Der sonnige Herbst

Nach Jahren des Lavierens und dem Laborieren an einer Schußverletzung, die sich Ray Davies bei einem Überfall zugezogen hatte, eröffnet der britischste aller Songschreiber eine milde Bilanz - und bringt das erste Solo-Album heraus.

Der Künstler kommt ganz in schwarz. Gemeinhin ein Statement, gerade unter Musikern. Gilt als cool, signalisiert Durchblick, steht für Außenseitertum. Nicht so bei Ray Davies. Sein getöntes, schütteres Haar und die unmodisch-bequemen Sneakers, die Lachfalten an den Augen und die Sorgenfalten auf der Stirn, sein bedächtiger Habitus und der selbst beim ernsten Erzählen mitschwingende mokante Unterton legen den Verdacht nahe, daß er sich noch immer nicht angefreundet hat mit der Rolle, die er seit mehr als 40 Jahren spielt. Die des Rockstars. Ausgefüllt hat er sie ohnehin nie, der notorische Skeptiker. Dazu hätte er sich überwinden müssen, wider besseres Wissen. Schon damals, 1965, als man ihm dringend nahelegte, sich die Zähne richten zu lassen. Weil sich doch so eine Zahnlücke fast so desaströs auf eine Showbiz-Karriere auswirken könnte wie eine publik werdende Heirat. Auch das ein Fettnäpfchen, das er nicht ausließ. „Als ob man mich zu einem Pin-up hätte ummodeln könnte“, sarkastelt Ray Davies lächelnd, „aber da bissen sie auf Granit.“

Rays Realismus ist nobel und doch nicht ohne Bitterkeit. In die Kriegswirren hineingeboren und aufgewachsen im Norden Londons, im Arbeiter-Milieu von Muswell Hill, lernte er, sich auf die harte, ehrliche Art durchzuboxen. Für Flausen war kein Platz, für Träume schon. „I wanna lot out of life, but I know my limitations“, schrieb Ray mit 20 Jahren für die Kinks, „got my feet on the ground and I’m Standing on my own.“ Einer der wenigen bekennerhaften Songs aus der Feder eines Mannes, der nicht von ungefähr ob seiner Beobachtungsgabe geschätzt wird, ob seiner akribischen Zergliederung der britischen Gesellschaft, ob seines sardonischen Witzes. Nein, zu persönlichen Geständnissen ließ sich Davies selten hinreißen, und selbst im privaten Gespräch, wenn das Tonbandgerät abgeschaltet ist, entschuldigt er sich für gefühlige Momente, als seien sie ihm etwas peinlich.

Was freilich nicht heißt, daß Ray nicht gern über das Gestern redet, über die an Pleiten, Pech und Pannen reiche Geschichte der Kinks. Tatsächlich tat er jahrelang nichts anderes, zog als Storyteller über Land, gab seine Schnurren zum besten über kleine, grüne Verstärker und urgewaltige Riffs. Zwar sparte er Schattenseiten der Bandhistorie weitgehend aus, darunter den eher unrühmlichen Dauerzwist mit Bruder Dave, doch nur, „um das Gesamtbild nicht zu trüben“. Die Pop-Geschichtsschreibung des Raymond Douglas Davies war so eine begradigte, gar zu lineare. Die Dramaturgie eines 90minütigen, mit etlichen Songs gespickten Vortrags habe das einfach verlangt. Und wer die Risse im Fundament untersuchen wolle, könne dies mithilfe seiner Autobiographie tun, die ja nicht zufällig „X-Ray“ heiße.

Rays literarischer Röntgenblick gewährt sicher einige unvermutete Einsichten, gerade in Bezug auf die Frühgeschichte der Kinks, ihre Rivalität mit den anderen Beat-Größen und die daraus resultierenden Komplexe. Ray Davies kann noch heute nicht darüber lachen, wie ohnmächtig und verloren er sich seinerzeit vorkam angesichts der sich überstürzenden Entwicklung hin auf das bald herrschende duale System Beatles/Stones. Während er sich in ihrer gemeinsamen kleinen Dachwohnung um seine hochschwangere Frau kümmerte, machte die Konkurrenz schamlos Schlagzeilen. Es sei ihm vorgekommen, als hätten sich diese beiden Gruppen gegen ihn verschworen nach dem Prinzip „Teile und herrsche“. Symptome von Verfolgungswahn lassen sich ausmachen, wenn Ray von einem Kinks-Gig berichtet, bei dem Mick Jagger zugegen war, aber nicht tanzte: „Mick Jagger, one of the most incredibly natural movers, just stood there.“ Ray empfand das als Affront, als absichtsvolle Demütigung.

