Der Terror der Stille

Auch die sechs veröffentlichten Alben sprechen nicht dagegen: Laurie Anderson ist eine Geschichtenerzählerin. Ihre Lust, den Zuhörer in ihre surrealistischen Visionen zu ziehen, ist ungebrochen. Aber wie unterhält man sich mit einer Frau, die im Vorwort ihres gerade erschienen Buches „Stories From The Nerve Bible“ den Hollywood-Komödianten Steve Martin zitiert: „Talking about music is like dancing about architecture.“ Die Performance-Künstlerin ließ sich jedoch nicht in ihrem Redefluß bremsen und brachte bei der Promotion-Tour für ihr neues Album „Bright Red“ den Terminplan arg in Verzug.

Fünf Jahre sind seit ihrer vorherigen Platte „Strange Angets“ vergangen – im Pop-Business eine Ewigkeit. „Ich bin nicht gerade eine der Schnellsten, diese lange Zeitspanne war mit gar nicht bewußt. Ich brachte ein Theaterstück auf die Bühne, war an Film-Projekten beteiligt und arbeitete über ein Jahr an meinem Buch. Plötzlich die Erleuchtung: Wie wär’s mal wieder mit Musik? Ich schrieb 30 Songs in nur sechs Wochen – so schnell habe ich noch nie gearbeitet.“ Eigentlich sollte daraus eine Doppel-CD werden, aber die Plattenbosse winkten ab. Wen wundert’s? Die assoziationsreichen Texte voller verblüffender Metaphern entführen uns in eine Welt skurriler Märchen aus der Gegenwart.

Auch wenn der Golfkrieg sie immer noch nicht in Ruhe läßt („Night in Bagdad“), wirken die 14 Songs von „Bright Red“ wie autobiographische Zustandsbeschreibungen. Ihre Lieder sind apokalyptische Phantasien – Anderson singt/ spricht von Sintflut und freiem Fall, vom Tod ihres Vaters und einem Alptraum auf dem Hochseil. Fast manisch wiederholt sie die Worte „Remember me“. „Did She Fall Or Was She Pushed?“: Das Titelstück „Bright Red“ ist ein mysteriöser Thriller. Aber Laurie Anderson wehrt sich gegen die destruktive Deutung ihres Songs: „Mein Vater erfreut sich bester Gesundheit – nur vorspielen werde ich ihm diese CD nicht. Außerdem sehe ich Vernichtung und Tod nicht als negative Dinge an: Etwas muß immer zerstört werden. Ich habe nie an die Wahrheit der Sprache geglaubt Wörter wurden erfunden, um zu lügen.“

Deshalb sind ihre Texte auch nie zu fassen: Wie bei moderner Lyrik greifen die Assoziationsketten ineinander, ohne ihren Sinngehalt freizugeben. Musikalisch ist das Album – anders als die bombastischer Vorgänger sehr dezent instrumentiert: Schlagzeug, Synthesizer, Gitarre, Akkordeon. Die alten Mitstreiter Arto Lindsay und Adrian Belew sind wieder dabei, auf „In Our Sleep“ gibt Lou Reed ein kurzes Gastspiel; produziert hat Brian Eno. Erst kurz vor dem endgültigem Mix entschieden sich Eno und Anderson, kein „dekoratives und sinfonisches“ Album zu veröffentlichen. „Brian spielte mir ein überladenes Arrangement eines meiner Stücke vor, und ich war verstört. But I like to be scared!“

Noch hat Laurie Anderson sich nicht entschieden, ob sie auf ihrer anstehenden Tournee das Publikum wieder mit ihrem verdrehten (phonetisch notierten) Deutsch behelligen will; den Vergleich mit dem Papst, der auch in jedem fremden Land versucht, einheimisch zu reden, findet sich nicht sehr komisch. „Ich habe herausgefunden, daß manche Songs auf italienisch viel besser klingen als im Original.“ Zu Beginn der für „Bright Red“ konzipierten Show wird Laurie Anderson kopfüber an einem Seil hängen und undefinierbare Laute ausstoßen. Und ihre Partner sind zwei Comic-Figuren, die sie monatelang auf ihrem PC entwickelt hat. Vielleicht erzählt sie uns dann auch von ihrem Aufenthalt in einem buddhistischen Kloster, wo sie übte, zwei Wochen lang zu schweigen. Denn: „Silence is what most people can’t tolerate.“

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