DER FREMDE STAR

Montagsmorgens um 9 könnte Don Draper sich gerade aus dem Bett wälzen, noch angeschlagen von einer weiteren der vielen Nächte, in denen er seine Lungen geteert und genug Canadian Club getrunken hat, um ein Pferd zur Strecke zu bringen; wieder ein Schritt näher am Herzinfarkt. Vielleicht aber ist er bereits im Büro, Haare mit Pomade an die Kopf haut geklebt, frisch rasiert und mit einem Hemd so weiß und zackig, dass man sich daran in den Finger schneiden könnte, kurz: bereit, eine weitere Werbehöchstleistung abzuliefern. Oder er ist gerade dabei, uns eine seiner unangenehmen Überraschungen zu bereiten, wie Draper es gern tut, und wacht in einem Haus in Palm Springs auf oder im Bett einer Klientin oder wird in einem billigen Motel dem Tod überlassen, wie es in der fünften Staffel von „Mad Men“ geschah. Die Zeitgeist atmenden Überraschungsmomente machen sie zu dem, was sie heute ist: eine der cleversten, opulentesten und faszinierendsten Serien, die das Fernsehen bietet.

Aber Jon Hamm ist nicht Don Draper – zumindest nicht vollständig und nicht zu jeder Zeit. Und so sitzt Hamm heute mit seinen leuchtend hellen Augen und seiner Baseball-Kappe auf der erhöhten Veranda an der Vorderseite seines Hauses, in der Hand seine zweite Tasse Morgenkaffee, eine gefaltete „Los Angeles Times“ auf seinen Knien, zuversichtlich und ausgeruht wie der Herrscher über alles, was sich vor ihm ausbreitet, in diesem Fall also eine gepflegte Seitenstraße im schicken Hollywood-Viertel Los Feliz.

„Morgen!“, sagt Hamm und blickt über die Balustrade. „Kommen Sie rauf!“ Er wirft die Zeitung hin und führt mich in die Wohnung. Er spricht leise, um seine Partnerin nicht zu stören, mit der er seit 15 Jahren zusammen ist, die Autorin und Schauspielerin Jennifer Westfeldt. Sie liegt krank im Bett, bewacht von Schäferhundmischling Cora. Hamm will eine kleine Wanderung machen. „Wasser? Kaffee? Ich nehme uns am besten was für den Weg mit“, sagt er und gießt den Rest Kaffee aus der Maschine in zwei Thermobecher. Er schlüpft in ein Paar Tennisschuhe, setzt sich eine Pilotensonnenbrille auf und steuert die Haustür an. „Kann’s losgehen?“

Hamm geht die Straße hinunter, bis er eine verdeckte Treppe erreicht, die in den ausgedehnten Griffith Park führt. Er und Westfeldt leben schon seit mehr als zehn Jahren hier und kennen deshalb alle Geheimnisse der Nachbarschaft. „Da drüben wohnt Megan“, sagt er und zeigt auf ein Haus. Er meint Megan Fox. „January lebt hier auch gleich um die Ecke.“ Damit meint er January Jones, in „Mad Men“ seine Ex-Frau Betty.

Hamm nimmt immer zwei Stufen auf einmal, und als er oben angekommen ist, ist er ein wenig außer Atem, er hat kleine Schweißperlen auf seiner Stirn; er nimmt sich eine Minute, um wieder zu Atem zu kommen. Alles an ihm sieht zu groß aus: sein granitener Kiefer, seine Werftarbeiter-Schultern und natürlich sein massiver Kopf (61 cm Kopfumfang).“Ich habe den zweitgrößten Kopfumfang von allen, die jemals Gastgeber von ,Saturday Night Live‘ waren.“ Und, um die fast zwangsläufige Nachfrage vorwegzunehmen:“Okay, Ben Affleck, wow. Ich dachte immer, ich hätte einen großen Kopf, bevor ich den Typen traf. Unglaublich, zitieren Sie mich nicht, aber ich bin mir sicher, dass der nur Caps in Sondergrößen tragen kann.“

