Die 100 größten Musiker aller Zeiten: Die Essays – Platz 80 bis 71

ROLLING STONE präsentiert: Die 100 größten Musiker und Bands aller Zeiten. Essays u.a. von Smokey Robinson, Rick Rubin, Sheryl Crow, Beck.

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Die 100 größten Musiker aller Zeiten: Die Essays – Platz 80 bis 71

Rund 50 Jahre nachdem Elvis in den Sun-Studios „That’s All Right“ einspielte, hat der ROLLING STONE das erste halbe Jahrhundert des Rock’n’Roll im großen Stil gefeiert. 2004 baten wir ein Gremium aus 55 Musikern, Autoren und Plattenfirmen-Managern, die einflussreichsten Musiker dieser Ära auszuwählen. Die Liste der 100 Musiker, die 2011 aktualisiert wurde, ist ein Beitrag zur Rock-Historie. Sie umfasst die Beatles ebenso wie Eminem. Sie reicht vom Rock-Pionier Chuck Berry bis zum Blues-Mann Howlin’ Wolf.

Die Essays über die 100 Besten stammen aus prominenter Feder: Ezra Koenig von Vampire Weekend zollt dem Rapper Jay-Z Tribut. Britney Spears verneigt sich vor „Godmother“ Madonna. Rock’n’Roll hat eine glorreiche Vergangenheit.

Lesen Sie hier die Plätze 80 bis 71.

Die 100 größten Musiker aller Zeiten: Die Essays – Platz 80 bis 71

80. Elvis Costello

Von Liz Phair

Elvis Costello schreibt Rromane im Drei-Minuten-Format. Er schleicht sich in deinen Kopf – und ist dann nicht mehr rauszukriegen. Wer Elvis Costello liebt, liebt ihn für seine Wahrnehmung: Die Tiefe und Breite seiner Beobachtungsgabe ist unfassbar.

Als ich ein Teenager war, fantasierten viele meiner Freundinnen davon, dass Elvis einmal einen Song über sie schreiben würde. Seine Songs über Frauen oder Mädchen treffen genau ins Herz und ziehen dir den Teppich unter den Füßen weg. Es gibt wenige Künstler, die einen derartigen Einblick in die weibliche Psyche haben, in ihre Gefühle und Gedanken, in ihre Träume und Ängste.

Die meisten Rocksongs über Frauen kleben nur an der Oberfläche: „Baby, du siehst so heiß aus, komm lass uns ins Bett gehen.“ Ein Elvis- Song hingegen sagt: „Ich seh durch deine Fassade und verstehe, wie du tickst.“ Er kennt die weiblichen Tricks, das finde ich immer wieder spannend an ihm.

Elvis ist der Idealkandidat für eine langfristige Karriere

Elvis ist ein Poet mit dem Herzen eines Punks. Wenn er sich in eine Nummer reinkniet und die Sau rauslässt, erinnert er mich ein wenig an Jerry Lee Lewis. Sein Rock-Material hat oft rohe, physische Gewalt – selbst wenn er nur mit dem Piano auf der Bühne ist.

Als ich ihn das erste Mal sah, wollte ich nicht glauben, wie er all diese Worte rausspuckt und sich nicht darum schert, ob er dabei die richtigen Noten trifft. Natürlich spielten The Attractions eine wichtige Rolle in seiner Musik: Wenn man versucht, ein ganzes Buch in einen Song zu pressen, ist ein guter Groove schon ganz hilfreich.

Niemand klingt wie er. Musiker mögen Stevie Wonder oder wen auch immer imitieren, aber wie viele klingen wie Elvis? Verdammt wenige. Seine Melodien mäandern nach hier und nach da und sind überhaupt nicht festzunageln. Und nicht zu vergessen. Elvis ist der Idealkandidat für eine langfristige Karriere. Er erfindet sich immer neu, kommt immer wieder mit einem neuen Sound. Aber egal in welcher Phase er gerade steckt – seine Musik sagt immer: Du kannst gerne einsteigen und mitfahren, aber glaub nur ja nicht, ich würde wegen dir anhalten.

