Das Heil im Kleinen

"Der gedehnte Blick "zeigt Wilhelm Genazinos geniale Beobachtungsgabe

Uunser Gesprächspartner wohnt im Frankfurter Studentenviertel, hier sind die vielstöckigen Zitadellen der Banken zwar immer noch zu sehen, aber trotzdem erweckt die Gegend den Eindruck einer verkehrsberuhigten Zone mitten in der City. Gleich nach dem Klingeln geht der Türsummer; offenbar hat er mich schon erwartet, ich eile ein paar Treppen hoch, und es begrüßt mich ein aufmunternd freundlicher Mann von beträchtlicher Leibesfülle.

Wilhelm Genazino bewegt sich bedächtig und gesetzt – und so spricht er auch. Auffällig sind die dicken Gläser seiner Brille, auffällig auch insofern, als er die optische Wahrnehmung, das genaue und lange Hinsehen ins Zentrum seiner Ästhetik rückt Seine Wohnung ist nicht sehr groß. Eine kleine Küche, ein kleiner Flur, zwei helle, durch einen Wanddurchbruch ineinander übergehende, spärlich eingerichtete Zimmer. Die Arbeitswohnung eines Schriftstellers.

Man hat Genazino immer wieder als Flaneur bezeichnet um eine Etikett zu finden für diese wirklichkeitssatte, von Kleinstbeobachtungen getränkte, aber nie im Modus des bloßen Wahrnehmens stehenbleibende, sondern immer auch reflektierende, umdeutende, daran entlang phantasierende Prosa. Er selbst will davon nichts hören.

„Das ist mir von der Kulturjournaille so aufgebrummt worden“, stöhnt et „Da ist im Grunde gar nichts dran. In Wahrheit laufe ich nicht mehr herum als Sie oder die meisten anderen. In meinen Büchern kommt das gelegentlich vor, aber ich würde das nicht für Prosa-bestimmend halten.“

Nun ist damit ja nicht nur der Vorgang des Spazierengehens gemeint, sondern auch ein Genre: eben jene vom Anfang des letzten Jahrhunderts sich herschreibende, sozusagen impressionistische Prosa, die ihr Heil im Kleinen sucht im zufälligen Detail, weil sich die komplexe moderne Welt nicht mehr als Ganzes verstehen lässt „Es stimmt vielleicht insofern, als meine Figuren ihre Alltagsbeobachtungen für ihre eigene Unterhaltung ausbeuten oder auch für ihr Individuierung. Denen gerät etwas in den Blick, was hübsch ist, was unterhaltende Wirkung hat und, drittens, das ist das Wichtigste, je länger man hinschaut, desto klarer enthüllen die Gegenstände oder die Anblicke ihre Beziehung zum Subjekt Es gibt eine Korrespondenz zwischen einem Gegenstand, der da so herumliegt, und meinem Interesse für ihn. Warum gerade dieser? Der Bezug zur Kindheit ist dabei natürlich sehr wichtig.“

Das zielt direkt auf den Kern von Genazinos Poetik. „Der gedehnte Blick“ – so heißt denn auch seiner neuer Essay-Band im Hanser Verlag – soll die ursprüngliche Betrachtungsweise des Kindes wiederherstellen, die vorsprachliche Unmittelbarkeit des Schauens, das alles zum ersten Mal sieht und noch das Schöne, Schreckliche, Angst einflößende, glücklich Machende im gänzlich banalen Detail erkennen kann. „Gerade Wahrnehmungen aus dem Minimalbereich“ interessieren ihn, „Sachen, die dem heute normal lebenden Menschen nicht mehr auffallen, weil er sie viel zu sehr plantiert hat, das ist längst Drittmasse geworden, auf die die Menschen drauftreten.“

Nach dem ersten Erfolg mit der „Abschaffel“-Trilogie in den 70er Jahren hat das nur noch die Connaisseurs gekümmert, obwohl alle seine Bücher durchaus Kritikererfolge waren. Erst seine letzten beiden, dann in der Tat auch sehr viel eingängigeren Romane „Ein Regenschirm für diesen Tag“ und „Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman“ haben ein größeres Publikum gefunden, wobei er einräumt, „dass dem Regenschirm-Buch der Auftritt im literarischen Quartett 4 zu Hufe gekommen ist Ob das Buch das allein geschafft hätte, bezweifle ich. Es bedarf heute, um einen literarischen Erfolg zu machen, solcher Trompetenstöße.“

Genazino bleibt ein milder Skeptiker. Auch der in diesem Jahr an ihn gehende Büchner-Preis, immerhin die höchste, nicht zuletzt höchstdotierte literarische Auszeichnung hier zu Lande, freut und beruhigt ihn zwar, kann den grundsätzlichen Argwohn gegen seinen Beruf jedoch nicht verdecken.

„Ich merke es zum Beispiel daran, dass ich, kaum habe ich ein Buch abgeschlossen, schon das nächste anfange. Es gibt von mir diesen Aphorismus: ,Mein Fleiß ist verwandelte Angst‘ Das ist es. Und man wird sowieso misstrauisch, wenn man die meiste Zeit seines Lebens ein eher wenig beachteter Autor war. Was soll man von einer literarischen Gesellschaft halten, die bis zum 60. Lebensjahr eines Autors sagt, naja, auch so ein Schriftsteller, und jetzt plötzlich kommen die Kübel mit weißer Schokolade?“

