Der RS-Report: Drogen und Musik in Deutschland. Interview: „Die Alkoholpreise sind skandalös!“

Saufen ist nicht nur Volkssport sondern für viele auch Teil eines Festivals oder einer Clubnacht. Jochen Förster sprach mit Suchthilfe-Experte Raphael Gaßmann über die Modedroge der Gegenwart.

Suchthilfe-Experte Raphael Gaßmann über die Modedroge der Gegenwart, Cannabis aus dem Automaten und die Wirkung der Prohibition

RS: Herr Gaßmann, was genau ist eine Droge?
RG: Ich persönlich bevorzuge den Begriff psychoaktive Substanz – darunter versteht man Stoffe, die im Kopf etwas bewegen. Wasser ist nicht psychoaktiv. Zigaretten dagegen zählen zu den psychoaktiven Substanzen, die am schnellsten und am stärksten abhängig machen, nur Heroin und Crack sind da noch schlimmer. Je schneller und stärker die Droge wirkt, und je früher ihre Wirkung verpufft, umso höher die Suchtgefahr. Eine Zigarette ist innerhalb von vier Sekunden in den Fingerspitzen – und nach zwei bis drei Minuten ist der Spaß vorbei.

RS: Ist Alkohol eine Droge?
RG: Aber selbstverständlich! Alkohol ist die Droge. Er wird von 95 Prozent der Erwachsenen in Deutschland konsumiert. Deshalb und aufgrund seiner speziellen Wirkweise verursacht Alkohol von allen Drogen die bei weitem meisten Probleme. Bei uns sterben jährlich 70-80.000 Menschen vorzeitig wegen ihres Alkokolkonsums, viele Straftaten werden unter Alkoholeinfluss begangen, bei Verkehrsunfällen ist oft Alkohol im Spiel. etwa jede dritte Vergewaltigung geschieht unter massiv Promille. Am höchsten sind die Prozentzahlen bei „Widerstand gegen die Staatsgewalt“: Jeder zweite deutsche Mann, der sich mit der Polizei anlegt, ist betrunken.

RS: Alkohol macht renitent?
RG: Er wirkt bei vielen aggressionsfördernd. Anders als etwa Cannabis.

RS: Was kann man dagegen tun?
RG: Aufgrund internationaler Studien aus den vergangenen Jahrzehnten kennen wir die Wirksamkeit der gängigen Maßnahmen heute ziemlich genau. Prohibition etwa fördert vor allem die organisierte Kriminalität. Spürbare Preiserhöhungen reduzieren dagegen die Nachfrage – bei Reichen eher wenig, bei Jugendlichen dagegen sehr stark. Beim Tabak haben wir erlebt, dass der Konsum bei Minderjährigen aufgrund der Steuererhöhungen regelrecht eingebrochen ist.

RS: Ne Pulle Bier kann sich immer noch jeder leisten.
RG: Der eigentliche Skandal der deutschen Drogenpolitik ist, dass ausgerechnet die bei weitem gefährliche Droge der Welt innerhalb der letzten Jahrzehnte bei uns – gemessen an der allgemeinen Preisentwicklung – ständig billiger geworden ist. Mit einer Flasche Fuselwodka für vier bis fünf Euro kann sich ein 13-Jähriger ins Grab saufen. Billiger kann man sich kaum umbringen. Ein weiteres Problem ist die Verfügbarkeit: Alkohol gibt es rund um die Uhr an jeder Ecke. Auch deshalb haben wir allein in Deutschland mehrere Millionen schwer Alkoholabhängige, die eine potenzielle Gefahr für die Allgemeinheit darstellen. Im Suff fahren solche Leute schonmal ihr Auto zu Schrott, schlagen ihre Frauen tot, vergewaltigen ihre Kinder, und im Zweifelsfall werden auch noch völlig Unbeteiligte zu Opfern. Wie gesagt: Wir sprechen hier von Millionen. Unsere Aufgabe ist es, dafür zu sorgen, dass es weniger werden.

RS: Baden-Württemberg ist schonmal vorgeprescht.
RG: Stimmt, dort ist die Ausgabe von 22 bis 6 Uhr untersagt, ein vielversprechendes Pilotprojekt, auf dessen Auswertung ich gespannt bin. Im Rest des Landes kann davon nicht die Rede sein. Bei Testkäufen in Tankstellen zeigt sich regelmäßig, dass jede zweite Alkohol an Minderjährige verkauft. Nach Preis und Verfügbarkeit ist das dritte große Parameter die Werbung: Sie erzeugt ein gesellschaftliches Klima, das Bier-, Wein- und Schnaps-Konsum als sexy darstellt. Im Jahr wird eine runde Milliarde für Alkoholwerbung ausgegeben, 20-30 Millionen für Alkoholwarnungen. Das ist kaum mehr als ein Alibi, wirksam gegen Werbeeinflüsse kann es nicht sein. Schließlich hätte eine Werbebeschränkung einen maßgeblichen Effekt auf die Alkoholberichterstattung in den Medien. Was große Wochenzeitungen und Nachrichtenmagazine noch Anfang der 2000er Jahre über Tabakkonsum geschrieben haben, kam den Verlautbarungen der Industrie sehr nahe. Als die Werbebeschränkung kam, trat schlagartig eine seriöse Berichterstattung ein.

RS: Wir fassen zusammen – ein Mix aus Preiserhöhung, Werbebeschränkung und Kaufbeschränkung für Minderjährige würde beim Alkoholproblem helfen.
RG: Das ist sicher.

