Die deutschen Top 100 sollen sauber werden. Doch gehören Manipulationen wirklich der Vergangenheit an?

Die deutschen TOP 100 sollen sauber werden. Doch gehören Manipulationen wirklich der Vergangenheit an? von Peter Wagner Die im Dunkeln sieht man nicht, oder man versucht zumindest, aktiv wegzusehen. Weil sich Erfolg in der Scheinwerferwelt des Pop vor allem über den Chartplatz definiert, können seit Branchengedenken etwa ein Dutzend Schattengestalten existieren, die sich durch diskrete Basisarbeit an der Hitparaden-Front goldene Nasen verdienen: die „freien Chartpromoter“. Damit sich die Plattenfirmen nicht selbst die Finger schmutzig machen, leistet „das dreckige Dutzend“ die Drecksarbeit: Sie können zwar keine unverkäuflichen Platten in die Charts drücken, sorgen jedoch dafür, daß die von ihnen betreuten Produkte, die an der Schwelle des Chart-Einstiegs stehen, diese Hürde auch überspringen. Seit Mitte des Jahres die Erhebungsmethoden der deutschen „Top 100“ geändert wurden, sind diese Hürden zwar drastisch vergrößert worden, Angst um ihren Job brauchen sich die Schattenmänner aber nicht zu machen. Das liegt – früher wie heute – am System: „Ein von Menschenhand geschaffenes System ist immer manipulationsfahig“, meint Peter Zombik, als Geschäftsführer des „Bundesverbandes der Phonographischen Wirtschaft“ auch oberster Chart- Hüter der Nation. Offizielle Verkaufsdiarts gibt es in Deutschland seit den 70er Jahren. 1977 wurde „Media Control“ in Baden-Baden mit der Ermittlung der Top 50 betraut. 1980 wuchsen die Charts auf 75,1989 auf 100 Plätze. Fast 20 Jahre lang beruhte die Ermittlung auf Fragebögen (Tip-Listen), die wöchentlich von rund 400 Plattenhändlern („Tippern“) ausgefüllt wurden. Auf dem Fragebogen waren 92 Titel vorgedruckt, zehn weitere Titel konnten die Händler auf Freifelder hinzuschreiben. Mit der Zeit wuchs das statistische Instrumentarium in eine Dimension, wie sie sonst nur bei Bundestagswahl-Hochrechnungen zu finden ist Synchron wuchs damit die Trefferquote (und die Zuverlässigkeit) der Auswertungen. (Und „Media Control“ selbst: Wo immer die Charts veröffentlicht werden – „Media Control“ kassiert. Nur die Erstauswertungs-Rechte liegen bei den beiden Branchenmagazinen „Musikmarkt“ und „Musikwoche“, die dafür 1,2 Millionen Mark jährlich an den Bundesverband überweisen.) Der wiederum subventionierte seit Mitte 1993 den Plattenhändlern mit je 5000 Mark die Umstellung auf Computerkassen. Seit Juli ’96 nämlich rechnet der „Media Control“-Computer mit Daten, die zu knapp 80 Prozent nicht mehr auf den eingesandten Fragebögen beruhen, sondern von den Kassencomputern der Händler online (und verschlüsselt) über das „PhonoNet“ nach Baden-Baden übermittelt werden. Mußte man sich bislang auf die Ehrlichkeit der Händler verlassen, die am Freitag Abend die verkauften Exemplare der jeweiligen Platten auf ihren Fragebogen notierten, so kennt „Media Control“ nun die tatsächliche Anzahl der verkauften Produkte. Bis Frühjahr ’97 sollen die Charts komplett auf PhonoNet-Daten umgestellt werden(audiwenn die WOM-Kette eine Kooperation bislang ablehnt), die ersten Auswirkungen des neuen Systems sind jedoch bereitsjetzt sichtbar – und sie decken zugleich die Schwächen der alten Erhebungsmethode auf. Bislang fielen in den Charts diverse Produkte völlig unter den Tisch: Nischenthemen wie New Age oder diverse Metal-Spielarten, Backkatalog-Produkte, die durch einen neuen Boom plötzlich wieder gut verkaufen, sowie alles, was in deutscher Sprache gesungen wird und nicht zur Spielklasse von Grönemeyer, Westernhagen, Prinzen oder Hosen zählte. Aktuelles Beispiel: Wolfgang Petry. Der Schlagersänger kletterte mit seinem Album ^iUes“ völlig überraschend auf Platz Eins. „Das ist ein Musiksegment, das in den Läden fast schon unter dem Tisch gehandelt wird und früher nie getippt wurde“, erklärt Manfred Gillig, Chefredakteur der „Musikwoche“, die Revo lution der Hitparade. „Nun sieht man plötzlich, wieviel ein Petry oder ein Hansi Hinterseer wirklich verkaufen.