FRANK SCHAFER Pnnt-POD von Frank Schäfer „Der Prügelknabe“

(Heyne, acht Euro) von Charlie Huston ist ein hard-boiledthriller und zugleich dessen Persiflage. Die Dialoge sind prägnant und bisweilen auch durchaus komisch, der Plot schnell und entsprechend kurzweilig, selbstredend auch haarsträubend, aber hier geht es ja nicht um solche marginalen Dinge wie psychologische Glaubwürdigkeit, hier soll es knallen und scheppern, so laut, dass man beim Umblättern das Papier nicht mehr hört. Hank, den ehemaligen Teenage-Superstar im Baseball, hat das böse Fatum ziemlich gebeutelt. Ein unglückliche Verletzung bringt ihm um die Karriere, sein bester Freund stirbt bei einem von ihm verursachten Autounfall. Um zu vergessen, arbeitet er jetzt als Barkeeper und ist selbst sein bester Gast. Durch Zufall gerät er zwischen die Läufe einiger Schwerkrimineller, verliert eine Niere dabei und seine moralische Unschuld. Auch er mordet schließlich, weil seine Gegner Argumenten nunmal nicht sehr aufgeschlossen sind. Man hat das so ähnlich schon mal gelesen bzw. gesehen. Aber Hank hat immerhin einen guten Musikgeschmack und hört auch stets die zur jeweiligen Lebenslage passenden Songs: vor dem großen Umlegen etwa läuft Black Sabbath, am Ende Stevie Ray Vaughns „Pride And Joy“.2,5 „Mustererkennung 11 (Kktt-Cotta, 25 Euro) von William Gibson ist eine Meditation über das alte Lederstrumpf-Problem des Spurenlesens: Ist die erkannte Spur nur zufällig entstanden, wurde sie absichtlich gelegt, um von der eigentlichen abzulenken, oderführt sie tatsächlich zum Ziel? So steht es im kleinen Waldläufer-Katechismus. Gibsons Protagonistin Cayce Pollard weiß ihn meisterhaft anzuwenden, sie ist die letzte Mohikanerin in der Fashion-Wildnis und erkennt mit ihrem überempfindlichen Sensorium stets den richtigen Weg, den die Mode demnächst einschlagen wird.entsprechend gefragt ist sie als „Coolhunter“ und als Medium bei der Evaluation von neuen Trademarks. Einer ihrer Auftraggeber, der obsessive Werber Bigend, braucht ihre Fähigkeiten jetzt aber in einer anderen Sache. Im Netz tauchen immer wieder kurze Film-Clips auf, die offenbar zu einem größeren Werk gehören und deren melancholische Suggestivität ihnen bald einen Kult-Status sichert. Bigend wähnt hier eine neuartige, geniale Werbestrategie am Werk, und Pollard soll nun den anonymen Filmemacher finden.

Und nach einer Menge krimitypischer, manchmal etwas hanebüchener Verwicklungen gelingt ihr das auch. Trotz der technoid-kühlen Atmosphäre, die auch Gibsons neues Buch wieder durchfröstelt und ihm die Anmutung eines Science-Fiction-Romans verleiht, obwohl er eigentlich keiner ist – gemeint hat er das alles augenscheinlich als recht konservative Allegorie auf den ästhetischen Prozess. Der ist ja im Grunde ebenfalls nichts weiter als eine Schnitzeljagd. Der Autor streut ein paar lektüresteuernde Hinweise aus, und in der Regel findet der Leser auch etwas. 3,5 „Punkt“ (Passagen, 15 Euro) von Dennis Cooper beschließt (nach „Ran“ und „Trug“) die monströse, verstörende und durch und durch kryptische Trilogie über die Nachtseiten kalifornischer Adoleszenz. Cooper liest sich wie eine homophile Kreuzung aus Bret Easton Ellis und David Lynch. Da kreuzt etwa die Black-Metal-Band The Omen im Bandbus durch die Provinz und gabelt Jünglinge auf, um sich dann an ihnen zu vergehen, da schläft der Künstler-Eremit Bob mit einem Doppelgänger seines Ex-Liebhabers George, der sich umgebracht hat, nachdem er von The Omen misshandelt wurde, da schreibt der in Underground-Kreisen kultisch verehrte Autor Walker Crane ein Buch mit dem Titel „Punkt“ über eine mordende Rockband The Omen usw. Cooper treibt hier ein irritierendes Vexierspiel mit den Fiktionsebenen und auch mit Identitäten seines Personals. Immer wieder tauchen neue Protagonisten auf, die nichts weiter als Spiegelbilder der eingeführten Figuren zu sein scheinen. Und alle morden und vögeln oder reden darüber. Cooper ist der neue literarische Held der nachgewachsenen Slacker-Generation – und man muss sich schon fragen, wovon die eigentlich nachts träumen. 3,0 „Checkpoint“ (Rowohlt, 12,90Eurohon Nicholson Baker hat die Feuilletons hüben und drüben ziemlich in Aufruhr versetzt. Aber der inkriminierte Vorsatz des Buchs, „dieses Dreckschwein, diesen widerlichen texanischen Wichser mit seinen zugedröhnten Augen“, na klar, George W. Bush umzubringen, wird eigentlich gleich als Spinnerei von Jay abgetan. Der ist gerade mal wieder geistig „an den Rändern etwas ausgefranst“ und trifft sich mit Ben in einem Washingtoner Hotelzimmer, um über das geplante Attentat zu reden. Und spätestens wenn er sein Waffenarsenal vorstellt – „ferngesteuerte fliegende Sägen“ etc. -, dann sind die Grenzen zur Satire längst überschritten. Die Konstruktion dient nur dazu, sich über die heruntergekommenen USA und ihren Präsidenten auszukotzen. Literarisch gibt das nicht so viel her, aber man bekommt hier mal alle guten und richtigen Argumente gegen die US-Außenpolitik hübsch gebündelt und gut lesbar aufbereitet. 3,0

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