DIE HAMMER-PLATTE

Wie Peter Gabriel sein größtes Album „So“ aufnahm, MTV eroberte, in den „Miami Vice“-Soundtrack kam. Und endlich den Genesis-Fluch brach. Eine Making-of-Story.

Man hatte schon einiges gesehen, aber noch keinen Mann, der von Früchten und Möbelstücken angegriffen wurde. Dem Fische zum einen Ohr rein- und zum anderen wieder rausschwammen. Dem ein Eisenbahnzug um den Kopf herum fuhr, dem Hämmer aus den Händen wuchsen.

Seltsam, die 80er-Pop-Jahre waren so voller Bilder und Blitze, Madonna, Mad Max und Duran Duran, voller visueller Charaktere und grell leuchtendem Begehren – und doch ist das Video, das eine Video, das über 20 Jahre später für die Dekade steht, „Sledgehammer“ von Peter Gabriel. Ein fünfminütiger Trickfilm, in dessen Mittelpunkt der wahnsinnig unpoppige Kopf des damals 36-jährigen Künstlers Gabriel steht, der wie ein Charlie Chaplin dem Wirbel der bunten Elemente ausgesetzt ist. Dass „Sledgehammer“, im April 1986 als Single und Video veröffentlicht, auf MTV tatsächlich öfter lief als Michael Jacksons „Billie Jean“, in den US-Charts auf Nummer eins ging und 1987 mit neun gewonnenen Video Music Awards einen bis heute gültigen Rekord aufstellte – das hat vielleicht auch damit zu tun, dass es in diesem Clip, was selten vorkommt, eine Identifikationsfigur für den Zuschauer gibt. Den Sänger, der sich erst über alles, dann über gar nichts mehr wundert.

Ob der unerwartete Welterfolg von „Sledgehammer“ und dem zugehörigen Album „So“ auch das Leben und die Karriere von Peter Gabriel ähnlich wild durcheinanderwirbelte wie die fliegenden Bananen und tanzenden Brathühner aus dem Video – dazu gibt es unterschiedliche Meinungen. Wenn man mit den Leuten spricht, die dabei waren, dann sagen die einen, es sei einfach der logische nächste Schritt gewesen, kein großes Ding. Andere meinen, es habe Gabriel viel Kraft und Disziplin gekostet, zum Volkskünstler zu werden. Manche glauben sogar, es habe ihm nicht besonders gut getan.

Tatsache ist, dass die erste Hälfte der Achtziger für Peter Gabriel eine problematische Zeit gewesen war. Seine Frau Jill hatte ihn mit den zwei gemeinsamen Töchtern Anna und Melanie verlassen. Nach anderthalb Jahren kehrten sie zwar zurück, aber einer Therapie mit Einzel- und Paarsitzungen mussten die Eheleute sich trotzdem unterziehen. Bei seiner alten Band Genesis hatte Gabriel ja vor allem deshalb 1975 abgedankt, weil er sich mehr um seine Familie kümmern wollte. Das war gründlich schiefgegangen.

Derweil feierten nicht nur die zum Trio geschrumpften Genesis, sondern auch Gabriels früherer Kompagnon Phil Collins als Solokünstler endlich die Großtriumphe, von denen man früher gemeinsam geträumt hatte. Als Bob Geldof 1984 die All-Star-Gruppe Band Aid zusammenstellte und 1985 zum „Live Aid“-Superfestival rief, war Collins dabei. Peter Gabriel dagegen wurde nicht einmal gefragt. Er war tief getroffen.

Keine Missverständnisse: In seiner Liga galt Gabriel damals durchaus als erfolgreicher Künstler, hatte 1982 für das vierte Soloalbum in Großbritannien und den USA Goldene Schallplatten bekommen, verkaufte in London oder Philadelphia die Arenen aus. Das Publikum, zum Großteil alte Genesis-Fans, ließ ihm jede Schrulligkeit durchgehen. Die Leute von der Plattenfirma Geffen, zum Großteil keine alten Genesis-Fans, waren weniger kunstsinnig: Nachdem sie Gabriel 1982 für den amerikanischen Raum unter Vertrag genommen hatten, beseitigten sie als Erstes ein altes Privileg. Ursprünglich hatte er durchgesetzt, jedes seiner Alben unter dem neutralen Titel „Peter Gabriel“ auf den Markt zu bringen. Bei Geffen fand man das kommerziell verheerend. Und ordnete an, der vierten Platte einen Namen zu geben. Weshalb, nur in den USA, „Security“ auf dem Cover stand. Es wehte ein anderer Wind.