„Natürlich ist das nur eine Vermutung“, gibt er zu, „aber ich war wahnsinnig unsicher damals, und es brauchte nicht viel, um meinen Argwohn zu schüren.“

Inzwischen wisse er, daß es für die Kinks nie eine reelle Chance gegeben habe, auf Dauer ganz oben mitzumischen. „Die Leute mit Einfluß sahen in uns Emporkömmlinge, die bald wieder in der Versenkung verschwinden würden. Und das breite Publikum hatte bereits zwei Identifikationsmodelle, die einander bedingten und perfekt ergänzten. Für uns war dazwischen kaum genug Luft zum Atmen.“ Als der „New Musical Express“ den „Best-New-Group-Award“ zwei Jahre in Folge den Stones verlieh und den Kinks nur die Runners-up-Plakette offerierte, war Ray Davies so außer sich, daß er von der Bühne stürmte, ohne den Preis entgegenzunehmen. „In unseren Augen war das Betrug und nicht zu rechtfertigen. Beste neue Gruppe kann man schließlich nur einmal sein.“ Es sollte eine Weile dauern, bis sich Ray damit abgefunden hatte, daß eine Medaille nur zwei Seiten hat und beide schon belegt waren. „Mr. and Mrs. Mum and Dad could relate to the Beatles“, liest sich diese Erkenntnis in „X-Ray“.

„and the Rolling Stones had been sanctioned by the media as the acceptable face of revolution.“

Die Kinks machten Musik, die sich mehr über die Songs als über ein Image verkaufte. Und das bedeutete: mal mehr, mal weniger. Ab 1967 kamen erschwerend Stildefizite hinzu. Die Rüschenhemden und feschen Jackets hatten ausgedient, an ihre Stelle trat Buntes aus den angesagten Boutiquen, den Trends mit einigem Abstand folgend. Nur Dave Davies zeigte sich noch modebewußt, Ray verlor diesen Faden. Irgendwann. „Style, I mean/Never was much, never has been/ But the little bit that was, was all we had“, reimt er in einem weiteren raren Bekennervers, ganz aktuell, in „Stand Up Comic“, einem Track seiner ersten properen Solo-LP „Other People’s Lives“: „And that’s that.“

Rays Sinn für Humor, das belegt dieses Album, ist ebenso intakt wie sein Talent, qua Observation das Absonderliche aus dem Alltäglichen herauszulesen, das Richtige im Falschen zu erkennen. Denn daran läßt er nie Zweifel aufkommen: Es gibt diese Momente menschlicher Größe und unverhofften Glücks auch im bürgerlichen Elend, im kleinbürgerlichen Mief.

Diese Residuen, so sagt und singt Ray Davies, gelte es zu finden und zu verteidigen gegen billige Ironie und Gratis-Zynismus. Weshalb es auch nicht kokett sei, wenn er immer behaupte, er schreibe über das Leben anderer Leute, weil das seine so uninteressant sei. Erst vor ein paar Stunden hatte er den Spruch wieder angebracht, anläßlich einer Präsentation im Berliner Hotel Kempinski, vor überschaubarem Publikum. Das pflichtschuldig lachte, wenn Sir Ray so überaus sympathisch seine Bescheidenheit in Bonmots kleidete. Geglaubt hat ihm keiner, mutmaße ich. „Das ist in Ordnung“, grinst Davies schelmisch, „ich bin mir da ja keineswegs selbst sicher.“

