Der Club des guten Dichters

Unser originellster Songwriter Markus Berges hat einen Roman geschrieben und rettet mit seiner Band Erdmöbel den deutschen Pop.

Beginnen wir diese Geschichte mit einem schönen Wort. Es ist vielleicht das schönste, das es überhaupt gibt in der deutschen Sprache (möglicherweise, weil es zur Hälfte französisch ist): „Silageplane“.

Wer auf dem Land lebt, wird wissen, was es bezeichnet. Wer zwischen Feldern und Wiesen aufgewachsen ist und irgendwann in die große Stadt zog, wird vermutlich sogar dieses leichte Ziehen in der Brust verspüren, das man Heimweh nennt. Vielleicht ist es deshalb so ergreifend, wenn Markus Berges, Sänger und Songschreiber der Kölner Band Erdmöbel, dieses Wort singt.

Doch es könnte auch an seiner Intonation liegen. Wie er mit dieser raureifen Stimme ganz unten anfängt mit [si

In dem erwähnten Lied geht es um einen Zug, den Niederrhein-Express, der kurz hinter Geldern auf freier Strecke in einen Orkan namens Emma gerät. Und da kommt dieses Wort hineingeweht: „Fliegt am Fenster vorbei/ Blaue Silageplane/ Und bleibt hängen an/ Was man nicht sehen kann.“ Dies ist eines der schönsten Lieder auf „Krokus“, dem sechsten Album der Erdmöbel. Ihr mutigstes, eigensinnigstes, bestes bisher.

Seit 15 Jahren spielen sie nun schon ihre Lieder in einer Sprache, die der deutschen ähnelt, allerdings um vieles schöner ist. In Büchern oder Zeitungen kann man diese Sprache nicht lesen. Man kann sie nur hören. Sie müssen die hier zitierten Textzeilen also eigentlich laut rezitieren und sich dazu ein Satie-Piano vorstellen, Posaunen, Waldhörner, Querflöten, sommerabendhimmlische Melodien, Herzen, die flackern wie Neon vorm Kaputtgehen, Burt Bacharach, wie er laut vor sich hin summend aus vergilbten Buchseiten Blumen faltet.

„Ich kriege jedes Mal einen Hals, wenn ich Artikel in Musikmagazinen lese, in denen nur von den Texten die Rede ist“, meint Markus Berges. „Was ist das für eine komische Rezeption? Ich lerne da ja nichts über die Platte oder darüber, ob sie mir gefallen könnte oder nicht.“

Seine Songtexte jedenfalls scheinen einen so großen Eindruck gemacht zu haben, dass einige Buchverlage bei ihm anklopften und fragten, ob er nicht vielleicht einen Roman in der Schublade hätte. Hatte er aber nicht. Bis auf ein paar Miniaturen (wie etwa das von den Erdmöbeln vertonte „Busfahrt“) hatte er sich an Prosa noch nicht versucht. „Ich habe das Interesse der Verlage als Chance begriffen, mit dieser Form mal ernst zu machen“, sagt er. Nun erscheint zeitgleich mit „Krokus“ am 17. September sein Romandebüt „Ein langer Brief an September Nowak“.

Die Arbeiten an Prosa und Musik liefen parallel. Wobei Berges, der hauptberuflich noch als Berufsschullehrer arbeitet, mit den Songs ein bisschen eher fertig war. Was wohl vor allem daran lag, dass er häufig, wenn er mit der Prosa nicht weiterkam, ein Lied schrieb. „So kamen die Songs eigentlich schneller hintereinander als sonst“, erklärt Ekki Maas (oder auch: Ekimas), Produzent und Arrangeur der Erdmöbel, grinsend. „Das stimmt.“ Berges nickt. „Aber ich habe das schon als zwei unterschiedliche Arten der Arbeit wahrgenommen. Natürlich habe ich bei der Recherche für das Buch auch Sachen gesehen, die mich dann zu Songs inspiriert haben. Aber nicht in dem Sinne, dass die Arbeit an der einen Form die Arbeit an der anderen Form inspiriert hätte.“

„Ein langer Brief an September Nowak“ ist kein Roman über Musik geworden, obwohl Musik eine Rolle darin spielt. Es ist ganz sicher auch kein Poproman. Weder im Sinne eines Romans über Pop oder das Schreiben unter kulturindustriellen Bedingungen, noch im stilistischen Sinn eines reinen Referenzgeflackers. Berührungspunkte zwischen Roman und Album gibt es aber sehr wohl. So schließt „Krokus“ mit dem Instrumentalstück „September Nowak“, das Sound und Stimmung des Romans ziemlich gut einfängt. Verspielt, flirrend, sehnsuchtsvoll, mit romantischen und psychedelischen Untertöne.

