Die Kinder haften für sich selbst

Die anarchische Rap-Crew Odd Future Wolf Gang Kill Them All und ihr Kopf Tyler, The Creator sind die Popstars der Stunde – obwohl sich nicht mal die Kids vor ihnen sicher fühlen dürfen. Von Joachim Hentschel · Fotos von Bryan Sheffield

Ohne Gebrauchsanweisung soll man Tyler, The Creator nicht treffen. „Also“, beginnt Caius, der A&R von der Londoner Plattenfirma, seine kleine Vorrede, „fragt ihn nichts, was schon irgendwo in Blogs oder Magazinen stand. Fragt auf keinen Fall, welche Musik er hört. Dann schaltet er ab. Seine Aufmerksamkeitsspanne ist kurz.“

Im Biergarten des Berliner Clubs Cassiopeia blendet die Sonne. Die Interviewer sind auf zwei Tische verteilt worden – denn Tyler, Kopf der HipHop-Crew Odd Future Wolf Gang Kill Them All aus Los Angeles, offizieller neuer Mega-Superheld des Rap, hasst solche Pflichten. Weshalb der Stab alles tut, um sie abzukürzen (wir sitzen mit „Visions“, Laut.de und „Eins Live“ zusammen). „Fragt ihn irgendwas! Nach seiner Lieblingsfarbe! Je abstruser, desto besser!“ Im Hintergrund hat Tyler den gegnerischen Tisch verlassen, kommt heran. „Er ist gut drauf heute“, flüstert der Gehilfe. „Die Belgier haben vorgestern nur drei Minuten bekommen!“

Eine fast feierliche Nervosität ist das. Abgesehen von gescheiterten Interviews, brüskierten Würdenträgern, schmerzenden Zuschauerköpfen (weil Tylers Rap-Partner Hodgy Beats in London einen Stagedive vom Boxenturm unternahm) und einer Platzwunde (weil Tyler im Moshpit in Paris einen Ellbogen ans Auge kriegte) war die Europareise der Odd-Future-Abordnung – Tyler, Hodgy, Left Brain und der weibliche DJ Syd The Kyd – ein Triumphzug, wie er in der jüngeren HipHop-Geschichte fast beispiellos ist. Der donnernde Ruf als Bilderstürmer und wahre Rap-Punks eilte dem an guten Tagen zwölfköpfigen Kollektiv, Durchschnittsalter 20, voraus. Wegen Tylers Kakerlaken-Kotz-Video „Yonkers“, Earl Sweatshirts Drogentrip-Blutspritz-Clip „Earl“, millionenfach geklickt. Wegen der mindestens zwölf abend- und hirnfüllenden Dark-Dope- Shit-Crunk-Soul-Alben, die man gratis von ihrer Website laden kann.

Und wegen des irrsinnigen Auftritts in der Jimmy-Fallon-Show auf NBC, wo Tyler und Hodgy mit Skimasken durchs Studio hechteten, wie Bankräuber oder Jet-Entführer, so dass man beim Anschauen Angst kriegt, sie könnten gleich durch den Bildschirm krachen. „Sandwitches“ rappten sie da, ihr Erkennungslied mit dem „Wolf! Gang! Wolf! Gang!“-Mantra und dem Rebellenbekenntnis: „The Golf Wang (sic!) hooligans is fucking up the school again/ And showing you and yours that breaking rules is fucking cool again“. Bevor es eher uncool darum geht, wie man einer schwangeren Frau mit Bauchtritten ihr Baby abtreibt, dass man sie danach trotzdem wieder missbrauchen kann und alle HipHop-Blogger ermordet werden, die den Odd-Future-Shit vor einem Jahr noch scheiße fanden. Ekelhaftigkeiten, für die das Publikum überraschend schnell applaudiert, wenn sie von Rappern kommen. Obwohl der ungefilterte, spätpubertäre Sadismus bei Odd Future ab und zu schon ungekannte Dimensionen erreicht. Zur Legende gehört, dass Earl Sweatshirts Mutter über die Musik so entsetzt war, dass sie den Sohn in ein Internat auf den Samoa-Inseln steckte.