Die neuen Songs sind Allusionen, melodisch wie lyrisch, mal ins Nostalgische abgleitend, dann wieder trocken und bissig. Aggressiv nie, das sei ihm nicht gegeben, meint Ray, doch wisse er es durchaus zu schätzen, wenn in fremden Songs gerechter Zorn walte, Hohn und Häme verspritzt würden. „Wie in diesem Stück von den Sex Pistols, das die Tourismus-Industrie frontal angeht.“ Ray spricht von „Holidays In The Sun“, dessen erste Zeile Johnny Rotten mit aller ihm zu Gebote stehenden Verachtung raunzt: „A nice cheap holiday in other people’s misery“. Punk Rock, der ehrenwerten Gesellschaft in die blasierte Fresse gespuckt. Ray Davies hätte sich das auch getraut, früher, mit den Kinks, aber es war einfach nicht sein Stil. „I’m just another tourist checking out the slums“, singt er auf seiner neuen Platte, „with my plastic Visa, drinking with my chums.“ Eine klare Aussage, indes kein gelungener Reim. Das konnte Davies schon mal besser. Was auch für die über weite Strecken ereignislose Musik auf „Other Peoples Lives“ gilt, für die moderaten Arrangements, die neutrale Produktion. Kein schlechtes Album, mind you, besser allemal als die letzten Kinks-LPs, aber merkwürdig unentschlossen. „Findest du?“, tut Ray entgeistert. „Ich kann dir da nur folgen, was die paar Kinks-Platten betrifft, auf die ich nicht besonders stolz bin. Mit den neuen Aufnahmen kann ich recht gut leben, auch wenn es Jahre dauerte, bis sie endlich fertig waren.“

Der Grund für die Verspätung war ein schmerzhafter, der beinahe tragisch

endete: Ray wurde angeschossen. Am 4.Januar, 2004, in New Orleans. Dorthin hatte er sich zurückgezogen, auf der Suche nach „der amerikanischen Kultur“. Eigentlich sei es eine Frau gewesen, die ihn nach Louisiana gelotst habe. Die Beziehung hielt nicht, doch hielt es ihn in New Orleans. „Ich fühlte mich sehr wohl dort, lebte bei Freunden und fand Ruhe.“

Ray Davies erholte sich „von jahrzehntelangem Druck“, genoß den Müßiggang, schrieb zwischendurch Songs und komponierte Musik für die Paraden einer Schul-Blaskapelle. Alles schien hunky dory, bis zu diesem unglücklichen Tag. Ray saß in einem Restaurant, schäkerte mit seiner Freundin, als ein Kerl hinzusprang, ihr die Handtasche entriß und damit flüchtete. Ray verfolgte und stellte den Gangster, der dem mutigen Musiker ins Bein schoß, bevor er in ein Auto sprang und entkam. Mutig? Fahrlässig träfe es besser, kommentierte anderntags ein Polizeisprecher: „Mr. Davies showed poor judgement in running after the individual.“ Der Meinung ist mittlerweile auch Ray selbst, denn die Schußwunde entzündete sich in der Klinik, es sah zeitweise böse aus für ihn. Etliche Wochen und drei medizinische Einrichtungen später erst hatte er es geschafft. Und wisse nun mehr über die Polizeiarbeit und das Gesundheitssystem in Amerika, als ihm lieb sei.

Hatte er überhaupt eine Ahnung, daß ein Held in ihm steckte?“Oh nein“, wehrt Ray Davies ab, „das war kein heroischer Akt. Ich hatte viel Zeit, darüber nachzudenken. Es lag an meinem seelischen Zustand an jenem Tag. Ich war wie befreit, hatte mir fest vorgenommen, den Abend mit meiner Freundin zu genießen. Es war mir just an jenem Tag klargeworden, daß die Krisenhaftigkeit meiner musikalischen Projekte wie meiner persönlichen Beziehungen ihren Ursprung in meiner Lebenseinstellung hatten. Ich nahm alles zu ernst, ich investierte zu viel Leidenschaft, verlangte zuviel von den Menschen um mich herum. Also nahm ich mir vor. lockerer zu sein. Ich ging die Straße runter, vollkommen relaxed, wir setzten uns, ich dachte, ich hätte den Dreh endlich raus, wie man abschaltet und den Augenblick genießt. Da kommt dieser Kerl, schnappt sich die Tasche, ich renne hinterher und lande auf der Intensivstation. Fuck it. dachte ich, kaum läßt man sich ein wenig gehen, kommt so ein Strolch und holt dich zurück in die fatale Wirklichkeit. Ich stand unter Schock, glaube ich.“