Gail Colson, Gabriels damaliger Managerin, war also völlig klar, dass das folgende Album kein in Kisuaheli gesungenes Konzeptwerk über das Wanderverhalten der Stechmücke werden durfte, wollte man Ärger mit den Amerikanern vermeiden. Zum Glück schien Gabriel selbst das – aus anderen Gründen – ähnlich zu sehen. „Als Peter zu mir nach London kam und mir erste Demos und Songskizzen vorspielte, merkte ich gleich, dass die nächste Platte anders werden würde“, erinnert sich Colson. „Irgendwie zugänglicher. Manchmal habe ich ihn damit aufgezogen:, Das machst du doch nur, weil du erfolgreicher als Phil Collins werden willst, oder?‘ Er verstand den Spaß.“

Auch ein anderer historischer Einschnitt beförderte Gabriels Wandel zum MTV-Star, zumindest indirekt: Das sagenhafte Label Charisma, 1969 von Colson und dem Ex-Journalisten Tony Stratton-Smith gegründet, Blütenkopf der britischen Musik-Exzentrik und von Anfang an Heimat von Genesis und Gabriel, wurde 1983 von Virgin Records aufgekauft. Richard Bransons ehemaliger Minifirma, die jedoch mit Culture Club, Human League und Japan plötzlich zur erfolgreichsten Hitproduktion Großbritanniens geworden war. Selbstverständlich genoss Gabriel beim neuen Arbeitgeber jede kreative Freiheit. Gleichzeitig war klar, dass sein nächstes Album mit mehr Power auf dem Markt landen würde als die Veröffentlichungen der Charisma-Jahre. „Peter hatte einen Punkt in seiner Karriere erreicht, an dem er absolut bereit war für eine Platte dieser Größenordnung“, sagt Simon Draper, der damals Co-Chef von Virgin war und heute einen Buchverlag in London leitet. „Sein Selbstbewusstsein war gesund, über das alte Prog-Rock-English-Folk-Ding war er endgültig hinweg. Er suchte einen direkteren Ausdruck. Etwas mit größerem Appeal.“

Im Spätherbst 1984 saß Peter Gabriel dann in seinem Scheunenstudio im Anwesen Ashcombe House bei Bath (unweit des Ortes Box, in dem er wenige Jahre später seine Real World Studios bauen ließ). Mit dabei: Gitarrist David Rhodes, seit 1979 in Gabriels Band, und der kanadische Produzent Daniel Lanois, von Rhodes wegen seiner Arbeiten für Harold Budd und U2 empfohlen. Eben hatten die drei ihr gemeinsames Projekt abgeschlossen, den Soundtrack für Alan Parkers Vietnamkrieg-Freundschaftsdrama „Birdy“. Aber es waren zu viele Ideen übrig, um aufzuhören.

Was ein Ausläufer der Filmmusik-Sessions war, wurde mehr und mehr zum Aufroller für ein neues, noch unbeziffertes, unbenanntes Werk – besonders ein Funk-Groove, zu dem sie stundenlang zu dritt jammten, mit Keyboard, zwei Gitarren, Drum-Maschine. „Es machte einen solchen Spaß, dass wir uns einmal sogar gelbe Bauarbeiterhelme aufsetzten, um es zu spielen“, erzählt David Rhodes heute, leicht rätselhaft. „Eine sehr willkommene stilistische Abwechslung. Peter schien zu spüren, dass daraus etwas Besonderes werden würde, das vielen Leuten gefallen könnte. Er wollte den Erfolg, unbedingt.“

„I wanna be your sledgehammer“, sang er dazu. Die einzige Textzeile. Sicher kein Prog Rock.