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79. The Four Tops

Von Smokey Robinson

Eine Vokalgruppe wie sie gibt es nur einmal. Als ich in Detroit aufwuchs, waren sie mit Abstand die talentierteste in der ganzen Gegend. Als ich elf Jahre alt war, gründete ich meine eigene Gruppe, aus der später die Miracles entstanden. Die Four Tops hießen damals noch The Four Aims, und wie sie sangen wir an Straßenecken, auf Schulfesten oder privaten Partys.

Sie waren die erste Gruppe, die moderne Harmonien aufgriff. Sie konnten noch immer Gospel singen, aber sie interpretierten R&B wie keine anderen. Ich liebe Sänger, die man bereits identifizieren kann, wenn sie auch nur den Mund aufmachen – und Levi Stubbs war einer von ihnen, einer der größten, die je gelebt haben. Seine Stimme hatte ein unverkennbares Timbre, und zusammen mit Obie Benson, Duke Fakir und Lawrence Payton war er einfach unschlagbar.

Wir spielten Karten oder Billard bis in die frühen Morgenstunden

Als sie zu Motown kamen und mit Holland-Dozier-Holland zusammengespannt wurden, gab es kein Halten mehr. Sie sangen einige der packendsten Songs, die je geschrieben wurden. „Standing In The Shadows Of Love“, „Bernadette“, „Reach Out I’ll Be There“, „I Can’t Help Myself“ und „Baby I Need Your Loving“. Später, als Holland-Dozier-Holland ausgeschieden waren, schrieb ich zusammen mit Frank Wilson noch „Still Water (Love)“ für sie.

Sie waren immer großartige Sänger, aber sie waren auch privat großartige Typen. Als sie von Motown unter Vertrag genommen wurden, war ich mit den Miracles bereits an Bord. Aber alle Burschen hielten zusammen wie Pech und Schwefel. Wenn man nach einer 51-Städte-Tournee nach Hause kam, stellte man sich kurz unter die Dusche und fuhr anschließend gleich wieder ins Motown-Büro. Wir spielten Karten oder Billard bis in die frühen Morgenstunden.

Die Four Tops werden immer ganz oben stehen. Ihre Musik ist für die Ewigkeit.

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78. The Stooges

Von Thurston Moore

Für mich waren sie immer die perfekte Verkörperung dessen, was Musik sein sollte – Musik als Manifest des nackten Lebens, Musik, die bis in die Extreme der Existenz vorstößt. Sie spielten High-Energy-Blues und orientierten sich an den Freakouts von Jimi Hendrix und dem Geist von John Coltranes Free-Jazz. Für Iggy sollten die Stooges eine Variation dessen sein, was er als Junge in Chicago erlebt hatte: alte Blues-Leute, die sich so sehr in ihre Musik reinhingen, dass – wie Iggy es ausdrückte – „die Musik nur so vom Körper tropfte“.

Ich war 14, als ich zum ersten Mal ein Foto von Iggy sah: der Oberkörper nackt, die Haut mit silberner Farbe besprüht. Er schwitzte und hatte einen abgebrochenen Schneidezahn. War jung und sah aus, als sei er komplett außer Kontrolle. Er glaubte, dass das, was er tat, wichtig war – eine Kunst, die sich selbst genügte und nicht auf das Establishment schielte.

„Fuck-off“-Statement

Der Sound der Band war simpel und ging doch unter die Haut. Scott Asheton spielte Drums, als spiele er in einer elektrischen Blues-Band. Während sein Bruder Ron kantige Akkord-Progressionen aus der Gitarre schlug, drückte Scott aufs Gas und konnte doch gleichzeitig swingen.

