Die Gedanken sind drei

Joachim Hentschel über die Erben der Scherben, die Hüter der Brüder und die Schwierigkeit, im Reich der Neuen Mitte noch Protest-Songs zu schreiben

AIs ich 16 war, erschien die erste Solo-Platte von Rio Reiser. Ich saß daheim, weinte zu „Junimond“ in die Teetasse, weil ich unglücklich verliebt war, und wusste nicht, dass anderswo junge Leute noch immer am Umsturz des kapitalistischen Systems arbeiteten. Jahre später ging ich auf Studenten-Partys in den Häusern, die die anderen damals besetzt hatten. Wenn der „Rauch-Haus-Song“ von Reisers alter Band Ton Steine Scherben aufgelegt wurde, weinten die langen Kerle in ihr Bier, weil das nicht geklappt hatte mit der Revolution.

Damit das keiner vergisst, wird das ganze Elend derzeit noch mal in den Programmkinos gezeigt: „Der Traum ist aus“, Christoph Schuchs Doku-Film über Ton Steine Scherben, mit der großartigen Szene, wie der Saxofonist bei einer Fernseh-Diskussion den Tisch zerhackt. Leider muss man auch mitansehen, wie sich Mitglieder von Tocotronic, den Sternen und Element Of Crime stammelnd dafür rechtfertigen, dass sie die Scherben zwar ganz toll finden, aber selbst keine politischen Liederspielen. Das revolutionäre Grundgefühl der Siebziger sei heute halt weg, und dazu nickt sogar der ewige Peter Lustig der deutschen Kulturgeschichte: der Alt-68er. Vielleicht habe ich mich ja verhört, aber hat der deutsche Protest-Song ‚ nicht ausgerechnet dieses Jahr seine Rückkehr gefeiert? Die zuständigen Künstler müssen sehr beschäftigt gewesen sein, denn keiner von ihnen kommt im Film vor.

Jan Delay zum Beispiel, Chef der HipHop-Kinderfreunde Absolute Beginner, singt über die „Söhne Stammheims“ und zeigt sich in RAF-Mode, mit Uzi und Palästinenser-Tuch. Dass jetzt die „Bild am Sonntag“ und der Musik-Sender Viva kooperieren, gefällt ihm sicher weniger. Die spielen ja sein Video, mitsamt der Textzeile: „Ich möchte mich nicht in Köpfen befinden, zusammen mit Gedanken, die unter Einfluss vom Axel-Springer-Verlag entstanden.“ Das ist deutlich. Andere würden sagen: erfrischend unverkopft. Diese zwei Wörter passen ja angeblich gut zusammen. Ähnlich sah das der Kommentator der linken Wochenzeitung „Jungle World“, dem beim Anhören der neuen Blumfeld-Platte „die glamouröse Rückkehr des großen ,Nein‘ ins Popsong-Format“ dämmerte. Jochen Distelmeyer bedichtet die „Diktatur der Angepassten“, die Flüsse vergiften, sich von den Medien für dumm verkaufen lassen und, ganz recht, „über Leichen“ gehen. Reißerisch. Fast Rio-Reiserisch.

Eine hübsche Vorstellung, dass man nur die Worte einfacher machen muss, um die Guten und die Bösen endlich wieder klar voneinander zu trennen. Ist ja alles viel zu fließend heute, keine Feindbilder mehr, die Grünen sind gleichzeitig gegen Atomkraft und für den Kosovo-Krieg, die Eltern haben für alles Verständnis. Dagegen kommen nicht einmal die Globalisierungsgegner an, die hipste Neugründung unter den Interessengruppen, die auch wieder Straßenschlachten im Programm haben: Sogar der Bundeskanzler sagt, dass er ihre Argumente irgendwie voll gut nachvollziehen kann. Wo man doch schon dachte, per Definition die ganze Welt gegen sich zu haben.

In England hat der grienende Neue-Mitte-Frontman Tony Blair jedoch beste Chancen, eine Konsens-Hassfigur wie Margaret Thatcher zu werden. Gegen die ging die letzte große Pop-Revolte: Morrissey enthauptete sie, Elvis Costello trampelte auf ihrem Grab, sogar die opportunistischen Aufsteigertypen Simply Red legten ihr den Rücktritt nahe. Die Kontroverse war freilich minimal: Wer würde eine Ausbeuterin in Schutz nehmen? Aus ähnlichen Gründen ist es heute peinlich, wenn deutsche Musiker ihre Teilnahme an Anti-Rassismus-Festivals als politische Meinungsäußerung deklarieren. Angst haben müsste man, wenn sie nicht gegen rechte Gewalt wären. Selbst bei dem erfreulich fokussierten Projekt * Brothers Keepers, das Geld an die Familie des von Neo-Nazis ermordeten Adriano spendet, sind diese Leute dabei, die vielleicht nicht mehr schweigen können, denen man das aber dringend raten würde: Xavier Naidoo, der eh für alles zu haben ist und nach all dem Schwulst noch die Glaubwürdigkeit eines Teppichvertreters hat. Afrob, der sich laut eigener Aussage nicht entscheiden kann, ob ihm Polizei-Schikanen oder seine unglaubliche Popularität mehr auf die Nerven gehen.

Deshalb, verdammte Nostalgie, bleibt nur Rio Reiser. Der hatte selbst nichts zu fressen, der kannte seinen Marx, ohne ihn ständig zitieren zu müssen. Mein liebster Protest-Song dieses Jahres stammt übrigens von der Hamburger Band Superpunk. „Neue Zähne für meinen Bruder und mich“ handelt von einem Mann, der zum Kidnapper wird, weil er seine Zahnarzt-Rechnung nicht bezahlen kann. Ein schmissiges Anarcho-Lied über die Gesundheitsreform. Könnte Bertolt Brecht geschrieben haben. Der alte Polit-Popper.

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