Aber es gab wichtigere Songs. Das feierliche „Red Rain“, das einen vom Berg herab die schweren Wolken über der Ebene sehen ließ, oder das wie ein afrikanisches Abendlied klingende „Mercy Street“, das Gabriel der US-Dichterin Anne Sexton widmete. Oder „In Your Eyes“, eine glitzernde, donnernde Salve Eighties-Ethno-Pop und das direkteste, unumwundenste Liebeslied, das Gabriel – unter dem Eindruck seiner Ehekrise – bis dahin geschrieben hatte: „I see the doorway to a thousand churches in your eyes“. Irgendwie schaffte er es mit den Stücken, aus denen am Ende „So“ werden sollte, einerseits die Klangforschungen und Abstraktionsspiele der vorherigen Soloalben weiterzutreiben, andererseits aber auch endlich die passenden Pointen zu finden. Und das Pathos. Für „Don’t Give Up“, ein Stück über die Lebensmüdigkeit eines Arbeitslosen, fragte er Dolly Parton als Duettpartnerin an. Ihr Management lehnte ab. Dafür kam Kate Bush, die alte Freundin.

Natürlich war auch „So“ keine leichte Geburt. „Es dauerte ewig!“ sagt Gail Colson – aber dass Gabriel keine Deadlines hatte, war vertraglich festgelegt. Zwischendurch verschwand er wochenlang, um Fachfremdes zu erledigen. Dann entdeckte man zu spät, dass eine der Tonbandmaschinen zu langsam gelaufen war und einiges Material nicht zu retten war. „Peter liebt es eben auch, endlos an allem herumzujustieren, alles immer wieder zu ändern“, sagt Gitarrist Rhodes. „Dan (Lanois, d. Red.) wurde irgendwann richtig sauer auf ihn, weil nichts voranging. Peter musste sich ziemlich ins Zeug legen, um seine Geduld nicht überzustrapazieren.“

Zu den Gastmusikern, die im Lauf eines ganzen Jahres in der Scheune bei Bath vorbeischauten, gehörten diverse Schlagzeuger, unter anderem Ex-Police-Mann Stewart Copeland und Jerry Marotta. Der französisch-afrikanische Drummer Manu Katché aus Paris, damals 27 und international kaum bekannt, konnte sein Glück kaum fassen, als er testweise einbestellt wurde. „Als ich am ersten Tag im Studio zu spielen begann, sah ich plötzlich in Peters Gesicht einen ganz speziellen Ausdruck“, erinnert sich Katché. „Offenbar konnte ich etwas beitragen, eine Farbe, die ideal zu der Musik passte, an der sie schon so lange arbeiteten.“ Am Ende trommelte er auf vier von acht Songs.

Es passierte ganz am Ende von Katchés zweiter, mehrwöchiger Session. Es ging zurück nach Paris, der Fahrer zum Flughafen war schon bestellt, als Gabriel noch ein Stück herauszog. Einen Problemfall, unvollendet. Sogar Chester Thompson, der Superschlagzeuger (und damalige Tourdrummer von Genesis!), hatte versucht, dazu zu trommeln – und es war nicht gut geworden. Ob Manu Katché es nicht einfach noch kurz probieren wolle?

Die Zeit war knapp, aber Katché setzte sich noch einmal hin. Es war „Sledgehammer“. „Mit Soul und Motown-Sachen kannte ich mich bestens aus“, sagt er rückblickend. „Ich glaube, ich spielte drei Takes. Peter war völlig begeistert. Und ich wunderte mich. Normalerweise musste man bei ihm ja alles 20- bis 30-mal aufnehmen.“ Wahrscheinlich war das Unverklausulierte, Entwaffnende seiner neuen Musik nun endlich auch im Rückenmark des echten Peter Gabriel angekommen. Ein langer, lehrreicher Weg. „So“ war fertig. Im Prinzip.

Einer der ersten Außenstehenden, die das Album im Frühjahr 1986 hörten, war der Londoner Grafikdesigner Peter Saville – und zwar widerwillig. Saville, der durch seine Plattencover für Joy Division und New Order berühmt geworden war, schlitterte über seinen damaligen Studiopartner Brett Wickens in das Projekt hinein: Wickens hatte den Design-Auftrag für „So“ erhalten (das damals noch „Good“ hieß, sagt Saville), aber sein Entwurf misslang derart, dass er Saville um Hilfe bat. Auf der Rückfahrt von einer Besprechung mit Gabriel in Bath legte Wickens dann die Vorab-Kassette ins Autoradio ein. „Und ich dachte noch:, Mist, muss das sein?'“, erzählt Saville, der alles andere als Gabriel-Fan war. „Wir fuhren auf der Landstraße,, Red Rain‘ ging los. Und es war ziemlich gut! Als wir uns gerade in die Autobahn einfädeln wollten, kam, Sledgehammer‘ – und ich musste rechts ranfahren. Wir schauten uns an: Hit! Auf einmal wusste ich, mit was für einer Platte wir es hier zu tun hatten.“ Als „Don’t Give Up“ folgte, habe es ihm die Tränen in die Augen getrieben. Auch weil Saville dabei an eine Verflossene denken musste, die just aus der Gegend von Bath stammte.

