriting ja auch eine sehr einsame Arbeit. Zumal ihr ja nicht mit anderen schreibt, oder?

Liwa: Grundsätzlich ja. Ich bin aber im Moment zum ersten Mal in meinem Leben in so einer Art Community mit vielen anderen Songschreibern, wo ein sehr lebhafter Austausch stattfindet. Das genieße ich sehr. Übrigens auch jetzt mit Reinhard und Gisbert darüber zu reden.

Knyphausen: Das Texten selbst ist für mich schon eine sehr persönliche Sache. Da kann ich mir nicht vorstellen, das mit jemand anderem zu tun.

Lassahn: Ich empfinde Schreiben als großes Glück, und dass das eine gewisse Einsamkeit mit sich bringt, muss ich eben in Kauf nehmen. Daraus ergibt sich bei mir eine Sehnsucht nach der universalen Verständlichkeit und der Geselligkeit der Musik. Und da ist es eben toll, dass das Liedermachen diese Dinge vereint. Vielleicht ist Liedermachen ja aus der Mengenlehre entstanden. In der Mengenlehre hat man ja immer eine Schnittmenge, und diese Schnittmenge ist in unserem Fall eben der Liedermacher. Man könnte ihn freundlicherweise als eine Art Mängelwesen bezeichnen. Er ist nämlich kein richtiger Musiker und kein richtiger Literat – und das ist sein Glück.

Dass das Mängelwesen das Ideal ist, wissen wir schon seit Herder. Er hat ja den Menschen als Mängelwesen beschrieben, weil wir diese Vielfältigkeitsprüfung bestehen, die das Tier nicht besteht. Wir würden gegen jedes Tier einen Vierkampf gewinnen, wären in Einzeldisziplinen aber unterlegen. Also ist gerade diese mangelnde Spezialisierung unser Trumpf. Schließlich kommt noch eine dritte Dimension hinzu: das Auftreten vor Publikum, was andere Künstler ja nicht haben. Der Schriftsteller ist ja nicht unbedingt ein guter Vorleser.

(Atemlos andächtige Stille)

Mey: Hast du Philosophie studiert?

Lassahn: Ja, aber nur im Nebenfach. (alle lachen)

Mey: Hab ich mir gedacht. Ich bewundere dich, wie du das sagst! Ich fühle mich sehr gut beobachtet. Der Liedermacher, das Mängelwesen! Das ist es.

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