Markus Berges erzählt in „Ein langer Brief an September Nowak“ die Geschichte der 19-jährigen Betti Lauban aus dem westfälischen Warendorf, die nach Monaco reist, um ihre langjährige Brieffreundin, die weltläufige September Nowak, zu besuchen. Doch dort angekommen erlebt sie eine ziemliche Enttäuschung. Das Bild, das ihr monegassischer Pen-Pal in den Briefen von sich gemalt hatte, entspricht nicht der realen Person, die sie am Bahnhof trifft. Sie flieht und begibt sich mit ihrer Lomo-Kamera auf ein südfranzösisches Abenteuer.

Ohne zu viel preisgeben zu wollen, kann man vielleicht verraten, dass diese Geschichte unter anderem von einem Bild des Düsseldorfer Künstlers Andreas Gursky inspiriert wurde, der mittels Computerbearbeitung mehrere Aufnahmen zu einem perfekten großformatigen Bild zusammensetzt. Außerdem hat sich Betti als Reiselektüre E.T.A. Hoffmanns Kunstmärchen „Meister Floh“ eingepackt, in dem die Protagonisten bis zum Happy-End zahlreiche Metamorphosen durchlaufen. „Ich habe schon ein Herz für die Romantik“, gesteht Berges. „Und gerade für das, was in der Romantik fremdartig ist., Meister Floh‘ habe ich schon vor vielen Jahren gelesen, und je mehr ich mich damit beschäftigt habe, desto mehr Anknüpfungspunkte ergaben sich zu meinem Text. Und dieser literaturhistorische Kontext passte mir auch gut in den Kram für die Geschichte.“

Berges hat die Geschichte von Betti nicht in der verdichteten Sprache seiner Songs erzählt. Aber es ist die gleiche Originalität der Beobachtungen und Liebe zu klingenden Wörtern. Und wenn im Prosafluss wieder so eines auftaucht – wie sagen wir: „Feuerleiter“ -, ist man ganz schnell wieder in einem Erdmöbel-Song („Wo das graue Haus ist, wohn ich/ Brate Fische in der Nische/ Esse auf der Feuerleiter“ aus „Au-Pair Girl“ auf „Für die nicht wissen wie“).

Es habe eine ganze Weile gedauert, bis er diesen klaren, aufgeräumten Tonfall, der den Figuren Raum zum Atmen und Sich-Verwandeln lässt, gefunden habe, erzählt Berges. „Ich hatte eine schwere Krise, in der ich erkennen musste, dass ich mich schon bei meinem Debütroman von meinen literarischen Vorbildern emanzipieren muss. Ich musste Sachen zulassen, die einfach ein W.G. Sebald niemals geschrieben hätte.“

Der 2001 verstorbene Sebald („Die Ringe des Saturn“, „Austerlitz“) wurde vor allem durch seinen unnachahmlichen melancholischen Sound und seine schwindelerregend-verschachtelten Grenzgänge zwischen Dokumentarischem und Fiktivem bekannt, und Berges hätte ihm literarisch gerne nachgeeifert. „Ich liebe seinen depressiven Kram“, sagt er. „Zuerst habe ich versucht, mich auch sprachlich daran zu orientieren. Aber das funktionierte dann irgendwie nicht. Ich musste mich emanzipieren und dachte: Jetzt überleg mal, was kannst du gut? Du schreibst deinen ersten Roman, da kannst du dir nicht schon Stilaufgaben stellen oder gar irgendeinen Ton nachahmen. Eigentlich ist meine Herangehensweise ein bisschen naiv für einen, der schon so viele Songs geschrieben hat. Aber vermutlich muss man bei jeder Arbeit wieder aufs Neue diese Erfahrung machen, und das war für mich echt schwer. Aber gleichzeitig war’s die Geburt des Romans, wie er ist.“

Auch als Songwriter musste Berges sich schon sehr früh von seinen Vorbildern verabschieden. Als er als Teenager im westfälischen Telgte seine ersten englischsprachigen Songs schrieb (zuvor hatte er schon Ernesto Cardenals „Gebet für Marilyn Monroe“ vertont), fehlte ihm einfach das Vokabular, um Bob Dylan oder Joni Mitchell nachzueifern. „Es kam dann nicht so sehr darauf an, was die Texte bedeuten, sondern dass es cool klingt“, sagt er.