Das war Peter Saville klar: „Mit einem solchen Album würde Peter ein neues Publikum erreichen. Und natürlich musste man diesen Leuten zeigen, wer Peter Gabriel ist.“ Inspiriert vom französischen Konzeptkünstler Yves Klein und dem selbst gewählten Prinzip des essentialism entwarf Saville das Cover als simples Porträt von Gabriel, im Vinyl-Original ohne jede Typografie (die auf späteren Ausgaben hinzugefügt wurde). Das Bild machte, auf einem speziellen Polaroid-Film, der Fotograf Trevor Key. Key hatte auch die Titelfotos für die ersten zwei Phil-Collins-Albumhüllen geschossen. Wie immer war das absoluter Zufall.

Dass nach all der Mühe, den Entbehrungen, Geistesblitzen und Beharrlichkeiten ausgerechnet die nachgeschobene Arbeit des jungen Filmschulabgängers Stephen R. Johnson den Ausschlag für den lebensverändernden Erfolg von „So“ gegeben haben soll (das „Sledgehammer“-Video, in vier Wochen fertiggestellt, während derer Gabriel 16 Stunden unter einer Glasplatte voller Obst und Fische lag) – das ist schwer zu begreifen, aber wahrscheinlich die Wahrheit. „Dazu kam, dass wir um die Zeit der Video-Veröffentlichung auf der Amnesty-Tour waren („A Conspiracy Of Hope“, u.a. mit U2 und Sting)“, sagt Gitarrist David Rhodes. „ABC übertrug die Show aus dem Giants Stadium in New Jersey ab 20 Uhr live, was bedeutete, dass die ganze Nation noch drei oder vier unserer Songs sah. Das war perfekt.“

Am 19. Mai 1986 kam „So“ auf den Markt, erreichte in Großbritannien die Nummer eins, in den USA die Nummer zwei, eine Position vor „Invisible Touch“ von Genesis (in Deutschland kamen beide bis Platz zwei). Bekam allein in UK und USA acht Platin-Awards, verkaufte bis heute zwischen sieben und acht Millionen Stück. „Eine emotional und musikalisch äußerst komplexe Platte“, schrieb der amerikanische ROLLING STONE und machte im Januar 1987 sogar eine Titelgeschichte daraus: „Peter Gabriel Hits The Big Time“. Fünf Stücke wurden in der Serie „Miami Vice“ verwendet. Die in ihrer ersten Folge noch so eindrucksvoll „In The Air Tonight“ von Phil Collins in Szene gesetzt hatte. Peter Gabriel hat es wohl nicht bemerkt, aber auch das war historische Genugtuung.

Auf Live-Bootlegs aus der Zeit hört man, wie Gabriel, Rhodes, Katché und der Rest der Band das Publikum in den Riesenhallen mit „Sledgehammer“ ärgerten. Wie sie ein anderthalbminütiges Teaser-Intro voranstellten, bis Gabriel gellend einzählte und das berühmte Keyboard-Riff losschlug. „Und auf einmal kamen auch Mädchen und Frauen zu den Konzerten“, sagt Gail Colson. „Weil das Publikum insgesamt größer wurde. Und vielleicht wegen des schönen Fotos auf dem Plattencover.“

Bekam Gabriel damals etwa auch Liebesbriefe und so? „Nein“, lacht die treue Managerin, die 1989 den Dienst quittierte und nicht mehr miterlebte, wie Gabriel 1992 unter Mühen die Nachfolgeplatte „Us“ vollendete. „Aber ein wirklicher Popstar war Peter doch auch nicht, oder?“

Aber klar doch. Fünf großartige MTV-Minuten lang.

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