Als ich mit Ron für den Soundtrack von „Velvet Goldmine“ zusammenarbeitete, gab er mir in der ersten Woche erst einmal einen Crashkurs, wie Stooges-Songs zu spielen seien. Wir gingen durch das Material von „The Stooges“ und „Fun House“.

„Raw Power“ war dann das ultimative „Fuck-off“-Statement. Die Band ließ alles raushängen und steigerte sich in einen Stupor. Das Album wurde gemeinhin als Trash abgehakt, doch der ursprüngliche Mix von David Bowie hat eine kaputte Qualität, die ihrer Zeit weit voraus war.

Es war ein Erlebnis, die Stooges-Reunion mit Mike Watt am Bass live verfolgen zu dürfen; beim Coachella-Festival 2003 spielten sie ihren ersten Gig. Als Erstes sprang Iggy hoch in die Luft, lief dann zum Bühnenrand und zeigte den Zuschauern den Stinkefinger: „Fuck you, fuck you and fuck you.“ Dann schoss er zur Seite der Bühne, wo die übliche Bagage stand – Sonic Youth, Queens of the Stone Age, Red Hot Chili Peppers – und machte eine Geste, als wolle er sich einen runterholen. Es war wunderbar. Gut zu wissen, dass Iggy noch immer Krieg führt.

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77. Beastie Boys

Von Darryl „DMC“ McDaniels

In den frühen Tagen des Rap galt es als gottgegeben, dass nur Schwarze HipHop mochten, während die Weißen ausschließlich auf Rock standen. Die Wirklichkeit sah anders aus. Bei Run-DMC rappten wir über Rockbeats, während eine Punkband wie die Beasties HipHop hörte.

Ich traf sie zum ersten Mal in Rick Rubins Studentenbude an der New York University. Was mich völlig kirre machte, war die Tatsache, dass sie alles über HipHop wussten: Sie kannten die Cold Crush Brothers, Treacherous Three, Afrika Bambaataa – den ganzen Old-School-Shit. Und obendrein konnten sie rappen, sie konnten singen und spielten Instrumente.

Run-DMC gaben ihnen den Song „Slow And Low“, der so etwas wie ihre musikalische Blaupause wurde. Aber dann schrieben sie ihre eigenen Reime, und als „Licensed To Ill“ erschien, ging es schnurstracks auf Nummer eins. Sie schrieben plötzlich Songs wie „No Sleep Till Brooklyn“, die wir liebend gern selbst geschrieben hätten. Sie mischten Rock und Rap wie wir, aber weil sie Punkrocker waren, bekam ihr Material einen anderen Drift.

Seit Jahrzehnten veröffentlichen sie nun geniale Platten

Das erste Mal tourten wir mit den Beasties auf der „Raising Hell“-Tour 1986. Wir spielten in den Südstaaten, und im Publikum befanden sich ausschließlich Schwarze. Der erste Gig war irgendwo in Georgia, und wir dachten nur: „Hoffentlich drehen die Leute nicht durch, wenn sie die Beasties sehen.“ Aber die Zuschauer liebten sie, weil sie gar nicht erst versuchten, schwarze Rapper zu sein. Sie rappten über Scheiße, die sie kannten: Skateboards,

White-Castle-Hamburger und Fernsehen. Das Echte erkennt das Echte.

Seit Jahrzehnten veröffentlichen sie nun geniale Platten. Als „Paul’s Boutique“ erschien, verkaufte es weniger als ihr Debüt, aber inzwischen haben die Leute erkannt, dass es eine der besten Platten der Achtziger war.

Jeder der Beastie Boys hat eine andere Persönlichkeit. Mike D ist der Checker: Er schaut um sich und saugt alle Informationen auf. MCA war immer der Erwachsene. Und Ad-Rock ist der Griff ins volle Leben – immer freundlich, witzig und interessiert. Aber vielleicht meine liebste Eigenschaft der Beasties ist, dass sie alle so abgeklärt sind: Sie haben mir und vielen anderen eine Menge über das Leben, die Leute und die Musik beigebracht.