Anfang der 90er-Jahre begann er schließlich, in seiner Muttersprache zu schreiben. Damals schien es hierzulande aber fast niemanden zu interessieren, ob deutsche Texte „cool klingen“. Vor allem Inhalte zählten, von Diskursen und Haltungen war viel die Rede. Wenngleich Protagonisten der Hamburger Schule wie etwa Blumfelds Jochen Distelmeyer bereits begannen, eine neue lyrische Liedsprache zu entwickeln.

„Als das erste Blumfeld-Album erschien, hatte ich ein ganz ambivalentes Gefühl“, erinnert sich Berges. „Ich dachte: Scheiße, das, woran du jetzt arbeitest, macht da jemand ganz anders. Das war so gar nicht meins, dieses explizit Politische. Aber es war beeindruckend. Man merkte, dass da etwas in der Luft lag.“

Er schrieb damals: „Mir fällt nichts ein, das ich grunzen könnte/ Mir fällt nichts ein zu pathetischem Lärm/ Und durch das Loch in der Lärmwand/ Seh ich Heintjes harten Kern/ Ich bin wohl mehr so der Klaus-Lage-Typ/ Bei attitude hör ich Attitüde/ Bei street credibility seh ich ein/ Ich bin zu deutsch für Rock und Roll.“ Dieser (Rock-) Song erschien 1996 auf dem ersten Erdmöbel-Album „Das Ende der Diät“ und scheint bis heute eine Art ästhetisches Programm zu sein, auch wenn die Band ihn schon lange nicht mehr spielt.Die Presse zitiert ihn aber – wie man sieht – immer noch gerne. Vielleicht, weil er der einzige ist, der als Parole taugt. Neun Jahre später sang Berges „Ich wünsche mir ein Lied über gar nichts/ Eins, das fällt und verglüht/ In der Finsternis/ Über gar nichts/ Ein kaputter Satellit.“

Von Album zu Album verfeinerte die Band ihre Methode, wurden Texte immer mehr zur Musik und Teil eines – wie Ekki Maas es nennt – „emotionalen Klangbildes“. Die Erdmöbel holten Sound aus Wörtern wie „Trombosestrumpfhose“ oder „Schiffschaukelbremser“, aber auch aus Tschechow-Sentenzen und Gottfried-Keller-Gedichten. „Die Musikalität der Texte ist von Anfang an unser Ansatz gewesen“, so Berges. „Aber ich habe das Gefühl, als hätte ich das erst mit der Arbeit an diesem Album richtig verstanden.“

Eine explizite Formulierung dieses Ansatzes findet sich auch in einem der neuen Songs: „Wort ist das falsche Wort/ Es ist mehr Akkord/ Ach, ist unsagbar schwer zu sagen.“

Doch so sehr Berges auf die Musikalität des Wortes setzt, auf die Bedeutungen und Emotionen zwischen den Zeilen und in den Akkorden, so genau und originell ist er – nicht nur in seinem Roman – als Storyteller. Auch wenn sich die volle Bedeutung der dichten, wortgewaltigen, sprachverliebten neuen Erdmöbel-Songs erst allmählich erschließt. Sie sind wie belichtetes Fotopapier, wenn man es in den Entwickler legt: Die Konturen werden ganz langsam sichtbar.

„Ich schätze die Offenheit der Songs“, so Berges. „Aber für mich haben die schon eine direkte Richtung, und daran arbeite ich. Ansonsten wäre mir das auch zu beliebig. Es ist mir schon sehr wichtig, in den Texten total genau zu sein. Zwar auf eine spielerische Art und Weise, aber ich versuche eigentlich das, was ich sagen möchte, möglichst schön und genau zu sagen. Es sind aber in der Regel sehr subjektive und recht ungenaue Dinge, über die ich da versuche Auskunft zu geben.“

Eindrucksvoll, assoziativ, sinnlich schildert Berges zu zackigem Ska seine Wut nach dem Einsturz des Kölner Stadtarchivs, zu luftballonbuntem 60s-Pop den Besuch einer „Ausstellung über das Glück“ im Hygienemuseum Dresden, zu akkordeonangetriebenem Bossa Nova eine von einer hübschbeinigen Frau im Kassenhäuschen der Stadtverwaltung ausgelöste lateinamerikanische Tagträumerei. Und eine Art Protestsong gibt es auch. Natürlich nach Erdmöbel-Art, locker federnd, parolenfern.