Wir gehen hinauf zum Griffith Observatorium, und am Gipfel nimmt Hamm die Sonnenbrille ab, um die Aussicht auf sich wirken zu lassen. „Nicht schlecht, was?“ Und tatsächlich, was Metaphern anbetrifft, ist diese nicht die schlechteste:

Ganz Hollywood ihm zu Füßen und Hamm erklärt, die Dinge seien „nicht schlecht“. Er selbst hat die Bescheidenheit des Mittleren Westens zu sehr verinnerlicht, um es selbst zu sagen, aber zurzeit dürfte es keinen besseren Schauspieler im Fernsehen geben als ihn. Im Laufe der bisherigen „Mad Men“-Staffeln, in denen er den promiskuitiven, alkoholsüchtigen Antihelden Don Draper verkörpert, hat er die Rolle in einer Weise angenommen, die selbst einen Daniel Day-Lewis dazu brachte, ihm Anerkennung zu zollen. Seit den Tagen James Gandolfinis als Tony Soprano (für den auch Matthew Weiner Skripte schrieb) gab es niemanden, der mit seiner Rolle in ähnlicher Weise verschmolzen ist. Hamm spielt den stahläugigen Draper mit einer geradezu wild zu nennenden Zurückhaltung („Ich werde sicher niemals einen Preis dafür gewinnen, besonders viel zu spielen“), dass es einfach ist, ihn zu unterschätzen, wie es die Emmy-Verleihungen der vergangenen Jahre ja auch belegen. „Er hat in dieser Serie einfach einen Nachteil“, meint sein Freund und „Mad Men“-Kollege John Slattery alias Roger Sterling, einer der anderen Partner in Drapers Agentur. „Er ist kein Drogenbaron, er sprengt keine Sachen in die Luft. Und trotzdem sehe ich ihn jeden Tag all diese unglaublichen, subtilen Dinge tun. Die Leute glauben die Hälfte der Zeit doch gar nicht, dass er das überhaupt spielt.“

Und genau hierin liegt auch die Frage, die sich wohl jeder früher oder später stellt: Wie viel von Draper ist Hamm selbst? Laut Hamm ist das nicht viel. „Don ist ein sehr kompliziertes Individuum, und ich bin ein ziemlich kompliziertes Individuum, und genau da enden auch die Gemeinsamkeiten.“ Damit hat er nicht Unrecht. Hamm ist ein Witzbold, der urkomisch in der Komödie „Brautalarm“ war und unübertrefflich lustig in sechs Folgen von „30 Rock“ in der Rolle von Liz Lemons Freund. Er hat eine Schwäche für Zeitvertreibe, denen er sich gemeinsam mit seinen Kumpels widmen kann -wie Poker, Fantasy-Football und sein Hobby-Baseball-Team unten im Valley, wo nach den Spielen Bier getrunken wird und wo es nichts ausmacht, dass er im Spiel zuweilen auch von einem übergewichtigen Vater von vier Kindern überlistet wird. Hamm gefällt es, in einem abgedrehten, pseudocoolen Slang zu sprechen. Er sagt etwa „my joint“, wenn er von seinem Haus spricht oder „copy that“, wenn er „okay“ sagen will. Früher gehörte er nicht nur zu den besten Linebackern im Staat, sondern profilierte sich auch als Computerspiel-Nerd, wobei ihn Ego-Shooter weniger interessieren als Fantasy-Spiele wie sein absoluter Favorit,“World of Warcraft“. Aber schon wenn man ihn fragt, welchen Charakter er dort am liebsten verkörpert – Krieger, Schurke oder ruchlosen Hexenmeister -wird er ernst: „Niemals würde ich das verraten.“

