Die 50 besten deutschen Alben II (Platz 35-21)

Die Jury aus heimischen Musikern, Redakteuren, Moderatoren und Größen der Musikindustrie hat getagt - hier nun der zweite Teil der Liste.

Musik gilt als universelle Sprache, warum also sich auf ein Land beschränken? Weil vieles, was in diesem Land produziert wurde, traditionell nicht auftaucht in den diversen Bestenlisten. Teilweise zu Unrecht, wie wir finden. So entstand die Idee, mit einer breit aufgestellten Jury von Leuten aus allen Bereichen (Auflistung siehe unten) zu ermitteln, was bleibt aus vier Dekaden deutscher Popkultur. Denn eine Pop-Liste ist es überwiegend geworden, trotz vereinzelter Nennungen alter Schlager und Liedermacher. Einige wollten oder konnten nicht teilnehmen, doch am Ende kann sich die Jury absolut sehen lassen.

Die Ergebnisse zeigen: Es gibt einen großen popmusikalischen Grundkonsens in diesem Land. So werden die Errungenschaften der experimentellen Krautrock-Elektronik und der Hamburger Schule wie immer am höchsten bewertet. Nur ein Nischendasein führt dagegen der Deutschrock: kein Westernhagen, keine Platte von Bap etc. pp. Wenige Nominierungen gab es auch im Bereich des sogenanten Ost-Rock. Feeling B, Silly und andere wurden selten genannt, trotz der Teilnahme mehrer ostsozialisierter Experten.

Unsere Liste hat natürlich auch eine Debatte über vermeintlich Fehlendes oder zu Unrecht Genanntes losgetreten. So tagt bereits in unserem wie immer sehr lebhaften Forum eine eigene Jury, an der man sich als Forumsmitglied hier beteiligen kann.

Zudem haben wir aus dem Juryergebnis eigene Schlüsse gezogen und an dieser Stelle dazu aufgerufen, etwas gegen die unterpräsentierte Musik aus dem Gebiet der neuen Bundesländer zu tun. Näheres dazu an dieser Stelle.

Doch lesen Sie selbst, wie sich unsere Jury entschieden hat (hier gibt’s bereits die Plätze 50-36) – bei der wir uns ausdrücklich bedanken möchten. Die Teilnehmerliste sowie ein Gewinnspiel zur Aktion findet sich am Ende des Artikels.

#35
Rio Reiser
Rio I
1986 CBS

Die Wiedergeburt des deutschen Schlagers aus dem Geist der Barrikadenträume. Und wer Ton Steine Scherben nicht kannte, hörte hier einfach den kecksten Radiorocker des Landes. Einen klugen Köter, der zu seinen neuen Hörern in der Sprache sprach, von der er wusste, dass sie sie verstehen: der Papst und McDonald’s kommen vor, Reagan und Kurt Felix, die Liebe und die Sterne am Himmel.
Und wenn Rio Reiser explizit über alte Nazis singen wollte, verpackte er das eben in ein Gleichnis: „Menschenfresser“ klingt wie eine blutige Antwort auf Grönemeyers „Männer“, ist mindestens so scharf wie frühere Schlachtlieder – wenn auch, nun ja, amtlich produziert, mit Studiomusikern à la Curt Cress. Ob Rio den Vertrag unterschrieb, um nach dem Ende der Scherben die Schulden zu zahlen, oder ob er die Band nur verließ, weil er den Solodeal­ schon in der Tasche wähnte, darüber streiten sich die Eingeweihten. Aber dann zeigte „Rio I.“ im Bermuda-Dreieck zwischen Schlager, NDW und Deutschrock allen den Weg. Nicht nur die vielen Coverversionen beweisen das. Und was Rio über das Geld dachte, sang er auf der Platte, mit der er es verdiente gleich selbst: „Es ist nicht schlecht, zwar nur Papier, aber’s ist echt!“

#34
Eins Zwo
Gefährliches Halbwissen
1999 YoMama

In grauer Vorzeit, als deutscher HipHop noch ohne Gratis-Koks und Vögelfantasien existierte, gab sich Daniel Ebel den Namen Dendemann und bestieg mit „Ich so, er so“ (auf der „Sport“-EP) den Wortwitz-Gipfel. Auch die LP danach war toll, mit „Danke, gut“ und dem „Mitarbeiter des Monats“: „Und bitte wer kickt mehr derbe Styles als ich? Niemand, Leute, auf keinsten.“ Ganz genau so war es.

