Die 100 größten Musiker aller Zeiten: Die Essays – Platz 80 bis 71
ROLLING STONE präsentiert: Die 100 größten Musiker und Bands aller Zeiten. Essays u.a. von Smokey Robinson, Rick Rubin, Sheryl Crow, Beck.
Rund 50 Jahre nachdem Elvis in den Sun-Studios „That’s All Right“ einspielte, hat der ROLLING STONE das erste halbe Jahrhundert des Rock’n’Roll im großen Stil gefeiert. 2004 baten wir ein Gremium aus 55 Musikern, Autoren und Plattenfirmen-Managern, die einflussreichsten Musiker dieser Ära auszuwählen. Die Liste der 100 Musiker, die 2011 aktualisiert wurde, ist ein Beitrag zur Rock-Historie. Sie umfasst die Beatles ebenso wie Eminem. Sie reicht vom Rock-Pionier Chuck Berry bis zum Blues-Mann Howlin’ Wolf.
Die Essays über die 100 Besten stammen aus prominenter Feder: Ezra Koenig von Vampire Weekend zollt dem Rapper Jay-Z Tribut. Britney Spears verneigt sich vor „Godmother“ Madonna. Rock’n’Roll hat eine glorreiche Vergangenheit.
Lesen Sie hier, die Plätze 80 bis 71.
80. Elvis Costello
Von Liz Phair
Elvis Costello schreibt Rromane im Drei-Minuten-Format. Er schleicht sich in deinen Kopf – und ist dann nicht mehr rauszukriegen. Wer Elvis Costello liebt, liebt ihn für seine Wahrnehmung: Die Tiefe und Breite seiner Beobachtungsgabe ist unfassbar.
Als ich ein Teenager war, fantasierten viele meiner Freundinnen davon, dass Elvis einmal einen Song über sie schreiben würde. Seine Songs über Frauen oder Mädchen treffen genau ins Herz und ziehen dir den Teppich unter den Füßen weg. Es gibt wenige Künstler, die einen derartigen Einblick in die weibliche Psyche haben, in ihre Gefühle und Gedanken, in ihre Träume und Ängste. Die meisten Rocksongs über Frauen kleben nur an der Oberfläche: „Baby, du siehst so heiß aus, komm lass uns ins Bett gehen.“ Ein Elvis- Song hingegen sagt: „Ich seh durch deine Fassade und verstehe, wie du tickst.“ Er kennt die weiblichen Tricks, das finde ich immer wieder spannend an ihm.
Elvis ist ein Poet mit dem Herzen eines Punks. Wenn er sich in eine Nummer reinkniet und die Sau rauslässt, erinnert er mich ein wenig an Jerry Lee Lewis. Sein Rock-Material hat oft rohe, physische Gewalt – selbst wenn er nur mit dem Piano auf der Bühne ist. Als ich ihn das erste Mal sah, wollte ich nicht glauben, wie er all diese Worte rausspuckt und sich nicht darum schert, ob er dabei die richtigen Noten trifft. Natürlich spielten The Attractions eine wichtige Rolle in seiner Musik: Wenn man versucht, ein ganzes Buch in einen Song zu pressen, ist ein guter Groove schon ganz hilfreich.
Niemand klingt wie er. Musiker mögen Stevie Wonder oder wen auch immer imitieren, aber wie viele klingen wie Elvis? Verdammt wenige. Seine Melodien mäandern nach hier und nach da und sind überhaupt nicht festzunageln. Und nicht zu vergessen: Elvis ist der Idealkandidat für eine langfristige Karriere: Er erfindet sich immer neu, kommt immer wieder mit einem neuen Sound. Aber egal in welcher Phase er gerade steckt – seine Musik sagt immer: Du kannst gerne einsteigen und mitfahren, aber glaub nur ja nicht, ich würde wegen dir anhalten.
79. The Four Tops
Von Smokey Robinson
Eine Vokalgruppe wie sie gibt es nur einmal. Als ich in Detroit aufwuchs, waren sie mit Abstand die talentierteste in der ganzen Gegend. Als ich elf Jahre alt war, gründete ich meine eigene Gruppe, aus der später die Miracles entstanden. Die Four Tops hießen damals noch The Four Aims, und wie sie sangen wir an Straßenecken, auf Schulfesten oder privaten Partys.
Sie waren die erste Gruppe, die moderne Harmonien aufgriff. Sie konnten noch immer Gospel singen, aber sie interpretierten R&B wie keine anderen. Ich liebe Sänger, die man bereits identifizieren kann, wenn sie auch nur den Mund aufmachen – und Levi Stubbs war einer von ihnen, einer der größten, die je gelebt haben. Seine Stimme hatte ein unverkennbares Timbre, und zusammen mit Obie Benson, Duke Fakir und Lawrence Payton war er einfach unschlagbar.
