Das Jahr im Kino

Ich will große Rachetaten an denen vollführen, die meine Brüder versuchen zu vergiften und vernichten…“ Hesekiel 25,17: Die Bibel, der selige Schmöker, ist fürs Kino als Zitatenfundus und Inspirationsquell unermeßlich – und der populärste Gruselroman unserer Zeit. Wie sähe sie, jenseits frommen Kindischen Monumentalkitsches, als Horrorfilm aus? Jesu Kreuzigung wäre noch die harmloseste Szene. Könnte „Der Exorzist“ nicht ein Bibelkapitel sein? Und richtet der Vater in Wes Cravens „Das letzte Haus links“ (1972) jene Rockerbande, die seine Tochter geschändet und gemeuchelt hat, mit einer Motorsäge nicht auch stumm in Gottes Namen? Meist löst schon die Wahl der Waffen plump das moralische Gezeter der Kastraten aus. Homers im Versmaß vorgetragenen Greultaten, wo Ohren abgeschnitten werden wie in Tarantinos „Reservoir Dogs“, goutiert man aber am Gymnasium. Diese Lust, sich am Morddrama und Blutrausch zu weiden, geht uns und daher auch in den Bildern an die Eingeweide, da sie die Urängste aller berühren – ob in der Bibel oder als Billigstreifen. Letztlich ist es eine Frage des Geschmacks.

„Du bist krank, du hast zwiele Filme gesehen.“ „Oh, das ist ungerecht. Filme kreieren keine Psychos. Sie machen Psychos nur kreativer.“ („Scream „) Niemand behauptet, die zehn Gebote verherrlichten Gewalt, obschon ihre unabänderliche Diktion religiöse Fanatiker zur Exekution von „Ungläubigen“ angestiftet hat Diese haben eine Macke wie jene Debile, die ausgerastet sind, nachdem sie JNatural Born Killers“ gesehen haben sollen – zwangsläufig ist das durch Konsum von Gewaltschauexzessen nicht Wes Cravens „Scream“ bewegt sich in diesem Spannungsfeld aus Schockmomenten und selbstverliebter Ironie, Genrezitaten und Gedanken zur Zensur. Die fesche Sensationsreporterin, die kreischenden Mädchen, die sophisticated couch potatos und referentiellen Reflexionen über die Motive der Massenmörder sind ein praller Rollgriff durch unseren Alltag, in dem alle Klischees des Kinos aufgehen. Mit den drei Uberlebensregeln („Kein Sex, kein Alkohol – und sage niemals, ich komme gleich wieder“) des Videothekars Randy, das Alter ego des Drehbuchautors Kevin Williamson, etablierte sich „Scream“ als Fibel des Grauens zum umsatzstärksten Werk seiner Art. Ein gerissenes Quiz fiir Eingeweihte und Schauder

für Teenies, zeitgemäß zum gesunden Genuß wie Cola Light und Safer Sex. Nur das Fürchten kann und will er uns nicht mehr lehren.

JEs ist ein leichtes SpieL Wir fragen. Ist deine Antwort falsch stirbst du. Liegst du richtig -auch.“ („Scream „) „Am Ende der Gewalt“ von Wim Wenders, ein filmisches Essay über die Utopie, mit Videoüberwachung schon die geringste Aggression auszumerzen, traut der Kraft nicht, die dieses Thema birgt. Natürlich ist er nicht so blöd zu glauben, man könne Gewalt, und sei es nur in den Medien, tatsächlich abschaffen. Daher gemahnt sein Szenario, in dem Bill Pullman als Produzent von Actionfilmen vor zwei diskutierenden Killern kniet, nicht zufällig an Tarantino. Doch der hadernde Bildungsethiker Wenders hat diesem jungen Wilden auch nichts als sentimentale Bildkompositionen entgegenzusetzen. Michael Haneke ist radikaler. Er prangert Gewalt in den Medien an, indem er deren Methoden oflenlegt – und den Zuschauer ohne Hollywood-Airbag schmerzhaft gegen die Leinwand knallen läßt. In „Funny Games“ quälen und töten zwei Jungs höflich und lässig eine Familie. Eine psychische Folter, die physisch zu spüren ist, ohne daß die Morde zu sehen sind. „Es ist ganz einfach. Wir wetten, wer von uns morgen früh noch lebt“, antwortet einer der Täter auf die Frage, warum er das täte. Als die Situation sich gegen ihn wendet, spult er die Szene wie ein Video per Fernbedienung zurück – und beginnt von vorne. Wer sich dabei abwendet, der verliert. Hält man durch, gewinnt Haneke auch. Man muß seiner oberlehrerhaften These nicht unbedingt folgen, doch einen Film mit intensiveren Schauspielern gibt es kaum.

