Das neue Buch von Bob Dylan – hier lesen!
Bob Dylan schreibt über Cher. Ein Vorab-Kapitel aus seinem am 2. November erscheinenden Buch „Die Philosophie des modernen Songs“
„Gypsies, Tramps & Thieves“
Cher
Erstveröffentlichung als Single
(Kapp, 1971)
Von Bob Stone
DIESER SONG HANDELT DAVON, DASS MAN UNTERWEGS IST und in Bewegung bleibt – unterwegs geboren wird. Auf großer Fahrt, eine Stadt dient dem Absprung in die nächste – Sackgassen gibt es nicht. Ein wer-, wer-war’s und wen-interessiert’s-Song. Man fährt nirgendwohin, wo man nicht erwünscht ist, und wenn man erstmal da ist, lehnt man es nie ab, weiterzuziehen. Abschiedsworte gibt es für niemanden, und niemand hält einen je davon ab, wiederzukommen. Was auch immer es ist, wenn es nicht deine Angelegenheit ist, dann machst du es dazu.
Du hast dich über tausende von Jahren weiterentwickelt und bist immer noch auf der Durchreise, du schlägst dein Lager auf und kommst über die Runden. Schwindel, Turniere und Spektakel, das ist deine Sparte. Drugstore Cowboys, Mädchenbeobachter, Nachteulen – Gott und die Welt, du unterhältst und schröpfst sie mit Leichtigkeit. Du machst Leuten Alpträume, wenn sie vollkommen wach sind. Sie tuscheln hinter deinem Rücken – verspotten dich, nehmen dich aufs Korn, machen sich lustig und veralbern dich, lassen gehässige Bemerkungen fallen, aber dein Platz an der Sonne ist dir sicher. Du bist die Sexualpartnerin von Mondgeistern und du kannst ansonsten gewöhnliche Leute dazu bringen, vollkommen sinnlose und erschreckende Dinge zu tun, du hast dein Leben voll im Griff.
Auch der Mann, den du Grand Daddy nennst, war immer unterwegs. Grandad hat anrüchige Schmiermittel zur Behandlung von Gallenblasen, Verstopfung, Arthrose, Rheuma und Lustlosigkeit vertrieben – er hat Hinz und Kunz die wahre Lehre verkündet – Feuer und Schwefel gepredigt, Flammenmeer-Rhetorik, hat Leute religiös oder politisch bekehrt, jetzt kann er nicht mehr über den eigenen Tellerrand schauen und ist nicht mehr bei Verstand genug, um sich im Regen unterzustellen. Bald verwandelt er sich in einen Schmetterling, und seine Knochen werden davonfliegen.
Menschen ohne ethischen Hintergrund sind leichte Beute für dich und fallen in deine Sparte – Förderer, Snobs und Intellektuelle, für wen auch immer sie sich halten.
Du verstehst sie als geometrische Körper mit festen Winkeln und Ebenen, du weißt, wie du sie dazu bringst, wunderbare Dinge zu sehen, und du kannst Musik machen, von der sie irre werden. Du hast den Charakter des Saturn und den Geist der Venus. Leidenschaft und Verlangen schiebst du ihnen unter der Ladentheke zu. Deine Richtlinien sind einfach, und du schließt nichts von vornherein aus. Zieh dich aus und tanze den Schwerttanz, splitterfasernackt in einem Zelt, eingehegt, wo der Stadtadel sitzt, die großen Nummern und führenden Bürger, kahl wie Frühstückseier werfen sie mit Geld um sich, manchmal sogar bündelweise.
Floater und Taschendiebe nennen es manche. Mischlinge und Bastarde andere. Aber sie sind dumm wie Bohnenstroh, was die sich gefallen lassen, du würdest das keine Sekunde lang dulden. Es hat nie einen Tag gegeben, an dem du nicht aufgewacht bist und gesagt hast, dass es kein guter Tag wird.
Es liegt in der Familie. Cousins, Halbbrüder, Tanten, Großonkel, Nichten, Vetter zweiten Grades, eine Bruderschaft und eine Schwesternschaft, ein geschlossener Kreis ist das, eine Geheimgesellschaft. Dein Herz ist der Sitz deiner Weisheit, in deinem Gehirn sind keine grauen Zellen, du hältst immer eine Tür zur Freundschaft offen. Du schaust in den Spiegel und siehst eine Vertraute – du bist dir selbst nie unzugänglich. Deine Lebensphilosophie lautet, abwarten und weitersehen. Jedem, der dich anschaut, gibst du das Gefühl, er oder sie würde sich verlieben, du blickst auf eine lange Abstammungslinie zurück – und du gehst jederzeit überall hin. Hierhin und dorthin, über den Hügel, um den Berg, die Straße hinauf und die Straße hinunter, du kommst über den Schwellenwert hinaus – klar, geh, wohin du willst.
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WIR WERDEN DEN KARNEVAL ÜBERSPRINGEN. Der Song handelt von einem schwangeren Mädchen. Früher haben wir gesagt, einer «angestochenen». Das ist Tanya Tucker, die jemanden im Süden von Mobile aufgabelt. Ihre Mama und ihr Papa schlagen sie, und ihr Grandpa ist ein Betrüger. Das passt zu ihr – immerhin ist sie eine schwangere Sechzehnjährige. Der Song spielt auf der Trennlinie zwischen der alten Kultur und der neuen. Wahrscheinlich ist es eine der letzten umherziehenden Medicine Shows. Vielleicht wie Oral Roberts oder so. Geldeinsacken und was nicht sonst noch alles. Oral Roberts, der alte Prediger aus Oklahoma.
«Gypsys, Tramps und Diebe» könnte die Antwort lauten, wenn man aufgefordert wird, «Nennen Sie drei Typen von Menschen, mit denen sie gerne zu Abend essen würden.» Kommt wohl darauf an, was man isst, oder? Andererseits ist auch wieder gar nicht so wichtig, was man isst, entscheidend ist einzig und allein, mit wem.
Das Märchen vom gefallenen Engel ist schwer zu glauben. Viel leichter kann man sich Little Egypt mit ihrem Tanz der Pyramiden vorstellen. Wenigstens hat es den Anschein, als hätte sie Spaß daran, Männer zu umgarnen.
Cher hatte eine schwierige Kindheit. Ihr leiblicher Vater verließ die Familie, als sie neun Monate alt war. Ihre Mutter heiratete noch fünf Mal.
Dieser Song ist eine kaum verhohlene Metapher für ihre Mutter- und Vaterbeziehung. Schließlich lernte Cher Sonny Bono kennen, einen aufstrebenden Sänger und Schauspieler, und verliebte sich in ihn. Sonny war Plattenproduzent, Schützling von Phil Spector, und gemeinsam mit Cher hatte er großen Erfolg. Seine größte Leistung aber vollbrachte er als Kongressabgeordneter, als er zur Verabschiedung des «Sonny Bono Act» beitrug, durch den die Geltungsdauer der Urheberrechte für Songwriter verlängert wurde.
Der oben stehende Text erscheint am 2. November in Bob Dylans „Die Philosophie des modernen Songs“ in der Übersetzung von Conny Lösch im Verlag C.H. Beck. Das Buch hat 352 Seiten und kostet 35 Euro.