Als sie zu Motown kamen und mit Holland-Dozier-Holland zusammengespannt wurden, gab es kein Halten mehr. Sie sangen einige der packendsten Songs, die je geschrieben wurden: „Standing In The Shadows Of Love“, „Bernadette“, „Reach Out I’ll Be There“, „I Can’t Help Myself“ und „Baby I Need Your Loving“. Später, als Holland-Dozier-Holland ausgeschieden waren, schrieb ich zusammen mit Frank Wilson noch „Still Water (Love)“ für sie.
Sie waren immer großartige Sänger, aber sie waren auch privat großartige Typen. Als sie von Motown unter Vertrag genommen wurden, war ich mit den Miracles bereits an Bord. Aber alle Burschen hielten zusammen wie Pech und Schwefel. Wenn man nach einer 51-Städte-Tournee nach Hause kam, stellte man sich kurz unter die Dusche und fuhr anschließend gleich wieder ins Motown-Büro. Wir spielten Karten oder Billard bis in die frühen Morgenstunden.
Die Four Tops werden immer ganz oben stehen. Ihre Musik ist für die Ewigkeit.
78. The Stooges
Von Thurston Moore
Für mich waren sie immer die perfekte Verkörperung dessen, was Musik sein sollte – Musik als Manifest des nackten Lebens, Musik, die bis in die Extreme der Existenz vorstößt. Sie spielten High-Energy-Blues und orientierten sich an den Freakouts von Jimi Hendrix und dem Geist von John Coltranes Free-Jazz. Für Iggy sollten die Stooges eine Variation dessen sein, was er als Junge in Chicago erlebt hatte: alte Blues-Leute, die sich so sehr in ihre Musik reinhingen, dass – wie Iggy es ausdrückte – „die Musik nur so vom Körper tropfte“.
Ich war 14, als ich zum ersten Mal ein Foto von Iggy sah: der Oberkörper nackt, die Haut mit silberner Farbe besprüht. Er schwitzte und hatte einen abgebrochenen Schneidezahn. Er war jung und sah aus, als sei er komplett außer Kontrolle. Er glaubte, dass das, was er tat, wichtig war – eine Kunst, die sich selbst genügte und nicht auf das Establishment schielte.
Der Sound der Band war simpel und ging doch unter die Haut. Scott Asheton spielte Drums, als spiele er in einer elektrischen Blues-Band. Während sein Bruder Ron kantige Akkord-Progressionen aus der Gitarre schlug, drückte Scott aufs Gas und konnte doch gleichzeitig swingen. Als ich mit Ron für den Soundtrack von „Velvet Goldmine“ zusammenarbeitete, gab er mir in der ersten Woche erst einmal einen Crashkurs, wie Stooges-Songs zu spielen seien. Wir gingen durch das Material von „The Stooges“ und „Fun House“.
„Raw Power“ war dann das ultimative „Fuck-off“-Statement: Die Band ließ alles raushängen und steigerte sich in einen Stupor. Das Album wurde gemeinhin als Trash abgehakt, doch der ursprüngliche Mix von David Bowie hat eine kaputte Qualität, die ihrer Zeit weit voraus war.
Es war ein Erlebnis, die Stooges-Reunion mit Mike Watt am Bass live verfolgen zu dürfen; beim Coachella-Festival 2003 spielten sie ihren ersten Gig. Als Erstes sprang Iggy hoch in die Luft, lief dann zum Bühnenrand und zeigte den Zuschauern den Stinkefinger: „Fuck you, fuck you and fuck you.“ Dann schoss er zur Seite der Bühne, wo die übliche Bagage stand – Sonic Youth, Queens of the Stone Age, Red Hot Chili Peppers – und machte eine Geste, als wolle er sich einen runterholen. Es war wunderbar. Gut zu wissen, dass Iggy noch immer Krieg führt.
77. Beastie Boys
Von Darryl „DMC“ McDaniels
In den frühen Tagen des Rap galt es als gottgegeben, dass nur Schwarze HipHop mochten, während die Weißen ausschließlich auf Rock standen. Die Wirklichkeit sah anders aus. Bei Run-DMC rappten wir über Rockbeats, während eine Punkband wie die Beasties HipHop hörte.
Ich traf sie zum ersten Mal in Rick Rubins Studentenbude an der New York University. Was mich völlig kirre machte, war die Tatsache, dass sie alles über HipHop wussten: Sie kannten die Cold Crush Brothers, Treacherous Three, Afrika Bambaataa – den ganzen Old-School-Shit. Und obendrein konnten sie rappen, sie konnten singen und spielten Instrumente.