#33
Can
Soundtracks
1970 Spoon

Natürlich waren die gewaltigeren Tracks, waren „Yoo Doo Right“, „Halleluwah“ oder „Bel Air“ auf den anderen Platten von Can zu finden. Und doch war es das seltsam schöne „Deadlock“-Stück „Tango Whiskyman“, in dem man Damo Suzuki so nahe zu kommen glaubte wie nie zuvor. Auf „She Brings The Rain“ singt Malcolm Mooney zum letzten Mal – auf Rat des Psychiaters.

#32
Flowerpornoes
… red‘ nicht von Straßen, nicht von Zügen
1994 Moll
Auf diesem Album nahm der Songwriter Tom Liwa der deutschen Sprache alle Schwere und Härte. Fast beiläufig, ja geradezu lässig wirft er seine zen-weisen Gedanken über Liebe und Tod in den lockeren „Harvest“-Scheunensound seiner Flowerpornoes. In „Liane“ verliebten sich nicht nur die Studenten. Es ist völlig unmöglich, zu entkommen …

#31
Herbert Grönemeyer
Mensch
2002 Grönland/EMI

Das war das Thema damals: Wie singt der Mensch Grönemeyer über den Tod? Er tat es überraschend direkt und nachvollziehbar, zum Beispiel mit dem Lied „Der Weg“. Insgesamt führt „Mensch“ den Modernismus fort, der sich auf „Bleibt alles anders“ angedeutet hatte, aber konsequenter und mit weniger Rockgitarre. Viele Lieder überdauern die Zeit, weil Grönemeyer souverän mit der Sprache hantiert und neugierig-unkonventionell arrangiert. Deutsche Kunstlieder fürs dritte Jahrtausend.

#30
Herbert Grönemeyer
4630 Bochum
1984 EMI

Ein 78 Wochen andauernder Aufenthalt in den Albumcharts und fünf Platin-Auszeichnungen markieren den Sieg der bürgerlichen Tugenden über die Rock’n’Roll-Rebellion. Vor allem der Titelsong mit seinem ungelenken Refrainreimen („Bochum/ Ich komm aus dir/ Bochum/ Ich häng an dir“) ist eine Hymne des Bodenständigen. Herbert Grönemeyer versammelt Slogan-Songs („Männer“), die das Wir-Gefühl feiern und den Zeitgeist treffen („Amerika“, „Alkohol“, „Fangfragen“), gefällt sogar in sentimentalen Rollenspielen („Flugzeuge im Bauch“) und als tanzender Witzbold („Mambo“). Während Alfred Kritzers Keyboards und die Gitarren von Gaggy Mrotzek und Jakob Hansonis die Songs hartnäckig antreiben, darf Charlie Marianos Saxofon immer wieder die aufgewühlte Popseligkeit mit schrägen Soli und einigen falschen Tönen stören.

#29
Die Fantastischen Vier
Lauschgift
1995 Sony

Es war der Moment, in dem die vormals bisweilen albern wirkenden Stuttgarter Mittelstands-Rapper endgültig erwachsen wurden. Thomas D entdeckte den philosophischen „Krieger“ in sich, Michi Beck wurde mit „Sie ist weg“ zum Frauenschwarm, Smudo machte sich bei „Populär“ über den eigenen Erfolg lustig, And.Ypsilon blieb der Alte. Es nahmen also alle Fanta-Vier-Musiker jene Rollen ein, die sie im Prinzip bis zum heutigen Tage inne haben. Zusammen gelang ihnen das Kunststück, auch im fortgeschrittenen Alter witzig zu bleiben, ohne jemals albern zu werden.

#28
DAF
Die Kleinen und die Bösen
1980 Mute

„Ich möchte nicht mit dir schlafen, ich möchte jetzt was essen und dann schlafen gehen“: Schöner als in diesem DAF-Song sind Sex und Fitness in der deutschen Popgeschichte später nicht mehr gegeneinander ausgespielt worden. Die Düsseldorfer Band, damals noch zu viert, wagt auf „Die Kleinen und die Bösen“ den Übergang vom freien Experiment mit Elektrobaukasten und Gitarrenkratzen zum strengen Rhythmus-Drill. Die Live-Aufnahme aus dem Electric Ballroom in London (DAF im Vorprogramm von Wire), die die zweite LP-Seite füllt, enthält den mäßig witzigen Nazi-Gag „Die lustigen Stiefel marschieren über Polen“, der Rest der Platte ist schön schmierig und mutwillig brachial.

