Der Kater einer Generation

Mit seiner exzessiven Reportage Fear And Loathing in Las Vegas beerdigte der Begründer des Gonzo-Journalismus Hunter S. Thompson die Hoffnungen und Ideale der Sechziger unter einer Kofferraumladung Drogen

Es war eine Art verrückter Abschied von einer Ära, von der ich wusste, dass sie zu Ende ging“, meinte Hunter S. Thompson rückblickend über sein Gonzo-Meisterwerk „Fear And Loathing in Las Vegas“. „Ich ahnte schon, dass es so etwas wie ein letztes Mal war. Kurz danach sorgten Nixon und (Justizminister) Mitchell und all die anderen Gestalten dafür, dass niemand, der sich so aufführte, ungestraft davonkam.“ Aber immerhin einmal noch kosten die beiden Protagonisten Raoul Duke und Dr. Gonzo die Segnungen der Sixties bis zur Neige aus: Sex eher nicht, aber Drogen, Rock’n’Roll und noch mehr Drogen. „Wir hatten zwei Beutel Gras, fünfundsiebzig Kügelchen Meskalin, fünf Löschblattbögen extrastarkes Acid, einen Salzstreuer halbvoll mit Kokain und ein ganzes Spektrum vielfarbiger Upper, Downer, Heuler, Lacher… sowie eine Flasche Tequilla, eine Flasche Rum, einen Karton Budweiser, einen halben Liter unverdünnten Äther und zwei Dutzend Knick’und-Riech.“

Die berühmte, vielzitierte Kofferraum-Revision am Anfang ihrer „Reise in das Herz des amerikanischen Traums“ sagt schon alles. Die Sixties sind zu einer Groteske verkommen, die elementaren Saug- und Schluckreflexe funktionieren zwar noch tadellos, mehr aber auch nicht. Viel später, nach dem ersten deliranten, selbstzerstörerischen Exzess in Las Vegas, setzt sich Duke erschöpft an die Schreibmaschine, mit dem Kater seiner Generation im Nacken, und erklärt den Verlust all ihrer Hoffnungen und Ideale: „Meine zentrale Erinnerung an jene Zeit hängt an einer Nacht – oder vielleicht fünf Nächten oder vierzig – oder frühen Morgenstunden – wenn ich das Fillmore verließ, halb-verrückt, und, statt nach Hause zu fahren, den großen 650 Scheinwerferblitz über die Bay Brücke schickte, bei hundert Meilen die Stunde… mit einer absoluten Gewissheit: wohin ich auch fuhr, ich würde an einen Ort kommen, wo ich Leute traf, die ebenso high und ebenso wild waren wie ich: absolut kein Zweifel daran… Und es herrschte dieses fantastische universale Gefühl, alles, was wir taten, sei richtig… keine Zweifel, wir würden gewinnen…Und das, glaube ich, war der Haken – dieses Gefühl, der Sieg über die Kräfte des Alten und Bösen sei unausweichlich. Ein Sieg, ganz und gar nicht auf niederträchtige oder militante Weise: das hatten wir nicht nötig. Unsere Energien würden sich ganz einfach durchsetzen. Es hatte keinen Zweck zu kämpfen—weder auf unserer noch auf ihrer Seite. Hinter uns stand die Naturgewalt; wir ritten auf dem Kamm einer wunderschönen Welle… Und jetzt, weniger als fünf Jahre später, kannst du auf einen steilen Hügel in Las Vegas klettern und nach Westen blicken, und wenn du die richtigen Augen hast, dann kannst du die Hochwassermarkierung fast sehen die Stelle, wo sich die Welle schließlich brach und zurückrollte.“

Die Rahmenhandlung dieses immer wieder von grandios witzigen Acid-Halluzinationen unterbrochenen „Romans“ ist wahr. „Mehr oder weniger“, wie Thompson in einem erst später veröffentlichten „Klappentext“ einräumt. Ein „schniekes“ Sportmagazin beauftragt Duke, sein Alter ego, vom legendären „Mint 400“ zu berichten, jenem „höchstdotierten Querfeldeinrennen für Motorräder und Dünen-Buggies in der Geschichte des organisierten Sports“, das in der Wüste nahe Las Vegas ausgetragen wird. Er lädt den „300 Pfund schweren samoanischen Anwalt“ Dr. Gonzo ein – in Wirklichkeit war es der 250 Pfund schwere Chicano-Verteidiger Oscar Zeta Acosta, mit dem sich Thompson erst kurz zuvor angefreundet hatte – und kauft erstmal ordentlich Reiseproviant (siehe oben). Ein Literaturwissenschaftler hat mal nachgezählt und dem Roman eine gewisse Stimmigkeit attestiert: Was da im Laufe der Geschichte konsumiert wird, entspricht tatsächlich dem anfänglichen Kofferraum-Inhalt – „mehr oder weniger“.

Das „Mint 400“ erweist sich als Enttäuschung. Schon nach wenigen Minuten ist die Luft so voller Staub, dass keiner mehr etwas sieht. Also widmet man sich lieber ausgiebig dem Mitgebrachten und lässt die Hotelrechnung auf ein Maß anwachsen, das mit Dukes Spesenkonto nicht mehr vereinbar ist. Als sich die Schuldenschlinge um seinen Hals zuschnürt, ereilt ihn Rettung vom ROLLING STONE. Ein neuer Auftrag nebst Vorschuss. Und der ist nun wirklich aberwitzig. Er soll über die Bundeskonferenz der Bezirksstaatsanwälte schreiben, die sich zu einem viertägigen Seminar zum Thema Narkotika und gefährliche Drogen zusammenfinden. Aus dieser Konstellation bezieht die zweite Hälfte des Romans einen großen Teil ihrer Komik. Ständig manövriert der Rausch die beiden in heikle Situationen, aus denen sie ihre chemisch gestärkte Fantasie dann aber auch regelmäßig wieder befreien kann.