Anstoß zu diesem Lied war wohl ein von Maas zusammengestellter Sampler mit Liedern von Franz-Josef Degenhardt. Degenhardt war ja auch meist zu poetisch, reflektiert und feinsinnig, um auf Parteitagen geschmettert zu werden.

„Es gibt keinen Song, in dem man nicht auch selber vorkommt“, erklärt Berges seine Ablehnung von Protestsongs. „Ich kann in meinen Liedern nicht, sie‘ sagen. Aber zu einer bestimmten Form von politischer Parolenhaftigkeit gehört das dazu., Arbeiten‘ ist der Versuch, das zu umgehen. Auf jeden Fall ist es das politischste Lied, das wir mit Erdmöbel gemacht haben. Da habe ich wirklich das Gefühl, dass wir was Neues gemacht haben. Nicht nur auf Textebene, auch in der Lässigkeit, mit der Ekki das dann arrangiert hat.“

Zwei Jahre haben sie im Studio von Ekki Maas und Keyboarder Wolfgang Proppe am Kölner Eigelstein an diesem Album gearbeitet, Arrangements ausprobiert und wieder verworfen, Lieder auf den Kopf gestellt und auf links gedreht. Es scheint so, als hätten die Erdmöbel nach „Für die nicht wissen wie“, ihrer letzten Platte mit eigenen Stücken von 2005, das anschließende Cover-Album „No. 1 Hits“, auf dem sie Hitparadenstürmer von „A Whiter Shade Of Pale“ bis „Can’t Get You Out Of My Head“ erhellend eigensinnig eindeutschten und vererdmöbelten, nur als Verschnaufpause genutzt, um Luft zu holen für ihren großen Wurf „Krokus“. „Das Bild gefällt mir“, sagt Berges, „Aber es kommt mir vor wie ein sehr sehr langes Luftholen. Da war dann viel Sauerstoff in den Lungen.“ „Und das Ausatmen war die reine Freude“, ergänzt Maas. „Aber es stimmt schon, eigentlich waren die, No. 1 Hits‘ als ein kleines Album für zwischendurch gedacht.“

Es wurde dann allerdings die bisher erfolgreichste Platte der Band, die sie nicht nur in die Charts und die deutschen Feuilletons, sondern auch in den „ZDF-Fernsehgarten“ brachte. „Das Beeindruckendste und Schönste am Erfolg dieses Albums war eigentlich, dass wir an komische Orte gekommen sind, und noch mal gemerkt haben, wie wenig wir dahin passen“, so Berges. „Aber das war für uns eine gute Erfahrung. Und es ist auch nicht so, dass wir das nicht wieder machen würden. Sachen wie der, Fernsehgarten‘ sind für mich die bleibenden Erinnerungen an diese Zeit. Das heißt nicht, dass ich denke: Okay, wir haben die Erfahrung gemacht, hier passen wir nicht hin. Das haben wir ja vorher gewusst, deshalb wollten wir ja dahin.“

Man sollte das nicht als Snobismus missverstehen, und auch Ironie ist nicht das richtige Wort für die Haltung, mit der die Erdmöbel ihrer Umwelt begegnen – sich selbst hingegen schon. Das wurde bei den Cover-Songs auf „No 1. Hits“ besonders deutlich. Wenn sie etwa den Ballermann-Schlager „Up And Down“ von den Vengaboys coverten, nahmen sie den Song ernst, ihr eigenes Image als kredibler Indie-Geheimtipp nicht. „Früher standen Artikel in der Zeitung, bei denen man dachte, ist ja schön, dass das positiv gemeint ist, aber für uns ist es nicht unbedingt schön zu lesen“, meint Ekki Maas. „Mit, No. 1 Hits‘ hat sich das geändert. Da fühlten wir uns das erste Mal verstanden.“

„Krokus“ wird jeder sofort verstehen. Und wer „Emma“ hört, wird gleich wissen, dass „Silageplane“ das schönste Wort der deutschen Sprache ist. Nur erklären lässt es sich nicht. Jedenfalls nicht auf dem Papier.

Das Romandebüt von Erdmöbel-Sänger Markus Berges, „Ein langer Brief an September Nowak“, erscheint am 17. September bei Rowohlt Berlin.

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