Und genau an diesem Punkt beginnt die Unterscheidung zwischen Hamm und Draper dann doch wieder undeutlich zu werden. Denn einerseits ist Hamm ja wirklich der 42-Jährige, der Budweiser und Wilco liebt. Trotzdem könnte etwas mehr Draper in ihm stecken, als er zugeben mag. „Matt schreibt um uns als Personen herum“, sagt Kollegin January Jones dazu. „Und er steckt schon eine Menge von Jon in die Rolle Don Draper. Seinen Charme, seine Verletzlichkeit, seine Schwächen. Draper umgibt diese geheimnisvolle Aura -wo kommt er her, zum Beispiel? Ich meine, ganz plötzlich ist er Don Draper, der große Star. Ich will wirklich nicht für ihn sprechen, aber vielleicht haben sie ja eine ähnliche Vergangenheit.“

Weiner sagt, dass Hamm viel daran liegt, sein Privatleben auch privat zu halten. „Wir sind Arbeitskollegen“, sagt er. „Vielleicht machen wir nach der Serie mal zusammen Urlaub. Aber da gibt es schon eine Distanz zwischen uns, und das ist nichts Schlechtes. Die meisten von uns verstehen das nicht, viele geben alles von sich preis. Aber ein Teil von dem, was mit diesem Kerl, Draper, passiert, hat damit zu tun, dass dieser andere Kerl, Hamm, so geheimnisvoll ist.“

Christina Hendricks, die Joan Harris (erst Büroleiterin, dann Partnerin) spielt, arbeitet schon seit mehr als sieben Jahren mit Hamm zusammen. Angesichts der 14-Stunden-Drehtage ist es wahrscheinlich, dass sie mehr Zeit mit-als ohne einander verbringen. Und doch sagt sie über ihn: „Ich kenne Jon, wie er bei der Arbeit ist. Aber dass ich ihn gut kennen würde, kann man nicht sagen.“

„Und daran, wie sie diesen Satz formuliert hat, können Sie erkennen, dass sie genau weiß, was diesen Kerl ausmacht“, meint Matthew Weiner dazu.

Wieder zu Hause steigt Hamm in seinen Mercedes CLS 63, fährt auf den Highway 101 South und bewältigt die Strecke im Berufsverkehr bis zu einem acht Hektar großen Gelände namens Los Angeles Center Studios in 15 Minuten. Hier ist das „Mad Men“-Hauptquartier. Hamms letzter Job, bevor er ein Vollzeit-Schauspieler wurde, war Kellner in einem südamerikanischen Restaurant, drei Blocks von hier. Manchmal nutzte er sogar den gleichen Parkplatz. Heute hat er einen besseren Stellplatz.

Die meisten Kollegen im „Mad Men“-Ensemble sind schon hier, in einem Teil des Geländes, das sie Basislager nennen, ein überschaubares Gewirr von Wohnwagen, mit eingetopften Bäumen und einer Feuerstelle. Hendricks liest eine Biografie Diana Vreelands und strickt dabei. Ein Stück weiter, auf einer Couch, sitzt Jones in der Sonne. Hamm tippt ihr auf die Schulter. „Hey, Bubby“, sagt sie, ohne aufzusehen. Jon geht für ein paar Minuten nach drinnen, um sich in seine „Montur“ zu schmeißen: weißes Unterhemd, Gürtelschnalle mit Monogramm, Manschettenknöpfe, Krawatte. Er kommt wieder raus und setzt sich an seinen üblichen Platz am Tisch, vor ihm ein Spiralblock mit vielen Seiten Strichlisten – die Ergebnisse eines nie endenden Domino-Spieles. Ich frage, wer der aktuelle Champion ist, und Jon zeigt auf sich. „Das werde wohl ich sein.“