Thompson verherrlicht hier das Delirium und den Stoff. Daran ändert auch der Umstand nichts, dass er gelegentlich Zeitungsmeldungen von abgefahrenen Drogenunfällen als Kontrast einmontiert; oder dass er den Taumel der Sinne im Grunde auch karikiert, die Apotheose also mit einer großen Portion verdrehter Komik abfedert. Damit ist nichts gegen die Droge an sich gesagt, sie bleibt völlig unschuldig und weiterhin positiv besetzt – gemäß dem von Dr. Johnson entlehnten straßenweisen Roman-Motto: „Wer sich zum Tier macht, befreit sich von dem Leid, ein Mensch zu sein.“

Gleichzeitig aber räumt er auf mit den Selbsttäuschungen seiner Generation, vor allem jenen Acid-Jüngern, die Timothy Leary zu ihrem Hirten erkoren und glaubten, „für drei Dollar den Kick. Frieden und Verständnis kaufen zu können“. „Das war der fatale Fehler an Tim Learys Trip. Er tobte durch Amerika und verhökerte ,Bewusstseinserweiterung‘, ohne je einen Gedanken an die grimmigen Fleischerhaken-Realitäten zu verschwenden, die auf alle Leute lauerten, die ihn zu ernst nahmen.“ Und das waren nicht wenige: die LSD als Religionsersatz betrachteten und tatsächlich annahmen, „es gäbe jemanden – oder zumindest irgendeine Kraft – die das Licht am Ende des Tunnels hütet“.

Thompson, der alte Agnostiker, hat daran nie geglaubt. Sein Verhältnis zur Droge ist ganz unmetaphysisch, fast pragmatisch. Für ihn ist sie nicht zuletzt der Treibstoff, der die Imaginationsmaschine auf höhere Drehzahlen bringt. Und dieses Buch darf man mit Recht als Probe aufs Exempel bezeichnen. Als Jann Wenner die ersten Skizzen der „Vegas-Sache“ gelesen hatte, war er so angetan, dass er Thompson einen Arbeitsplatz im Plattenarchiv der ROLLING STONE-Redaktion einrichtete, damit er in Ruhe daran weiterschreiben konnte. Später ließ er ihn sogar bei sich zu Hause wohnen. Zum Dank klaute der Autor ihm die Stereoanlage.

Ganz astreiner Gonzo-Stil war das hier eigentlich schon nicht mehr, dafür hatte er zu sehr an dem Stück geteilt – und ihm überdies einen „romanhaften Rahmen“ verpasst. In seinem zehnseitigen „Klappentext“ zur Erstausgabe, der wohl vor allem wegen seiner Länge vom Verlag unterdrückt wurde, bezeichnet Thompson das Buch denn auch als „gescheitertes Experiment in Gonzo-Journalismus“. Seine ursprüngliche Idee war, „ein dickes Notizbuch zu kaufen und die ganze Sache aufzuzeichnen, so wie sie passierte, und dann das Notizbuch hinzuschicken und veröffentlichen zu lassen, ohne dass irgendein Redakteur daran herumfummelte.“

Genauso hatte er es schließlich beim Gonzo-Urtext „Das Kentucky Derby ist dekadent und degeneriert“ gemacht. Als klar war, dass er den Abgabetermin nicht würde ein halten können, schickte er „Scanlan’s Monthly“ einfach sein Konvolut aus Fragmenten. Thompsons Kollege Bill Cardosa, der ein Blick darauf warf, schlug die Hände über den Kopf zusammen: „I don’t know what the fuck you’re doing, but you’ve changed everything. It’s totally gonzo.“ Wobei „gonzo“, wie Thompson angemerkt hat, ursprünglich ein Bostoner Slang-Ausdruck für „verrückt“ oder „bizarr“ gewesen sei. Ein so schönes Etikett konnte sich der grandiose Selbstdarsteller natürlich nicht entgehen lassen.

Was er darunter verstanden wissen wollte, hat er ebenfalls im „Klappentext“ erklärt: „Echte Gonzo-Reportage erfordert die Talente eines meisterhaften Journalisten, das Auge eines Künstlers/Fotografen und den Wahnsinnsmumm eines Schauspielers. Denn der Schreiber muss teilhaben an dem, worüber er schreibt, während er schreibt – oder es zumindest per Tonband konservieren oder es skizzieren. Oder aber alles drei zugleich.“

Teilhaben, ganz nah dran sein, sich selbst in die Geschichte hineinschreiben – nichts anderes wollten die Exponenten des „New Journalism“, Truman Capote, Gay Talese, Tom Wolfe etc. David Feiton, Thompsons Autoren-Kollege beim ROLLING STONE, weist jedoch in einem Essay auf eine Besonderheit der Gonzo-Methode hin. Für ihn ist sie ebenfalls „eine subjektive Form des Journalismus, die im Moment der Aktion entsteht, nicht erst danach“, aber die Gonzo-Spezialität dabei ist, dass sie selbst „Geschichten schafft“: „Die meisten der von Thompson beschriebenen Ereignisse waren real, doch oft wären sie nicht geschehen, wenn der Schreiber sie nicht provoziert hätte.“ Gonzo wäre demnach die egozentrische, abgedrehte und nicht zuletzt drogeninduzierte Steigerungsform des „New Journalism“: Einmal mehr geht es darum, das Leben möglichst unmittelbar in Literatur zu überführen – vorher aber hat das, bitteschön, ein bisschen literarischer zu werden.

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