#27
Spliff
85555
1982 CBS

Anfang der Achtziger hatten Spliff mit der „Spliff Radio Show“ sowie zwei Alben für Nina Hagen bereits Großes geleistet. „85555“ war dann der Quantensprung, Spliff wurden zur deutschen Pop-Avantgarde. Der riesig erfolgreiche Reggae-Witz „Carbonara“, das zärtliche „Heut‘ Nacht“ – Spliff beherrschten das Medium Pop mit unverschämter Perfektion.

#26
Element Of Crime
Damals hinterm Mond
1991 Polydor

„Von draußen kommt ein Zwitschern/ Kleiner Vogel, flieg/ Blaulicht und Zwielicht/ Und ein kleines bißchen Krieg.“ Nach einigen mäßig erfolgreichen englischsprachigen Alben machte Sven Regener das Licht aus, um fortan auf Deutsch zu dichten. Zur wunderbaren Poesie wurde plötzlich immerzu Rotwein getrunken, erste Geistesmenschen bejubelten Regeners „Umgang mit der deutschen Sprache“. Meisterwerk.

#25
The Notwist
Neon Golden
2002 City Slang

Vom Post-Punk hatte sich die Band schon auf dem Vorgänger „Shrink“ Richtung Jazz/Elektronik abgewandt. Auf „Neon Golden“ waren The Notwist dann bei unterkühltem Pop mit elektronischem Rückgrat angekommen. Micha Achers elegisch-körperloser Gesang, Martin Gretschmanns unterkühlte Soundschlieren und sich subtil anschleichende Melodien brachten Notwist in die deutschen Top Ten.

#24
Die Toten Hosen
Ein kleines bisschen Horrorshow
1988 Totenkopf/Virgin

Von der Düsseldorfer Opel-Gang hatte man einen Ausflug ins Theaterfach nicht unbedingt erwartet, doch „Ein kleines bisschen Horrorschau“ verband das Beste aus beiden Welten: Die von Anthony Burgess inspirierten Texte vom brutalen Kampf gegen den stum-pfen Alltag verwandelten sich in trotzige Punkrock-Hymnen wie „1000 gute Gründe“ oder das nicht totzukriegende „Hier kommt Alex“.

#23
Can
Monster Movie
1969 Spoon

Nicht nur wegen der über 20 Minuten von „Yoo Doo Right“ machten Can alles richtig auf ihrem Debüt. Nichtsänger Malcolm Mooney skandierte atemlos über die clevere Repetition „Father Cannot Yell“, in „Outside My Door“ gelang ihm sogar eine Melodie – und Can fast so etwas wie Garage. Krautrock war ja zunächst ein alles andere als schmeichelhafter Begriff gewesen, doch nach „Monster Movie“ lernten die Engländer diese seltsame Improvisationsmusik aus Deutschland lieben. Dabei ist es geblieben.

#22
Can
Ege Bamyasi
1972 Spoon

Kurz zuvor war die Can-Single „Spoon“ in dem Francis-Durbridge-Straßenfeger „Das Messer“ zum Einsatz gekommen. Die hypnotische Beklemmungsmelodie kannte man bald in den Reihenhäusern der Republik, die Krautrock-Pioniere verdienten erstmals richtig Geld. „Ege Bamyasi“ entstand danach in einem besseren Studio, was der Kreativität kaum dienlich war: Die Musiker spielten lieber Schach, als neue Songs zu schreiben. Am Ende hatten sie exakt sechs Stücke – weswegen „Spoon“ auf dem Album zweitverwertet wurde. Ein Umstand, der der glänzenden Rezeption des Albums keinen Abbruch tat.

#21
Beatsteaks
Smacksmash
2004 Epitaph/Warner

Punk-Rock war auf „Smacksmash“ nur noch eine musikalische Sprache unter vielen. Den Berlinern gelang nach jahrelanger Ochsentour eine mitreißende, überaus vitale, sehr eigene Rockmusik: „Ain’t Complaining“, „Hand In Hand“, „Hello Joe“ − Songs, die ein Jahr prägten. Die Beatsteaks nahmen daraufhin Hitparaden und Festivals im Sturm, in nur sechs Jahren ist das Album zum Klassiker gereift. Zu Recht.

Alle genannten CDs sind auf amazon.de/rollingstone50 erhältlich.

