Die Bekloppten und die Toten

ARNE WILLANDER über das schreiende Elend der Doku-Soap-Schwemme und den surrealistischen Realismus und die Menschlichkeit von „Ally McBeal

Wenn es Abend wird in Deutschland und wir in die Filzpantoffeln schlüpfen, um vorm Kamin ein Pfeifchen zu schmauchen wie einst Gevatter Goethe und dann, nicht wie Gevatter Goethe, den Fernsehapparat einschalten, wenn wir also die Beleidigungen des Tages vergessen wollen und Trost suchen, dann springt uns das Obszöne irgendeiner Wohngemeinschaft an. Menschen sitzen irgendwo herum und brabbeln, als wären die Vorstellungen von ’68 nun doch noch wahr geworden: Das Private ist öffentlich, alles Private ist auch Politik, Orgasmusschwierigkeiten bestimmen das Bewusstsein. Bloß dass „Big Brother“-Karim und „Big Brother“-Frankenbarbie ihre Orgasmen unter der Bettdecke erleben, wo hastig gehoppelt wird. Und das Geschwätz in der Sitzecke von keinem Theoriegehalt getrübt, von keinem Erkenntnisinteresse befeuert ist, in deeem Sinne. „Ich bleibe, wer ich bin“, verspricht Zlatko. „Ich bleib, wo ich bin“ wäre treffender, aber der Tankstellenwart bringt jedenfalls die Subjektphilosophie der Zeit auf den Endpunkt: „Ich will so bleiben, wie ich bin“ – mit Truthahnwurst und „Du darfst“-Margarine, mit Badewanne im Flur und Bettenlager im Verbund mit fünf anderen Deppen, dafür ohne heißes Wasser und Ausgang. Saunen gibt’s nur nackt Schöner wohnen im Fernsehen – im „Girlscamp“, bei „to dub“ und „Popstars“, in „Der Bus“, auf der Insel, demnächst auch noch im Weltall. 2001 a Space odyssey. Schade, dass Stanley Kubrick nicht mehr erleben kann, wie sein Film von der Wirklichkeit überholt wird. Kubrick war zu optimistisch: Sein Computer HAL war menschlicher und herzlicher als die Insassen der Zwangsanstalten, das Interieur der Raumfahre war freundlicher, und selbst die beiden Astronauten, scheinbar unbewegt und effizient, hatten mehr Temperament als die Pfeifen in den Wohngemeinschaften.

Diese Figuren, vermeintlich eben erwachsen geworden, begeben sich zurück in den Mief von Pfadfinderlager und Jugendlandverschickung und Klassenreise, heucheln wieder Gemeinschaft und Mitgefühl und trällern „My Way“ zur Klampfe, und ganz genau wie damals ist immer eine Tusse dabei, die am lautesten kreischt und irgendwann ganz allein falsch röhrt, und weil das peinlich ist, klatschen dann alle. Sie alle haben sich nichts zu sagen, schwatzen aber ohne Unterbrechung. Wobei „Girlscamp“ erwartungsgemäß die avancierte Version von George Cukors Film „Die Frauen“ ist, in dem eben nur Frauen zu sehen und vor allem zu hören sind. „Girlscamp“ beweist: Ohne Drehbuch ist alles noch viel schlimmer, niemand kann das Geplapper ertragen. Und die Kerle werden zum Samenraub herangekarrt Wie aber, denken wir in unserem Fernsehsessel, die Füße auf dem Schemel, erklärt sich in dieser Welt dann der nicht enden wollende Erfolg von „Ally McBeal“, der wunderbarsten, absurdesten, wahrhaftigsten und witzigsten Fernsehserie seit Jahren? Wie kommt es, dass Sekretärinnen, Wurstverkäuferinnen und auch Anke Engelke meinen, sie seien ebenso neurotisch, kirre und unheilbar verrückt wie Ally? Viele Frauen denken schon, sie seien magersüchtig, weil sie sich mit Calista Flockheart identifizieren – die ihre Magersucht natürlich bestreitet Ganz normal langweilige Menschen treffen sich in Cafes bei McBeal-Partys und behaupten, sie ähnelten Richard Fish und John Cage, dem schönsten Männerduo seit Stan & Ollie und Matthau & Lemmon obwohl sie nicht im mindesten so aussehen.

„Ally McBeal“ spielt in einer ganz und gar artifiziellen Welt – und ist doch realistischer und lehrreicher als alle Doku-Soaps zusammen. Denn die Unterschiede zwischen Männern und Frauen werden hier erbarmungslos verhandelt, die Tragödien des Arbeitsalltags bilden hier das Zentrum der Handlung, und die Schicksalsmacht von Krankheit und Tod bestimmt den Plot, so wie sie das Leben bestimmt Käuze, Irre und : Behinderte stellen das Personal. Dass dazu Barry White, AI Green und Randy Newman singen, ist nur scheinbar surrealistisch: Der eine Mann kann eben im Bett nur, wenn er sich wie Barry White fühlt, und der andere leidet an Randy Newmans „Short People“, das bei „Ally McBeal“ freilich in einer Kirche vom Gospelchor intoniert wird. »Ally McBeal“ handelt von der Versehrtheit des Menschen, von seiner Lächerlichkeit und Grandezza, von der Einzigartigkeit seines Strebens. Die Macken von Ally, die Perversionen von Fish und die Schrullen von Cage sind lediglich Übertreibungen von Persönlichkeit, von Charakter – also von dem, was Nominator Christian, Busenwunder Alida und der dicke Harry haben könnten, wenn sie sich nicht zu Clowns machen würden. „Es ist geil, ein Arschloch zu sein“ singen sie oder „Mir kann keiner was“ – aber in Wahrheit sind diese Feiglinge vor einer Existenz geflüchtet, die darin bestand, im Disney-Park mit Batman-Kostüm herumzuhampeln oder in Schleswig-Holstein an Autos herumzuschrauben.

Als bei „Ally“ der Anwalt Billy starb, der arme, verwirrte Billy, da waren wir erschüttert. Es war so wirklich.

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