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76. The Shirelles

Von Paul Shaffer

Die Shirelles hatten einen „Sound“ – ein Terminus, der für die Vocal-Group-Ära der Sechziger von eminenter Bedeutung war.

Shirley Alston Reeves, für die meisten Lead-Vocals zuständig, klang gefühlvoll und lebensnah. Wenn sie sang „Baby, it’s you“, fühlte man sich tatsächlich angesprochen.

Sie waren nicht die erste Girlgroup, aber die erste mit einer ganzen Palette von Hits. Aber sie beeinflussten so ziemlich alle – von den Ronettes über Motown-Bands wie den Supremes bis hin zu den Beatles, die „Baby It’s You“ und „Boys“ coverten. Sie bekamen allerdings auch einige der besten Songs vorgelegt, die jemals geschrieben wurden: „Will You Love Me Tomorrow“, „Soldier Boy“, „Tonight’s The Night“ oder „Mama Said“.

Interessant ist aber, dass sie „I Met Him On A Sunday“, ihren ersten Hit, selbst schrieben, als sie noch in New Jersey auf die Highschool gingen. Und bereits auf dieser Aufnahme kombinierten sie Doo-Wop mit den griffigen Melodien aus der Popmusik. Die Aufnahme beginnt mit der ganzen Gruppe: „Doo ron, day ron, day ron day papa, doo ron“ singen sie alle, bis sich dann die Lead-Vocals herausschälen: „Well, I met him on a sunday …“

Ich habe stramm gestanden und salutiert

Als Kind saß ich nach der Schule zu Hause und spielte ihre Songs auf dem Klavier nach. Später, in den frühen Neunzigern, hatte ich nochmal ein ähnlich inspirierendes Erlebnis, als die Shirelles von der „Rhythm & Blues Foundation“ geehrt wurden: Die drei noch lebenden Mitglieder – Shirley, Beverly Lee und Doris Jackson – waren zu der Preisverleihung erschienen. Addie „Mikki“ Harris war bereits 1982 gestorben. Ich hatte gehört, dass sie sich seit Jahren nicht mehr gesehen hatten – und man hinter den Kulissen etwas nervös war, als die drei schließlich auf die Bühne kamen.

Ein Auftritt war nicht vorgesehen, aber als Doris den Award in die Hand nahm, sagte sie nur: „This is dedicated to the one I love“. Und dann legten sie los und sangen es. Die Begleitband stieg ein, und die Zuschauer konnten es kaum fassen. Und Shirley, Berverly und Doris hatten so viel Spaß, dass sie „Soldier Boy“ noch gleich dranhingen. Dies war eine Gruppe, die seit Jahren nicht mehr zusammen gesungen hatte. Aber sie klangen einfach göttlich. Ich habe stramm gestanden und salutiert. Ich konnte einfach nicht anders.

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75. The Eagles

Von Sheryl Crow

Sie mögen vor allem das Erscheinungsbild von Country und Rock geprägt haben, aber für mich machen die Eagles einfach American Music, und großartige obendrein. Es ist ein Wunder, dass eine Band so viele Einflüsse – neben Country und Rock auch Soul, R&B und Folk – assimilieren konnte, um daraus dann einen so genuinen Sound zu destillieren.

Und die Eagles waren eine wirkliche Band. Nach ein, zwei Alben entwickelten sich Don Henley und Glenn Frey zu einem der größten Songwriter-Teams in der Rockmusik, doch Material, vor allem aber begnadete musikalische Beiträge, lieferten sie alle: Randy Meisner und Bernie Leadon, dann Don Felder, später Joe Walsh und Timothy B. Schmit.

Der erste Song, der bei mir wirklich hängenblieb, war „Take It Easy“. Die Lyrics – von Frey und Jackson Browne – hätten auch von Merle Haggard oder Willie Nelson stammen können, doch die Instrumentierung und Energie war definitiv Rock. Und die Kombination beider Elemente war einfach unschlagbar.

