Der Mann aus Wörtern

Lautlos huschen die Silhouetten hinter der dicken Büroglasscheibe vorüber. Und jedes Schrittgeräusch da draußen wird vom knöchelhohen, mausgrauen Teppichboden geschluckt. Es ist Freitag, und es herrscht rege Geschäftigkeit auf den Fluren des Berliner Hauptstadtbüros des „Spiegel“. Freitag ist Produktionstag. Doch von der Hektik da draußen ist hier drinnen nichts zu spüren. Wie einer, der seinen Job bereits erledigt hat, sitzt Dirk Kurbjuweit an seinem Schreibtisch und beantwortet Fragen. Gelassen und auskunftsfreudig. Und bemerkenswert unprätentiös dazu. So wie die Texte, die er seit 1999 für das Nachrichtenmagazin schreibt. Kisch-Preis-Texte, die zeigen, dass die Beschreibung der Wahrheit immer noch eine lohnende Sache ist, wenn sie so konzis und hellsichtig und unaufgeregt vonstatten geht.

Sein Büro ist riesig und lichtdurchflutet. Viel zu repräsentativ für einen wie ihn, der nicht viel Aufhebens von sich macht. Denn genau das ist seine Stärke: nicht mehr sein zu wollen, als man ist. Weder als Journalist noch als Schriftsteller. Doch das tut er vollkommen überzeugend. Dabei leitet er das Berliner Büro seit einem halben Jahr. Ein angenehmer, scheinbar allzeit besonnener Zeitgenosse, der gebürtige Wiesbadener. Und vor allem – und was viele noch nicht wissen: der derzeit wohl beste deutsche Erzähler unter 50. Vor allem: Kurbjuweit ist ein detailversessener Textarchitekt, der nach dem inzwischen fünften Belletristik-Werk von sich sagt: „Ich glaube, dass ich sehr viel Glück gehabt habe in meinem Leben. Und das freut mich auch maßlos, aber ich schwelge nicht darin.“ Nein, das tut er nicht. Vielmehr haftet jedem Satz, der ihm über die Lippen geht, etwas Vorsichtiges an. Etwas Abwägendes.

Nach zehn Jahren als Redakteur bei der „Zeit“ ging er 1999 zum „Spiegel“. Agierte zunächst als Reporter, nun seit gut sechs Monaten als Leiter des Hauptstadtbüros. Wie es der Vater zweier Kinder neben all der Arbeit dort schafft, obendrein alle zwei Jahre ein erzählendes Werk vorzulegen, das ist selbst Freunden des Mannes ein Rätsel. „Der lebt offenbar mehrere Leben gleichzeitig“, hat der Hamburger Schriftsteller Alexander Häusser diesbezüglich einmal ungläubig festgestellt. Eine Einschätzung, der Kurbjuweit mit einem süffisanten Lächeln widerspricht. „Nein“, sagt er und rutscht dabei stückweit in seinem Sessel nach vorne. „Es ist einfach so, dass ich sehr gerne schreibe, und es eigentlich dauernd tue, ganz gleich, ob es sich dabei um journalistisches Schreiben handelt oder um die Arbeit an einem Buch.“ Wie Letzteres ausgehen kann, das demonstriert nun – nach Büchern wie dem verfilmten Roman „Schussangst“ (1998). der berührenden Freundschaftsgeschichte „Zweier ohne“(2OOi) oder dem zuletzt, 2004, erschienenen Deutschlandroman „Nachbeben“ – Kurbjuweits neuer Roman, der den Titel „N icht die ganze Wahrheit“ (Nagel & Kimche) trägt; ein Buch wie ein Film, in dem jede Einstellung und jede Sequenz ihre eigene Kraft hat. Denn – und das ist das eigentliche Wunder dieser als Kriminalroman getarnten Liebesgeschichte aus dem Berliner Polit-Zirkus — nicht eine Szene und nicht eine Wendung in diesem Text wirkt ausgedacht oder gar von langer Hand geplant. Im Gegenteil: Was da mit stiller, gleichwohl kalkulierter Genauigkeit anrollt, nämlich mit der minuziösen Beschreibung des Einbruchs eines Privatdetektivs in die Wohnung einer Politikerin, das spult sich nachfolgend wie selbstverständlich als eine wunderbare Liebesgeschichte in Zeiten von E-Mail und Internet ab. Doch worum geht es im Detail?

Der Privatdetektiv Arthur Koenen, der auf Ehebruch und Taschendiebstahl spezialisiert ist, erhält von dessen Frau den Auftrag, Leo Schilf, den Vorsitzenden der SPD zu beschatten. Sie hegt nämlich den dringenden Verdacht, ihr Mann könne sie mit einer jungen, als rebellisch geltenden Bundestagsabgeordneten betrügen. Und wer in einer solchen Sache Klarheit möchte, der geht eben zu Koenen. So macht sich dieser daran, einen Mann zu beschatten, der permanent in der Öffentlichkeit steht – einen Mann mit vielen Gesichtern. Doch als Koenen sich Zugang zum E-Mail-Account der jungen Politikerin verschafft, ist die Wahrheit am Licht. Tatsächlich unterhält Schilf ein Liebesverhältnis zu der jungen Politikern.

Hier steigt Kurbjuweit aus der scheinbar vorgezeichneten Erzählhandlung aus, in dem er den eben noch kühlen Beobachter zum Mitfühlenden werden lässt. Und so erleben wir einen seinerseits auf der Suche nach Nähe und Zuneigung befindlichen Einzelgänger, der sich – je länger seine Observation dauert – fühlbar stärker in die von ihm ausgespähte Politikerin verliebt. Das geht so weit, dass er seine Auftraggeberin am Ende mit Halbwahrheiten abzuspeisen versucht, nur um die junge Gegenspielerin, an die er sein Herz verloren hat, zu schützen — selbst auf die Gefahr hin, seinen Ruf als Privatdetektiv nachhaltig zu ramponieren. Denn Koenen findet sich plötzlich selbst in einem kriminellen Zwischenzustand, in dem er gefühlsmäßig weder vor noch zurück kann. Geschickt versteht es Kurbjuweit, die emotionalen Grenzen in diesem Buch sukzessive aufzulösen. Das Resultat ist eine messerscharfe Innenansicht des politischen Berlin dieser Jahre – und ein Roman, der den Zwiespalt zwischen Herz und Kopf auszuloten vermag.

Natürlich hätte Kurbjuweit nichts dagegen, wenn ihm mit diesem Buch endlich auch als Erzähler der Durchbruch gelänge. Wirklich umhauen aber würde ihn auch das Gegenteil nicht. Und vielleicht ist ja genau das sein Erfolgsgeheimnis — als Schreiber wie als Mensch: nie die Bodenhaftung zu verlieren. „Wer sich zu große Ziele setzt, kann nur verlieren“, sagt er, und erhebt sich federnd aus seinem Sitz. Einer, den das Schreiben lenkt. Ein Mann aus Wörtern, der abschließend von sich aus der Position des Büroleiters sagt: „Ich habe nicht die Vorstellung, dass es immer weiter aufwärts gehen muss. Denn ich folge keiner klaren Linie. Wenn das hier vorbei ist, bin ich wieder Reporter. Und das ist gut so.“

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