“ Christian Wolff, Marketingchef von Petrys Firma Hansa, freut sich, daß „wir endlich Charts haben, die der Konsument entscheidet – und nicht der Tippen Es ist einfach unfair, was diese deutschen Geschmacksdeppen da manchmal veranstaltet haben.“ Ihren tatsächlichen Verkäufen angemessener als bislang zeigen sich nun auch Produkte ganz anderer Sparten in den Charts. So stießen die Darmstädter Synthie-Weichspüler De/Vision auch ohne die geballte Marketingmacht einer Major-Firma auf Platz 37 vor – nach Gilligs Einschätzung „im alten System völlig unmöglich“. De/Vision – auch das eine Folge der neuen Methode – flogen allerdings auch in dem Moment aus den Top 100 wieder heraus, als die schnellen Verkäufe an die kleine, eingeschworene Fangemeinde nach drei Wochen nachließen. Ein ebenso schnelles Geschäft sind seit Jahren die aktuellen Randthemen im Metal-Bereich: Bis ein Tipp Händler auf das neue (und schnell verkaufende) Produkt aufmerksam wurde und es auf seinem Fragebogen eintrug, fielen die Verkaufszahlen schon wieder in den Keller. Geschmackswillkür oder schnöde Unkenntnis der Tipper traf Platten quer durch die Bank: „Eine deutsche Crossover-Band aus Münster ist nie so bewertet worden wie etwa Pearl Jam„, erinnert sich Christian Wolff mit Grausen an Tage, als H-BlockX von ihrem Debüt zwar 410 000 Einheiten absetzten, jedoch nie eine angemessene Chartplazierung erzielte. Den Bandnamen der US-Band Type O Negative schienen etliche Tipper auch eher mit „Tip sie besser nicht“ übersetzt zu haben: „Nach dem alten System wären wir nie so schnell und hoch reingekommen“, meint Henk Hakker von Type’s deutscher Plattenfirma Roadrunner. Roadrunner verkaufte im September in der ersten Woche rund 60 000 Type O-Platten und schoß damit auf Platz fünf. Das Album rutschte aber binnen sechs Wochen – analog zu den nachlassenden Verkäufe – auf Platz 32. Das alte System hätte diesen Abstieg gebremst, denn die Tipper hatten die (verständliche) Angewohnheit, hoch plazierte Alben als überdurchschnittlich verkaufsträchtig einzustufen. Die Liste der Opfer und Begünstigten des neuen Systems ist schon jetzt lang. Ein paar Beispiele: -Manowar (von Null auf Sieben) -Pearl Jam (rein auf Sechs, aber inzwischen runter auf 42 – hätte sich früher länger in den Top 20 gehalten) -Westernhagen (früher ein sicherer Null-auf-Eins-Einstieg, jetzt „nur“ enttäuschender Vierter) -The Bates (überraschender Platz Zehn, ruck zuck runter auf 51). Ein Phänomen, das von Chartshüter Peter Zombik durchaus gewünscht war. „Der Markt wird jetzt wirklichkeitsnäher abgebildet, als es die Fragebogenerhebung konnte. Jeder Titel hat die gleiche Chance.“ Chancengleichheit in der Hitparade? Eine Vision, die den eingangs erwähnten Schattenmännern schon immer ein gequältes Lächeln auf die Lippen zauberte. In den Charts galten (und gelten zum Teil noch) dieselben Regeln wie auf Orwells „Animal Farm“ – alle Platten sind gleich, einige sind gleicher: „Man sah ja, mit welchem Marketingaufwand, mit welchen Massen an Produkt im Handel Finnen wie die EMI ein Produkt noch irgendwie auf die 90er-Ränge reingedrückt haben“, meint Roadrunners Hakker. Solche „Chartpower für Schwerpunktthemen“ funktionierte im alten System zwar nicht bei jedem Produkt gleich gut, aber sie funktionierte immer nach dem gleichen Prinzip: Eine Firma drückt einem freiberuflichen Chartpromoter einen Teil des Werbebudgets in die Hand. Das Produkt soll in die Hitparade gehebelt werden; wie der Freie das macht, ist seine Sache. Auch Zombik kennt die schwarzen Schafe zur Genüge: „Es gibt diverse unabhängige Promotion-Aktivisten, die im Auftrage von Interessenten den Händlern bestimmte Tips geben.