Und bis zum heutigen Tage gibt es nichts Genialeres als das Gitarrenriff von „Life In The Fast Lane“

Ich erinnere mich an endlose Cross-Country-Trips mit meinen Eltern. Einmal, als wir nachts durch Texas fuhren, war die einzige Radiostation, die wir empfangen konnten, ein fiepender Mittelwellen-Sender, der aus dem Nirgendwo kam. Aber dann drangen diese gespenstischen ersten Takte von „Hotel California“ aus dem Lautsprecher. Die Eagles lieferten mir den Soundtrack für so viele Sommer.

Die Melodien und Harmonien schienen sofort vertraut: „Desperado“, „Take It To The Limit“, „Tequila Sunrise“ und „Best Of My Love“ gehörten zu den besten Popsongs, die je geschrieben wurden. Und bis zum heutigen Tage gibt es nichts Genialeres als das Gitarrenriff von „Life In The Fast Lane“.

Als ich in den frühen Neunzigern für Don Henley die Back-up-Vocals sang, war es eine fast schon surreale Erfahrung. Die Reaktion der Zuschauer hat die Relevanz dieser Songs für immer in mein Hirn eingebrannt.

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74. Hank Williams

Von Beck

Hank-Songs wie „Lonesome Whistle“ und „Your Cheatin’ Heart“ eignen sich wunderbar zum Mitsingen, weil sie hundertprozent bullshitfrei sind. Die Worte, die Melodie, das Gefühl – alles ist da, alles ist messerscharf und ohne doppelten Boden. Man braucht schon eine ausgeprägte sprachliche Ökonomie und Simplizität, um eine Idee oder ein Gefühl in einen Song zu pressen – und Hank Williams ist dafür das perfekte Beispiel.

Er hatte eine Stimme, mit der man Holz splitten konnte. Sie klang, als käme sie aus einem anderen Teil seines Körpers. Er brauchte keinen Verstärker, wenn er in überfüllten Spelunken sang; selbst der Lärm der Betrunkenen an der Bar hatte gegen sein Organ keine Chance. Die Lokalitäten, in denen er auftrat, waren so krawallig, dass er einen Ringer namens Cannonball Nichols zu seinem Bassisten machte. Er lebte, wie heute wohl Rockstars leben: nichts als touren, trinken und Ärger mit den Weibern.

Für eine Weile war er sogar meine ausschließliche Referenz

Ich kaufte einen Hank-Sampler auf Vinyl für 4,99 Dollar, und es war, als hätte ich den Schlüssel zu einem geheimen Tresor gefunden. Natürlich sind seine Platten für die Countrymusik unglaublich bedeutsam, aber in meinem Fall hatten sie einen ganz anderen Reiz: Sie klangen so exotisch.

Dass ein älterer farbiger Musiker ihm das Gitarrespielen beibrachte, ist nicht unwichtig: Hank mag der archetypische Hillbilly sein, aber unter der Oberfläche tun sich andere Ebenen auf. Für eine Weile war er sogar meine ausschließliche Referenz. Jahrelang spielte ich seine Songs und machte auf „Sea Change“ den bewussten Versuch, Songs zu schreiben, die so direkt und unverblümt sein sollten wie die seinen.

Die 100 größten Musiker aller Zeiten: Die Essays – Platz 80 bis 71

73. Radiohead

Von Dave Matthews

Jedes Mal, wenn ich ein Radiohead-Album kaufe, geht mir durch den Kopf: „Vielleicht kommt dieses Mal ja der große Durchhänger.“ Aber es gibt keine Durchhänger! Ich beginne mich schon zu fragen, ob sie überhaupt etwas Zweitklassiges abliefern können.