Run-DMC gaben ihnen den Song „Slow And Low“, der so etwas wie ihre musikalische Blaupause wurde. Aber dann schrieben sie ihre eigenen Reime, und als „Licensed To Ill“ erschien, ging es schnurstracks auf Nummer eins. Sie schrieben plötzlich Songs wie „No Sleep Till Brooklyn“, die wir liebend gern selbst geschrieben hätten. Sie mischten Rock und Rap wie wir, aber weil sie Punkrocker waren, bekam ihr Material einen anderen Drift.
Das erste Mal tourten wir mit den Beasties auf der „Raising Hell“-Tour 1986. Wir spielten in den Südstaaten, und im Publikum befanden sich ausschließlich Schwarze. Der erste Gig war irgendwo in Georgia, und wir dachten nur: „Hoffentlich drehen die Leute nicht durch, wenn sie die Beasties sehen.“ Aber die Zuschauer liebten sie, weil sie gar nicht erst versuchten, schwarze Rapper zu sein. Sie rappten über Scheiße, die sie kannten: Skateboards,
White-Castle-Hamburger und Fernsehen. Das Echte erkennt das Echte.
Seit Jahrzehnten veröffentlichen sie nun geniale Platten. Als „Paul’s Boutique“ erschien, verkaufte es weniger als ihr Debüt, aber inzwischen haben die Leute erkannt, dass es eine der besten Platten der Achtziger war.
Jeder der Beastie Boys hat eine andere Persönlichkeit. Mike D ist der Checker: Er schaut um sich und saugt alle Informationen auf. MCA war immer der Erwachsene. Und Ad-Rock ist der Griff ins volle Leben – immer freundlich, witzig und interessiert. Aber vielleicht meine liebste Eigenschaft der Beasties ist, dass sie alle so abgeklärt sind: Sie haben mir und vielen anderen eine Menge über das Leben, die Leute und die Musik beigebracht.
76. The Shirelles
Von Paul Shaffer
Die Shirelles hatten einen „Sound“ – ein Terminus, der für die Vocal-Group-Ära der Sechziger von eminenter Bedeutung war.
Shirley Alston Reeves, für die meisten Lead-Vocals zuständig, klang gefühlvoll und lebensnah. Wenn sie sang „Baby, it’s you“, fühlte man sich tatsächlich angesprochen.
Sie waren nicht die erste Girlgroup, aber die erste mit einer ganzen Palette von Hits. Sie beeinflussten so ziemlich alle – von den Ronettes über Motown-Bands wie den Supremes bis hin zu den Beatles, die „Baby It’s You“ und „Boys“ coverten. Sie bekamen allerdings auch einige der besten Songs vorgelegt, die jemals geschrieben wurden: „Will You Love Me Tomorrow“, „Soldier Boy“, „Tonight’s The Night“ oder „Mama Said“. Interessant ist aber, dass sie „I Met Him On A Sunday“, ihren ersten Hit, selbst schrieben, als sie noch in New Jersey auf die Highschool gingen. Und bereits auf dieser Aufnahme kombinierten sie Doo-Wop mit den griffigen Melodien aus der Popmusik. Die Aufnahme beginnt mit der ganzen Gruppe: „Doo ron, day ron, day ron day papa, doo ron“ singen sie alle, bis sich dann die Lead-Vocals herausschälen: „Well, I met him on a sunday …“
Als Kind saß ich nach der Schule zu Hause und spielte ihre Songs auf dem Klavier nach. Später, in den frühen Neunzigern, hatte ich nochmal ein ähnlich inspirierendes Erlebnis, als die Shirelles von der „Rhythm & Blues Foundation“ geehrt wurden: Die drei noch lebenden Mitglieder – Shirley, Beverly Lee und Doris Jackson – waren zu der Preisverleihung erschienen; Addie „Mikki“ Harris war bereits 1982 gestorben. Ich hatte gehört, dass sie sich seit Jahren nicht mehr gesehen hatten – und man hinter den Kulissen etwas nervös war, als die drei schließlich auf die Bühne kamen.
Ein Auftritt war nicht vorgesehen, aber als Doris den Award in die Hand nahm, sagte sie nur: „This is dedicated to the one I love“ – und dann legten sie los und sangen es. Die Begleitband stieg ein, und die Zuschauer konnten es kaum fassen. Und Shirley, Berverly und Doris hatten so viel Spaß, dass sie „Soldier Boy“ noch gleich dranhingen. Dies war eine Gruppe, die seit Jahren nicht mehr zusammen gesungen hatte, aber sie klangen einfach göttlich. Ich habe stramm gestanden und salutiert. Ich konnte einfach nicht anders.