,^iber das hier ist das Leben, kein Film. „-“ Und ob. Alles ist ein großartiger, riesiger Film.“ („Scream „) David Finchers „The Game“ ist „Scream“ ab Thriller. Ausgefuchst und ästhetisch arrangiert er das Leben als morie world, ein therapeutisches Schattenboxen für das Ekelpaket Michael Douglas, der nach allen Regeln der Filmkunst mit Platzpatronen und Scharaden gehetzt und geläutert wird. Vexierspiel betreibt auch John Woo in „Face/Off“. Gut und Böse sind für den Katholiken siamesische Zwillinge. Daher hat er mit John Travolta und Nicolas Cage ebenbürtige Darsteller gewählt und läßt im Film einem mause click gleich ihre Gesichter operativ austauschen. Man sieht den einen – und denkt an den anderen. Grandios. Die Actionarrangements sowieso. Woos Hollywoodproduktionen popularisieren den Hongkongfilm im Westen, ein Trend, dem auch der Bond „Tomorrow Never Dies“ Tribut zollte. Eine späte Genugtuung und a better tomorrow für Wong Kar-weis „Fallen Angels“ oder Patrick Leungs „Beyond Hypothermia“. Film noir und Nouvelle vague aus Asien.

„Alle außer uns sterben. Und wir planen die Fortsetzung.“ („Scream „) Hollywood schlingert derweil im Kreis: ’97 waren die Sequels der erfolgreichsten Filme der Neunziger gestartet. Während „Batman & Robin“ und „Speed 2“ künstlerisch erwartungsgemäß und kommerziell erstaunlich enttäuschten, hielt sich „Vergessene Welt“ tapfer. Nie waren die Budgets, die Verluste, die Umsätze höher: ein Nullsummenspiel. Marketing hilf, das gilt auch für „Titanic“, dessen Start über Jahresfrist hinaus verlegt wurde. Mit „Ballermann 6“, „Knockin‘ On Heaven’s Door“ und, »Kleines Arschloch“ hat sich Deutsches 40 Prozent Marktanteil erstritten, aber einen „Rossini“ gibt’s nur alle vier Jahre.

„This is some spooky shit we got here. “ („Lost Highway“) Enigmatisch, artifizielL ein mythischer Monolith: „Lost Highway“ hat mit sex, lies & videotapes das Kinojahr vorweggenommen. Bei David Lynchs schizoidem Spiel mit Doppelgängern und mehreren Ebenen, zwischen denen Bill Pullman eifersüchtig seine Ehefrau verstümmelt und es in der Phantasie als Film noir mit seinem Traumweib verdrängt, ist nichts gewiß, aber alles drin. „I like to remember things my own way“, erklärt Pullman, warum er Videokameras hasse. Launiger löschen nur die „Men In Black“ Erinnerungen, der zu Recht erfolgreichste Film des Jahres, in dem „Mars Attacks!“ und wir „Contact“ aufnahmen, das „Alien“ wiedergeboren wurde und „Air Force One“, „Projekt: Peacemaker“ und „The Saint“ den bösen Russen wiederentdeckt haben. Retro rules: Drehbuchautor Brian Helgeland („Nightmare On Elm Street 4“) hat für „I~A. Confidential“ zwei Bücher James EUroys in einen Film noir in den Fünfzigern transponiert, mit ,,Der Eissturm“ hat Ang Lee metaphorisch die Siebziger entmystifiziert und Baz Luhrman aus „Romeo & Julia“ mit dem hybrid-apokalyptischen TV-Müll unserer Zeit ein bravouröses Popstück gesampelt.

Ein Horrormärchen.

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