Hamm ist das, was auf dem Set als „Nummer 1 auf dem Drehtagsablaufplan“ genannt wird. Und das stimmt in doppelter Hinsicht; zum einen ist er einfach der erste Name auf der Liste, zum anderen gebührt ihm ein besonderer Platz unter Gleichen. Weiner bespricht die Skripte mit Hamm in einer Weise, wie er es mit den anderen Schauspielern nicht tut. Er nennt ihn den „Klassensprecher“ und den „König des Abschlussballs“ – und sieht durchaus Alpha-Tendenzen bei seinem Hauptdarsteller: „Jon kann in kraftvoller Weise still sein. Und er kann ganz schön wütend werden, was einen überrascht, bei dem Charme, den er hat. Er verlieh dem Charakter eine Intensität, mit der ich zuvor nicht gerechnet hatte. Ich wusste zum Beispiel nicht, dass es Don eine solche Freude bereiten würde, seine Gegner zu dominieren. Das ist Jons Beitrag, und der ist Gold wert. Ich kann nicht sagen, ob er das aus seinen Beziehungen in seinem eigenen Leben zieht, aber was ich weiß, ist, dass wenn Jon als Draper und Vinnie (Kartheiser) als Pete Campbell aufeinander losgehen, Jon das durchaus auch noch weiterführen kann, wenn die Kamera schon nicht mehr läuft.“

Vincent Kartheiser, der den hinterhältigen Kundenbetreuer Pete Campbell verkörpert, hat es geschafft, Hamm dreimal in Folge beim Domino zu besiegen. Hamm wollte danach eine Revanche und machte ihn fertig, geradezu methodisch. Er gewann jedes Spiel, eine ganze Woche lang. „Er ist wirklich ein unbarmherziger Wettstreiter“, meint Weiner. „Man will ihn nicht verlieren sehen. Ich weiß zwar nicht, ob er schon jemals einen Tisch umgeworfen hat, aber wenn er von jemandem besiegt wird, den er gut kennt, ist dieser jemand so lange tot für ihn, bis er ihn seinerseits besiegt hat.“

Hamm verbrachte zehn Jahre damit, sich in L. A. gerade so über Wasser zu halten, bis er endlich seinen Durchbruch hatte. Er arbeitete beim Catering, als Barkeeper und, zumindest für kurze Zeit, auch als Requisiteur bei Softporno-Drehs. Von seiner Agentur wurde er schließlich fallengelassen, nachdem er drei Jahre lang kein einziges Engagement bekommen hatte. Danach spielte er Feuerwehrleute, Soldaten und attraktive Polizisten („Wir haben alte Fotos von ihm in Rollkragenpullover gefunden und ihn damit aufgezogen“, erzählt Elisabeth Moss, die Peggy Olson spielt.) Aber dann kam „Mad Men“ und Don Draper, und aus dem mittlerweile 36-jährigen, durchschnittlichen Schauspieler Jon Hamm wurde mit einem Mal Jon Hamm.

„Ich denke, es hat damit zu tun, dass ich mein Bestes gebe, immer“, sagt Hamm. „Ich kann das einfach nicht, auf Dauer etwas ohne Überzeugung tun. Und nur so rumhängen und Zeit vergeuden kann ich auch nicht. Es liegt mir nicht, allzu viel im Tank zu lassen. Ich meine, wenn du gewinnst, dann gewinnst du zu Recht; und wenn du verlierst, weißt du, dass du es das nächste Mal besser machen musst. Aber wenn du es einfach nicht hinbekommst, dein Bestes zu geben, was lernst du daraus? Das ist die Entschuldigung, die ich am meisten hasse:’Na ja, ich habe es ja gar nicht richtig versucht.‘ Fuck you! Natürlich hast du das. Du hast einfach verloren.“

In der „Mad Men“-Zeitachse sind wir inzwischen in den späten 60er-Jahren; das Fundament, auf dem das Land errichtet wurde, beginnt zu zerbröseln. Staffel 5 endete im Frühjahr 1967, was bedeutet, dass sich am Horizont einiges abzeichnet: der Sommer der Liebe, Anti-Kriegs-Proteste vor dem Weißen Haus, Rassenunruhen, die Ermordung Martin Luther Kings und Robert F. Kennedys, der Parteitag der Demokraten in Chicago. Mit anderen Worten: eine Nation, die aus den Fugen gerät.