RS: … so wie heute bereits in den USA.
RG: Nun, Amerika ist drogenpolitisch sicher nicht unser Vorbild, dort sind die Gegensätze und Widersprüchlichkeiten im Umgang mit Suchtmitteln noch weit extremer als hier. In Kalifornien etwa ist die Cannabis-Politik sehr liberal, dafür gilt eines der strengsten Tabak-Rauchverbote der Welt. Und in anderen US-Bundesstaaten können Sie mit ein paar Gramm Marihuana in der Tasche für einige Jahre ins Gefängnis wandern, erst recht wenn Sie afro-amerikanischer Herkunft sind. Rund 700.000 US-Amerikaner sind heute wegen Drogendelikten inhaftiert, jeder dritte Strafgefangene. Ein großer Teil davon wegen Cannabisdelikten.

RS: In Deutschland wird in einigen Landesteilen auch wegen geringer Cannabis-Konsummengen noch der Führerschein eingezogen, der Wiedererwerb ist ein teures Unterfangen. Und das, wo unter Medizinern heute unstrittig ist, dass Cannabis ein deutlich geringeres Suchtpotenzial hat als Alkohol. Wie erklären Sie diesen Widerspruch?
RG: Die Inkonsequenz der Sucht- und Rauschmittelpolitik ist fast schon Standard – als Tabak im 16. Jahrhundert zu uns kam, war die staatliche Repression anfangs enorm. Bei Cannabis und Alkohol hat die unterschiedliche staatliche Handhabung keine pharmakologischen, sondern gesellschaftspolitische Ursachen. Alkohol ist Establishment, Cannabis der Newcomer.

RS: Setzt sich die DHS für ein Ende der Prohibition ein?
RG: Ein Gesetz muss nachgewiesenermaßen wirken, diese Regel muss der Staat ernstnehmen. In Deutschland haben wir jährlich über 100.000 Verfahren wegen Cannabiskonsums, nicht gegen Dealer, sondern gegen Konsumenten. Meist sind die Betroffenen junge Leute, deren Entwicklung durch diese Prozesse stark gefährdet ist. Meist wird der Arbeitgeber informiert, am Ende ist man oft vorbestraft. Wer so vorgeht, muss belegen können, dass das wirkt. Dieser Beleg fehlt mir, in Deutschland und anderswo. In Bayern werden Cannabisverstöße schon lange strenger geahndet als etwa in Berlin oder Schleswig-Holstein, aber in München wird nicht weniger gekifft als in Kiel. In den USA sind die Gesetze fast durchweg strenger als hier, die Konsumentenzahlen deutlich höher. Und in den Niederlanden liegt trotz Coffeeshops der Konsum von Cannabis seit zehn Jahren unter dem deutschen. Die These, dass Restriktion positive Wirkungen hat, ist nicht belegt. Offensichtlich ist der Einfluss des Gesetzgebers auf das Konsumverhalten sehr gering. Scließlich sorgt der Illegalitätsstatus für eine geringe, nicht überwachte Qualität der verkauften Produkte. Wenn in Cannabis Blei- oder Glassplitter gefunden werden, zuckt die deutsche Politik mit den Schultern und sagt: Tja, ist halt illegal, dürft ihrs halt nicht nehmen! In den Niederlanden dagegen entsteht die bizarre Situation, dass Cannabisverkauf zwar geduldet ist, aber zugleich die Produktqualität nicht kontrolliert wird und der Fahndungsdruck auf die Cannabis-Hersteller inzwischen so hoch ist, dass sie ihre Plantagen immer häufiger nach Deutschland verlegen.

RS: Die Modedroge der Gegenwart für Sie?
RG: Alkohol. Dann kommt lange nichts, dann Zigaretten, dann wieder lange nichts, dann Cannabis. Und dann kommt eigentlich gar nichts mehr. Die Zahl der Heroin-, Crack-, Kokain- oder Partypillenkonsumenten ist demgegenüber verschwindend gering.

RS: Was halten Sie davon, Eigenkonsummengen für Cannabis festzulegen?
RG: In Deutschland hat jeder das Recht, sich selbst zu schädigen, dies ist hier ein wichtiger Grundsatz. Die Ideen, fixe Eigenkonsummengen festzulegen oder auch Konsumenten wie bei einer Ordnungswidrigkeit mit einfachen Bußgeldern zu belegen, halte ich für vielversprechend. Das deutsche Modell ist jedenfalls zurzeit wenig erfolgreich – sehr hoher juristischer und polizeilicher Aufwand, empfindliche Strafen für junge Leute, dabei weiterhin hohe Konsumentenzahlen. Wichtig ist, dass für Cannabis gelten sollte, was wir auch für Zigaretten und Alkohol fordern: keine Werbung, kein Verkauf an Minderjährige, nicht rund um die Uhr, nicht an Automaten. Wenn sich künftig jeder eine „Marlboro Weed“ am Zigarettenautomat ziehen könnte, das wäre ein Desaster.

Dr. Raphael Gaßmann, 50, ist seit 2009 Geschäftsführer der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen (DHS), des Dachverbands der deutschen Suchthilfeeinrichtungen mit ihren rund 1.400 Beratungsstellen, 160 Fachkliniken und 30.000 Mitarbeitern. Die DHS publiziert umfangreiches Informationsmaterial zum Thema Sucht, arbeitet unabhängig und wird vom Bundesministerium für Gesundheit gefördert.

Im großen Rolling-Stone-Report unserer aktuelle Ausgabe kommen Künstler und Konsumenten (manchmal sind oder waren sie beides zugleich) ebenso zu Wort wie Legalisierungsbefürworter und -gegner. Rollingstone.de wird das Thema im Dezember ausführlich mit Interviews und Features begleiten.

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