“ Ziel: Der Händler sollte geneigt gestimmt werden, die Titel „schon mal in den Freifeldern vorzumerken“. Zombiks Verband hat zwar mit „Media Control“ ein aufwendiges Prüfverfahren der Fragebogen-Daten entwickelt, mit dessen Hilfe klare „Ausrutscher“ bei den Meldungen ausgesiebt werden konnten. Machtlos aber waren die Verbandler bei den dicken Fischen im „Chartpower“-Teich: „Natürlich machte es keinen Sinn, Hunderten von Händlern einen Videorecorder zu schenken“, verrät ein Insider, der vorsichtshalber nicht namentlich zitiert werden wilL „Aber wenn ein Chartpromoter mit 200 oder 250 Händlern – sagen wir mal – freundschaftlich verbunden ist, dann langte das schon.“ Einigen Firmen langt der kurzfristige Erfolg „Charteinstieg“ jedoch nicht Petra Husemann von „Motor“ zum Beispiel hat wenig Lust, für einen schnellen Chartplatz Geld herauszuwerfen: „Das ist doch geisteskrank: Du gehst in die Charts, fällst in der nächsten Woche wieder raus, kommst vielleicht in der Rücklaufwoche noch mal rein, aber dann ist Schluß.“ Da rechnete es sich oft eher, Mini-Manipulationen aus bescheidenen Bordmitteln zu versuchen: „Man erinnerte etwa die Tipper daran, daß es dieses neue Produkt gibt, in der Hoflhung, daß er es auf einem Freifeld notiert“, so Hakker. „Diese Erinnerung kann ein Mailing sein, oder wir holen uns drei Telefonkräfte rein, die pro Woche 600 Händler anrufen und einfach nachfragen, wie sich das Produkt denn verkauft habe und ob sie es denn nicht auf den Tippbogen nehmen möchten.“ In Zukunft jedoch wird es um weit mehr gehen als nur um kleine Aufmerksamkeiten. Wenn Anfang ’97 keine Fragebögen mehr ausgewertet werden, kommt es allein auf die tatsächlich abgesetzten Stückzahlen an. Und genau hier treten wieder die Chartpromoter auf den Plan – sie können ihre „freundschaftlichen Beziehungen“ zum Handel nun gebrauchen, um den Händler mit Hilfe guter Worte und „kleiner Geschenke“ davon zu überzeugen, ein bestimmtes Produkt im Laden bevorzugt zu plazieren: „Besonders in dem hart umkämpften Weihnachtsgeschäft kann es schon entscheidend sein, wer das Schaufenster erhält“, weiß Christian Wolff, und Insider wissen längst: „Die wichtigsten Promoter bleiben im Geschäft.“ Reihum hat die Industrie auf die neue Situation reagiert: Der Anteil der Handelspromotion in den Werbe-Etats wurde im letzten Quartal auf 40 bis 50 Prozent (früher maximal 25 Prozent) hochgefahren. Dabei muß freilich, wie Zombik betont, scharf unterschieden werden: „Wir werden immer damit leben müssen, daß Firmen ihre Marketinginstrumente einsetzen, um bessere Chart-Ergebnisse zu erreichen. Die Frage ist nur: Findet das in einer illegalen Zone statt?“ Die Sorge ist nicht unberechtigt: Nachdem bislang nur mit hohem Aufwand an der Händlerfront manipuliert werden konnte, sind nun zumindest theoretisch – ganz andere Schwindeleien möglich. Zwar sind die Daten, die von den Computerkassen zum Media Control-Rechner überspielt werden, so „wasserdicht wie möglich codiert“ (Zombik), dennoch gilt auch hier die alte Hacker-Regel: Einen Rechner zu knacken ist keine Frage des „ob“, sondern eine Frage des „wann“. Und es ist eine Frage des Wollens. Ein Denkanstoß: „Wenn eine Firma eine bestimmte Single unbedingt in die Charts pushen will, dann kann sie das auch“, verrät ein Insider. Und zwar so: „Die Firma hat fünf neue Singles, vier davon sind ihr scheißegal, aber XY muß unbedingt in die Charts. Dann kleben sie im Preßwerk auf alle fünf Singles den Barcode von XY drauf. Wann immer eine der fünf Platten an der Computerkasse erfaßt wird, werden die Daten als Verkaufszahlen von XY überspielt. So einfach geht das.“ J3

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