Weiner sieht für die sechste Staffel Parallelen zu unserer heutigen Zeit. „Wir befinden uns an einem Punkt, wo wir in unserer Kultur nur noch ein sehr geringes Selbstwertgefühl haben“, sagt er. „Es existiert zwar eine Vorstellung davon, was wir sind – das mächtigste Land auf der Welt, das Land der unbegrenzten Möglichkeiten, der Toleranz -und dennoch geht da gerade eine Revolution vor sich. Es gibt eine schmerzvolle Ungleichheit, eine ebenso schmerzvolle Ungerechtigkeit in diesem Land. Es gibt diese Abkoppelung von dem, was wir glauben zu sein. Irgendwie haben wir das zwar noch im Hinterkopf, aber dann schauen wir in den Spiegel und wollen uns übergeben.“

Weiner sagt, dass dieses Gefühl auch bei Don Draper in der neuen Staffel eine große Rolle spielen wird. „Dick Whitman (Drapers Geburtsname) war ein ungewolltes Kind, ein missbrauchtes Kind, ein Feigling, ein Opportunist und, in gewisser Hinsicht, ein Krimineller. Don Draper ist attraktiv und erfolgreich und, selbst wenn er manchmal Schwächen zeigt, er ist ein Hai. Also, was wird dieser Kerl wohl tun, wenn er weiß, dass die andere Person in ihm drin derart unzulänglich ist? Kann man dagegen irgendetwas tun oder wird einem nur schlecht davon?“

Eine der besten Dinge an „Mad Men“ ist ja der seitwärts gerichtete Blick auf die amerikanische Kultur. Weiner, der sagt, dass er an die „zyklische Natur der Zeit“ glaube, bezeichnet das als durchaus beabsichtigt. „Wir machen doch immer die gleichen Fehler. Sie werden zum Beispiel kein einziges Jahr zwischen 1960 und 1980 finden, das nicht von Waffengewalt überschattet war. Und niemand hat sich bisher darum gekümmert und etwas dagegen unternommen. Und dabei sollte man doch denken, dass, wenn einem Präsidenten in den Kopf geschossen wird, das die Waffengesetzgebung wohl beeinflusst. Oder ein Marine, der mit einem Gewehr 45 Menschen erschießt. Aber nein, nichts geschieht.“

Wenn man durch das Set von „Mad Men“ läuft, hat man ein irgendwie befremdliches Gefühl. Man meint, gerade aus einer nicht ganz richtig funktionierenden Zeitmaschine gestiegen zu sein. Die Details der Epoche stimmen bis ins Kleinste: die Wählscheibentelefone mit ihren Nummern auf dem Gerät (Don: KL5-0126); die ausgesuchten Kräuterzigaretten (Nachbildungen von Old Golds, L&Ms und Kents); die Flaschen mit falschem Whiskey, dem der Requisiteur Johnny Youngblood in stundenlanger Kleinarbeit die richtige Farbe verliehen hat (sechs Tropfen Zuckercouleur für Glenlivet, zwölf für Jack Daniel’s).

Hamm hat in dieser Szene nicht viel zu tun: Er kommt in den Raum, einen Whiskey in der Hand, und sagt einen Satz. Aber es gibt einen Moment, da muss er auf etwas reagieren, was ein anderer sagt, und die Art und Weise, wie er das tut, so trocken und auf den Punkt genau, bringt einen wieder dazu zu denken, dass kein anderer das so hinbekommen könnte. Auch wenn es tautologisch klingen mag: Hamm ist einfach der perfekte Don Draper.