Ihre Musik kann zu dir sprechen, und zwar in sehr realer Art und Weise. Sie nimmt dich an die Hand, geht mit dir eine verschwiegene Straße entlang – um plötzlich eine musikalische Bombe auf dich abzuwerfen. Sie kann sich in ein derart komplexes Konstrukt versteigen, dass man schon Angst hat, es würde unter seinem eigenen Gewicht zusammenbrechen – bis dann Thom Yorke des Weges kommt und eine Melodie singt, die dir das Herz aus der Brust reißt.

Es gibt eine Passage auf „Kid A“, die mich klaustrophobisch macht, hoffnungslos verheddert in einem Dschungel aus Stacheldraht – und plötzlich falle ich heraus und sitze an einem Pool und höre Vögel zwitschern. Radiohead können all diese Dinge in Bruchteilen von Sekunden visualisieren.

Jedes Album, jeder Gig ist ein Stich ins Herz

Radiohead geben mir das Gefühl, sie seien Mozart, während ich mich mit der Rolle des Salieri abgeben muss. Yorkes Lyrics treiben mich zur Verzweiflung: Nicht in meinen kühnsten Träumen könnte ich mir vorstellen, etwas so Wundervolles zu kreieren, wie es ihnen in einem einzigen Song gelingt. Ganz zu schweigen, dass sie ein ganzes Album damit füllen. Nach „OK Computer“, ihrem meistbeklatschten Album, schlugen sie mit „Kid A“ einen Haken, wie er im Bilderbuch steht. Ich glaube nicht, dass ihnen die Meinung anderer Menschen gleichgültig ist; es steht nur nicht in ihrer Macht, die Eigendynamik ihrer Musik zu kontrollieren.

Selbst wenn sie live einmal das Visier runterlassen und die Zügel etwas schleifen lassen, verlieren sie nie ihre Vision. Es gibt keinen Punkt, an dem sich Jonny Greenwood oder Ed O’Brien entgeistert anschauen und sagen: „Scheiße, wohin haben wir uns denn jetzt verlaufen?“ Debakel sind ein Fremdwort. Jedes Album, jeder Gig ist ein Stich ins Herz.

Die 100 größten Musiker aller Zeiten: Die Essays – Platz 80 bis 71

72. AC/DC

Von Rick Rubin

Auf der Highschool war ich mit meiner Liebe zu AC/DC ganz allein. Ich war vernarrte in sie, als sie „Problem Child“ in der TV-Sendung „Midnight Special“ spielten. Wie Led Zeppelin hatten sie ihre Wurzeln im amerikanischen R&B, aber sie trieben die Reduktion auf den Rock’n’Roll-Kern weiter als alle anderen.

Rockmusik beginnt für AC/DC mit Chuck Berry und hört ungefähr mit Elvis auf. Sie haben ihre Seele an diesen Groove verkauft – und sie beherrschen ihn wie keine andere Band. „Highway To Hell“ hat einen natürlichen Klang, den ich von keiner anderen Rockplatte kenne. Schnörkel sind unerwünscht, damit gar nicht erst Sand in die Feinmotorik zwischen den beiden Gitarristen Angus und Malcolm Young, Bassist Cliff Williams und Drummer Phil Rudd gerät.

Man kann zu ihrer Musik tanzen

Wann immer ich eine Rockband produziere, versuche ich einen Klang zu kreieren, der den gleichen Druck wie „Highway To Hell“ entwickelt. Ob es nun The Cult oder die Red Hot Chili Peppers sind – ich wähle immer das gleiche Rezept: Halt es simpel, kitzel die Rhythmus-Arbeit der Gitarren heraus. Das klingt einfach, aber AC/DCs Rezeptur ist kaum zu kopieren. Eine großartige Band wie Metallica könnte einen AC/DC-Song notengetreu nachspielen, aber die Spannungsbögen in der Musik wären trotzdem nicht die gleichen.