Davies kennt Amerika nun, durchreiste den Kontinent auf die beschwerliche Art: am Boden. Seine letzte große US-Tour fiel in die Zeit nach dem n. September, als der Luftraum gesperrt und das öffentliche Leben wie gelähmt war. Er hat ein paar kurze Filme darüber gedreht, mit wackliger Handcam, die er im Kempinski zwischen die neuen Songs streut. Bewegte, reizlose Bilder von Hotelzimmern oder Soundchecks, mit lakonischen Kommentaren vom Künstler, erschöpfend untertitelt mit Entfernungsangaben: „Cleveland 187 miles“. Die politische Stimmungslage wird kaum thematisiert, doch bei einem Konzert, aus dem anonymen Dunkel, schallt ein Solidaritäts-Slogan. Die vereinzelten Versuche, den britischen Staatsbürger Davies zu vereinnahmen, den Commander Of The British Empire, den englischsten aller Songkünstler, mißlingen. Weil Davies sie ins Leere laufen läßt, schnell überleitet zum nächsten Song. Den er nicht selten erklärt, bevor er ihn performiert, geduldig und mit didaktischem Geschick.

Die Jahre in Amerika verbucht er unter Selbsterfahrung. „Ich begab mich auf die Suche nach etwas schwer Greifbarem, nach dem, was ich unter amerikanischer Kultur verstand. Doch ich fand sie nicht, weder an den Küsten noch im wahren Herzen Amerikas, in den kleinen, noch nicht von großen Konzernen beherrschten Städten dazwischen. Aber ich fand eine Menge über mich selbst heraus.“ Zum Beispiel? „Oh, in Bezug auf Identität. Man hat mir doch immer eine ausgeprägte ‚Englishness‘ attestiert, als Charakterzug gewissermaßen. Ich wehrte mich dagegen, wollte mich nicht darauf reduzieren lassen. All das ,Godfather of Britpop-Geschwätz der letzten zehn Jahre ging mir auf die Nerven. Was hätte ich mit Blur zu tun? Aber aus der Entfernung stellt sich das anders dar. Ich kann diese ,Englishness‘ nicht leugnen, sie ist real, mehr als mir manchmal lieb ist.“ Er sehe gewisse Züge der Kinks sogar in ganz jungen Bands, den Kaiser Chiefs etwa oder den Arctic Monkeys.

Überhaupt: The Kinks. Vor sieben Jahren noch wich Ray beinahe allen Fragen nach seiner alten Band aus, spielte ihre Bedeutung herunter, weigerte sich, über seinen Bruder Dave und ihr verkorkstes Verhältnis zu sprechen. Ray Davies betrieb Vergangenheitsbewältigung, indem er alles aussparte, was ihm unangenehm war. Das hat sich grundlegend geändert. Beim Dinner sitze ich zwischen Ray und Martin „Ray’s my uncle“ Davies, Daves ältestem Sohn, der dem Onkel beim Filmen hilft und seit einiger Zeit damit beschäftigt ist, ein Kinks-Archiv aufzuziehen. Seinem Vater, berichtet er, gehe es wieder gut. Dave Davies hatte einen Schlaganfall erlitten, während sein Bruder an der Schußwunde laborierte. Ein annus horribilis für die Familie, das indes auch ein Gutes hatte. Ray und Dave sind sich über ihren Leidensweg näher gekommen, reden wieder miteinander. Rays Tonfall war wirsch, wenn man ihn auf Dave ansprach, nun ist er warm, voller Anteilnahme. Sogar die Frage nach einer Kinks-Reunion, früher Anlaß für Mienenverfinsterung, wird positiv beschieden. Pete Quaife und Mick Avory stünden bereit, freut sich Martin, das könne unter Umständen ganz schnell gehen. Rav Davies nickt lächelnd.

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