Ein Teil von dem, was die Menschen an Hamm fasziniert, rührt daher, dass er etwas Atavistisches an sich hat. Er ist einfach ein Erwachsener. Als „Mad Men“ zum ersten Mal ausgestrahlt wurde, waren die meisten Stars in Hollywood entweder so wie das ewige „Kind im Mann“ Judd Apatow oder eher schelmische Typen wie Bradley Cooper. „Dass unser Held nach so einem klassischen Bild geformt zu sein scheint, ist Faszination und Mysterium zugleich“, sagt Weiner. „Die Leute denken:,Wo kommt der Typ denn überhaupt her? Haben die den im Labor gezeugt?‘ Wir steckten Jon in einen Anzug und ließen sein Haar schneiden, und er mutierte von diesem modernen kumpelhaften Typen zu, na ja, Gregory Peck. Da gibt es einfach diese Aura um ihn herum -die physische Verkörperung von Selbstgewissheit. Die Leute sahen Autorität, sahen Glamour. Und seltsamerweise sahen viele auch ihre Väter.“

Es gibt eine berühmte Geschichte -die nach Hamms Meinung allerdings eine Legende ist -nach der Weiner sich, nachdem Hamm sein erstes Casting hinter sich hatte, zu den restlichen Anwesenden umdrehte und sagte: „Dieser Mann ist nicht von seinen Eltern aufgezogen worden.“ Angeblich hätte ihn das zur perfekten Entsprechung des Waisen Draper gemacht, dessen Mutter bei der Geburt gestorben ist und dessen Vater starb, nachdem er von einem Pferd getreten worden war. Auch Hamm hat seine Eltern schon früh verloren: Seine Mutter starb an Magenkrebs, als er gerade einmal zehn Jahre alt war, und sein Vater zehn Jahre später an Diabetes. Hamm machte eine Therapie und nahm einige Zeit Antidepressiva, bewältigte seinen Schmerz aber alles in allem mit einem Stoizismus, der den Menschen im Mittleren Westen eigen ist.

Hamm spricht oft davon, dass Draper zum Teil von seinem eigenen Vater inspiriert ist, einem geselligen Verkäufer und Kleinunternehmer, den Hamm erst kennenlernte, als der schon vom Leben gezeichnet war. In der dritten Staffel gibt es eine Szene, in der Draper nach einem Saufgelage die Straße runterfährt, sein leeres Glas aus dem Fenster wirft und noch hört, wie es auf der Straße zerspringt; ein Moment, der laut Hamm direkt seiner eigenen Vergangenheit entnommen ist. „Als wir nach meinem elften Geburtstag nach Hause gefahren sind, bogen wir in unsere Straße ein und ich sah, dass er total fertig war. Gut, das war 1982 und ich kein Rechtsexperte, aber trotzdem dachte ich damals schon: Das kann doch nicht in Ordnung sein.“ Hamm sagt, dass er diesen Vergleich oft anbringt, weil „es so einfach ist“. Er macht es aber auch, weil es das Gespräch von seinem eigenen Leben ablenkt.

Hamm hat Zugang zu einzelnen Teilen von Drapers Persönlichkeit; eine Mischung aus einer Art nach außen gerichteter Selbstsicherheit und einem Selbstekel, wobei beides aus seinem tiefsten Innern zu stammen scheint, etwas, was er auch selbst einräumt: „Da ist eine Verzweiflung, die sich mit der Angst vor dem Sterben verbindet und mit der Angst davor, unbedeutend zu werden und der Angst vor dem Verlust von allem, das man besitzt“, sagt er. „Er muss all diese erdbebengleichen Umbrüche in der Kultur bewältigen, versucht, auf den Wellen zu reiten, die sich hinter ihm auftürmen und in vielerlei Hinsicht scheitert er dabei. Was geschieht mit mir als Schauspieler, wenn niemand mich mehr engagieren will? Keiner von uns wird jünger. Genau das Gleiche haben Sie bei Don gesehen, als Betty ihn verlassen hat -er war am Boden zerstört. Er sagt dann:’Ich bin überrascht, dass du mich jemals geliebt hast.‘ Weil er diesen Selbstekel in sich trägt. Er hat das Gefühl, dass er es nicht wert ist, geliebt zu werden.“