Die Plätze 35-21 folgen in der kommenden Woche. Wir verlosen zu jedem Online-Feature in Zusammenarbeit mit amazon.de ein Überraschungspaket bestehend aus 8 CDs aus dieser Liste.
Wer mitmachen will, der beantworte unten stehende Frage und schicke eine Mail mit dem Stichwort „Die 50 besten Alben – Teil II“ an verlosung@www.rollingstone. Bitte die Postadresse angeben:

Gewinnfrage: Wie hieß die Band, die die Spliff-Mitglieder Reinhold Heil, Manfred Praeker und Bernhard Potschka Ende der 80er gründeten (und wenige Jahre später wieder auflösten)?


Die Jurymitglieder:

René Arbeithuber (Musiker, Slut), Andreas „Bär“ Läsker,(Manager, Die Fantastischen Vier) Blixa Bargeld (Musiker, Einstürzende Neubauten), Edgar Berger (CEO Sony Music Germany), Maik Brüggemeyer (Rolling Stone), Christoph Dallach (Redakteur, „Kulturspiegel“), Max Dax (Chefredakteur, „Spex“), Jan Delay (Musiker), Bernd Dopp (Chairman & CEO Warner Music Central & Eastern Europe), Willy Ehmann (Music Man, Sony), Christof Ellinghaus (Labelbetreiber, City Slang), Caroline Frey (Chefredakteurin, „unclesally’s“), Birgit Fuß (Rolling Stone), Max Gösche (Rolling Stone), Beat Gottwald (Manager, K.I.Z. u. a.), Thomas Groß (Journalist, „Die Zeit“), Torsten Groß (Rolling Stone), Anne Haffmanns (Label-Manager, Mute/Domino), Olaf Heine (Fotograf), Joachim Hentschel (Rolling Stone), Birgit Heuzeroth (Label-Manager, Beggars Group), Alfred Hilsberg (Labelchef, What’s So Funny About), Klaus Kalaß (Rolling Stone), Schorsch Kamerun (Musiker, Autor, Theaterregisseur), Andrian Kreye (Redakteur, „Süddeutsche Zeitung“), Albert Koch (Redakteur, „Musikexpress“), Daniel Koch (Rolling Stone), Eric Landmann (Manager, Beatsteaks u. a.), Udo Lange (Musikmanager), Daniel Lieberberg, (Label Head Rock/Urban, Universal Music Domestic), Tom Liwa (Musiker, Flowerpornoes), Anna Loos (Schauspielerin und Musikerin), Mark Löscher (Head of Four Music & Columbia), Marteria (Musiker), Maxim (Musiker, K.I.Z.), Mathias Modica (Musiker, Munk), Uli Mücke (Head of New Music, EMI Germany), Wolfgang Niedecken (Musiker, BAP), Patrick Orth (Manager, Die Toten Hosen), Eric Pfeil (Journalist, u.a. „FAZ“), Dennis Plauk (Chefredakteur, „Visions), Jan Plewka (Musiker, Selig), Peter Radszuhn (Musikchef, Radio Eins), Tobias Rapp (Redakteur, „Der Spiegel“), Stephan Rath (Manager, Tocotronic), Stefan Reichmann (Labelbetreiber und Konzertveranstalter, Haldern Pop), Tim Renner (Unternehmer, Motor), Kiki Ressler (Konzertveranstalter, KKT), Michael Rother (Musiker, Neu!), Norbert Schiegl (Redaktiosleiter, „Musikwoche“), Jörn Schlüter (Rolling Stone), Ruben Jonas Schnell (Journalist, „Byte FM“), Thorsten Seif (Geschäftsführer, Buback), Berthold Seliger (Konzertveranstalter), Frank Spilker (Musiker, Die Sterne), Carsten Stricker (PR-Fachmann), Stefan Struever (A&R-Manager, PIAS), Arnim Teutoburg Weiss (Musiker, Beatsteaks), Peter Urban (Journalist, NDR), Stephan Velten (Promoter), Uwe Viehmann (Freiberuflicher Missionar), Stefan Vogelmann (Managing-Director, Broken Silence), Linus Volkmann (Redakteur, „Intro“), Benjamin von Stuckrad-Barre (Journalist und Autor), Klaus Walter (Journalist und Radiomoderator), Richard Weize (Labelbetreiber, Bear Family), Klemens Wiese (Konzertveranstalter, DEAG), Jan Wigger (Journalist, u. a. „Spiegel Online“), Arne Willander (Rolling Stone), Jürgen Ziemer (Rolling Stone).

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