Ein weiterer Punkt, der AC/ DC von anderen Hard-Rock-Bands unterscheidet. Man kann zu ihrer Musik tanzen. Sie haben nie Funk gespielt, aber alles, was sie spielen, ist funky. Und dieser Beat kann die Massen auf die Beine bringen. Ich sah sie zum ersten Mal 1979 im Madison Square Garden – noch bevor ihr Sänger Bon Scott starb und durch Brian Johnson ersetzt wurde. Die Zuschauer rissen alle Stühle aus der Verankerung und bauten vor der Bühne eine Pyramide daraus. Es war ihre Art zu sagen, wie großartig diese Band war.

Ich lehne mich mal aus dem Fenster und behaupte, dass sie die größte Rock’n’Roll- Band aller Zeiten sind.

Die 100 größten Musiker aller Zeiten: Die Essays – Platz 80 bis 71

71. Frank Zappa

Von Trey Anastasio

In den frühen Jahren von Phish sagten uns die Leute oft, wir klängen wie „Frank Zappa meets The Grateful Dead“. Das klingt schon sehr bizarr, aber zutreffend ist, dass Zappa für mich unglaublich wichtig war. Ich glaube sogar, dass er – neben Hendrix – der beste E-Gitarrist überhaupt war. Zappa näherte sich dem Instrument aus einer ureigenen Perspektive – sowohl klanglich als auch rhythmisch: Alles, was als vermeintlich gottgegebenes Limit akzeptiert wurde, weckte seine Neugier umso mehr.

Ich werde nie vergessen, wie ich ihn das erste Mal live in New York sah; ich ging damals noch zur Schule. Er ließ seine Gitarre auf dem Ständer stehen, um zunächst einmal die Band zu dirigieren. Und er packte die Gitarre nicht an, bis alles perfekt saß. Und dann kam dieser Moment – an dem das ganze Publikum den Atem anhielt –, wo er zur Gitarre ging, sie umschnallte und dann ein mörderisches Solo abbrannte.

1988 sah ich ihn in Vermont auf seiner letzten Tournee. Er spielte das Solo in „City Of Tiny Lites“, bei dem außer Drummer Chad Wackerman alle die Bühne verlassen. Ich saß auf dem Balkon an der Bühnenseite, und als Zappa sich vom Publikum wegdrehte, um mit Chad zu spielen, sah ich dieses breite Grinsen auf seinem Gesicht. Und gleichzeitig war das der Mann, der vertrackte Orchester-Kompositionen wie „The Yellow Shark“ zu Papier brachte! Es ist nur schwer vorstellbar, wie ein einzelner Mensch so viele verschiedene Sachen beherrschte.

Zappa gab mir den Glauben, dass in der Musik alles möglich ist

Als ich Musik für Phish zu schreiben begann, war er ein eminent wichtiger Wegweiser. Songs wie „You Enjoy Myself“ und „Split Open And Melt“ waren bis ins Detail durchkonzipiert, weil ich von ihm gelernt hatte, wie’s ging. Als ich auf dem Bonnaroo-Festival mit meiner zehnköpfigen Band auftrat, spielten wir zwei Coverversionen: „The Devil Went Down To Georgia“ und „Sultans Of Swing“.

Und in beiden Songs spielten die Bläser das Gitarrensolo, Note für Note. Ich wäre nie auf die Idee gekommen, wenn ich nicht Zappa in Vermont gesehen hätte, wo er seine Bläsergruppe unisono Jimmy Pages Solo von „Stairway To Heaven“ nachspielen ließ.

Frank trieb seine Musiker ans Äußerste ihrer technischen Möglichkeiten, und mit Phish versuchen wir Ähnliches. Wir nehmen unsere vier Instrumente und versuchen, alles nur Erdenkliche aus ihnen rauszukitzeln.

Zappa gab mir den Glauben, dass in der Musik alles möglich ist, als er sagte: „Schau her, das sind alles nur Instrumente. Beschäftige dich mit ihnen und finde raus, was sie können und was nicht. Und dann fang an zu schreiben.“