Weiner ist der Meinung, dass Hamm, seit er Draper spielt, ein Ventil gefunden hat, Dinge loszuwerden, die er auf andere Art nicht ansprechen könnte. „Keiner von uns fühlt sich zum Showbusiness hingezogen, weil er sich besonders sicher fühlte“, sagt Weiner. „Jons Bescheidenheit ist keine Pose -sie kommt daher, dass tief in ihm drin ein Selbstzweifel sitzt und eine Geschichte, die er gerne neu schreiben würde; das ist im Übrigen bei fast jedem in diesem Job so. Dass es ihm gelingt, seine inneren Dämonen in dieser fiktiven Umgebung auszutreiben, ist ein Geschenk für ihn, so schmerzhaft es manchmal auch sein mag. Die Übereinstimmung zwischen Jon und Don Draper liegt bei 100 Prozent, aber zum Glück geschieht alles auf einer Bühne mit einem Sicherheitsnetz, und wir können jederzeit sagen:’Cut!'“

Es ist wohl nicht überraschend, dass Hamm selbst dieser Analyse nicht zustimmen will. „Matt verfügt über eine bemerkenswerte Intuition und ist unglaublich intelligent, und es ist ja auch sein Job, ein Beobachter der menschlichen Natur zu sein, aber ich habe die Schauspielerei noch nie als Therapie angesehen. Es geht dabei nicht um tiefschürfende psychologische Übungen. Ich sitze doch nicht da und denke an meine tote Mutter oder was auch immer und sage mir:

‚Oh, ich bin so traurig.‘ Oder sehen alle anderen da etwas, was ich nicht sehe?“ Er lacht. „Im Ernst, ich glaube nicht, dass ich da irgendwelche Dämonen austreibe, wie Matt es anscheinend glaubt. Ich meine, ich schreibe es ja auch nicht.“

Wenn es eine Sache gibt, von der man annehmen könnte, dass Hamm nun wirklich allen Grund zur Selbstsicherheit hat, ist es sein Aussehen. Eine seiner ersten Rollen hatte er bei „Ally McBeal“ als „Umwerfender Typ an der Bar“ und als er seine Gastrolle bei „30 Rock“ hatte, verglich Liz Lemon ihn mit einem Disney-Prinzen. (Der 13-jährigen Kiernan Shipka, die Dons Tochter Sally spielt, fällt dazu auch etwas ein: „Ich erinnere mich, dass Leute zu mir gekommen sind und meinten:’Ist er im echten Leben auch so großartig?‘ und ich hab gesagt:’Hallo? Ich bin acht.'“). Aber laut Elisabeth Moss hält er sich tatsächlich nicht für übermäßig gut aussehend. „Er gehört zu den Leuten, die gut aussehen, klug, witzig und talentiert sind, und ich habe nicht das Gefühl, dass ihm davon etwas bewusst ist. Und das ist sicher auch ganz gut so, denn wüsste er, wie großartig er ist -Gott, was wäre er dann für ein Arschloch.“

Einige Wochen später sitzt Hamm in einer Bar bei sich im Viertel. Er ist leger gekleidet, Jeans und Cabbie-Mütze. Er bestellt Budweiser in Flaschen von einer Kellnerin, die er mit „Darling“ anspricht. (Hamm ist wahrscheinlich der einzige unter 50-jährige Mann in Hollywood, der eine Kellnerin „Darling“ nennen kann, ohne dass man es ihm übelnimmt). Er ist Stammgast und hat inzwischen fünf Besitzer kommen und gehen sehen. Hier wird er von niemandem belästigt. Die Paparazzi wissen inzwischen, wo er wohnt und manchmal lauern sie ihm und Westfeldt auf, wenn sie ihren Hund ausführen oder essen gehen. In jüngster Zeit haben sie eine Menge Fotos geschossen von seiner, nun ja, Männlichkeit, was im Internet für einen gewissen Hype gesorgt hat. „Ja, ich habe davon gehört“, sagt Hamm mürrisch. „Das meiste davon ist ja augenzwinkernd gemeint, aber es ist trotzdem ganz schön primitiv. Es spricht Menschen an, die wohl eine falsche Vorstellung von ‚Freiheit‘ haben -nennen wir es Geilheit. Ich meine, man spricht ja nicht umsonst vom Intimbereich, oder? Okay, ich trage Hosen, mein Gott, mach mal halblang. Es ist ja nicht so, als wäre ich ein Bergarbeiter, es gibt wirklich härtere Jobs in der Welt als meinen. Aber wenn Leute sich wirklich die Freiheit nehmen, Tumblr-Accounts für meinen Schwanz einzurichten, dann denke ich nur:,Hey, das gehört echt nicht zu unserer Abmachung.'“ Er nimmt noch einen Schluck aus seiner Bud-Flasche. „Ach, was auch immer, wahrscheinlich ist es immer noch besser, als für das Gegenteil bekannt zu sein.“

Nach dieser Staffel wird es nur noch eine weitere der „Mad Men“ geben, und im Ensemble wird bereits darüber nachgedacht, was danach kommen könnte. Hendricks will wieder ans Theater gehen. Jones scherzt, dass sie nach New Mexico auswandern könnte, um dort als Schmuckdesignerin zu arbeiten. Was Hamm angeht, besteht eine ziemliche Einmütigkeit, dass er danach machen kann, was immer er will -vielleicht wird eine George-Clooney-Karriere daraus. Der wurde ja auch einst mit der Serie „ER“ berühmt und dann zum Kinostar.

Hamm sagt, dass er versuche, Draper nicht mit nach Hause zu nehmen. „Aber es nimmt natürlich Raum in deinem Kopf ein. Ich erinnere mich, wie ich mal mit James Gandolfini über das Ende der ,Sopranos‘ sprach und wie emotional erschöpft er da war. Auch aus diesem Grund habe ich meine Karriere so angelegt, dass ich mehr oder weniger immer weiter von Draper wegsteuere. Der Frauenheld und Aufreißer, das ist jetzt abgehakt. Der brauche ich nicht mehr zu sein.“

„Und er ist so vielseitig!“, wirft Westfeldt ein. „In komischen Rollen ist er genauso brillant.“ Sie streicht ihm über den Rücken. „Du kannst alles machen.“

„Ich kann nicht alles machen“, sagt Hamm.

„Du kannst aber vieles machen.“ Hamm lächelt. „Ich kann mehr als eine Sache machen.“

Als Hamm zur Toilette geht, nutzt Westfeldt die Gelegenheit, über ihn zu sprechen. Nach 15 Jahren meint sie, ihn ganz gut zu kennen, aber sie versteht es, wenn es anderen Menschen nicht so geht. „Er hat da einfach so etwas Altmodisches an sich“, sagt sie. „Seine engsten Freunde waren schon immer seine engsten Freunde. Er kennt sie aus der Highschool, ein paar auch vom College. Und das finde ich toll. Ich weiß nicht, ob ich irgendwelche Geheimnisse für Sie habe.“ Und fügt hinzu: „Es gibt keine Geheimnisse.“

In diesem Moment kehrt Hamm von der Toilette zurück und sagt lächelnd: „Natürlich gibt es Geheimnisse. Aber das werden Geheimnisse bleiben.“ Dann nimmt er seinen Hut und Westfeldts Hand, und gemeinsam verschwinden sie in der Nacht.

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