Tyler, The Creator, echter Nachname Okonma, 20, aus Ladera Heights, L.A., nigerianisch-kanadischer Abstammung, ist der Erste, der nun ein Album veröffentlicht hat, das man kaufen kann und muss: „Goblin“. Zierlicher als erwartet ist er, wie immer, schüttelt alle Hände, stellt sich feixend als „John“ vor. Sieht aus wie frisch gebügelt, obwohl er die angeblich einzigen Kleidungsstücke trägt, die er auf der ersten Auslandsreise seines Lebens dabei hat: gestreiften Carhartt-Pullover („Fucking Gucci. Hab ich geklaut.“), braune Hose, blau-orange Vans, auf die er mit Kuli die Odd-Future-Symbole gemalt hat.

Und eine waldgrüne Kappe von Supreme, seinem Leib- und-Magen-Label. „In der Ecke, wo ich aufgewachsen bin, haben sie immer Freiexemplare an die local kids verschenkt“, behauptet er mal so, chillig, müde oder gelangweilt, die Sonne brennt ihm auf den Pelz. Repräsentiert seine Musik L.A.? „Nein.“ Absicht? „Sie tut’s halt nicht. Ich glaube nicht an den Du-bist-ein-Produkt-deiner-Umgebung-Blödsinn.“ Woher die Einflüsse dann kommen? „Ich bin ein Produkt von mir selbst.“ Hinterfragt er sich nie? „Nein. Eigentlich nicht.“ Und wendet sich unvermittelt dem „Visions“-Mann zu: „Magst du Schwänze?“ Harmloser Privatwitz, erklärt er später. Ein Insekt krabbelt über Tylers Hand. Alle erwarten, dass er es aufessen wird, wie die Kakerlake im Video. „No“, sagt er und schaut ihm zu. „He’s cool.“

Fünfundvierzig Minuten dauert die eigenartige Gruppensitzung, und so gewinnen wir glatt 15 Mal so viele Erkenntnisse wie Tage zuvor die armen Belgier: Odd-Future-Mitglied werden kann man nicht, sie sind ein Verbund wie die Mafia oder Al-Qaida. Tyler wohnt noch bei seiner Mutter, will jetzt aber mal ausziehen. Vom ersten großen Geld hat er sich alles gekauft, was er schon immer haben wollte: einen Kapuzenpulli der Marke BBC/Ice Cream und die SpongeBob-Uhr von Burger King, Vintage 2005, für sechs Dollar. Bin Ladens Tod? „Interessiert mich nicht. Solange sie L.A. nicht angreifen.“ Damit es nicht zu nett wird, nimmt er im Biergarten ein blondes Kind ins Visier. „Den Kleinen würde ich gerne ins Gesicht treten. Das wäre lustig! Ein Kind, das eins in die Schnauze kriegt …“

Dann packen wir die frisch eingetroffene „Goblin“-CD aus, und Tylers berühmter Nihilismus läuft aus wie kalter Kaffee. „Oh shit, zeig her …“ Er hat noch kein fertiges Exemplar gesehen. „This is wild“, stammelt er, als er behutsam das Booklet blättert. „Das hab ich mir immer gewünscht …“

Auf „Goblin“ geht es ums Häuten von Frauen, um Motorsägen-Morde, meistens jedoch ums simple, provokante, destruktive Dagegensein. Eine dunkle Platte, musikalisch mellow und natürlich ganz fantastisch, ein komisches Ungleichgewicht und gleichzeitig der Grund, warum Odd Future die Popstars der Stunde sind, so beängstigend und zeitgemäß. Weil es den Charakteren in ihren Stücken gar nicht mehr um echte Kämpfe und Ziele geht, nicht um den Reichtum oder die Gleichberechtigung, um die die alten Rapper gerungen haben. Höchstens noch um ein bisschen Berühmtheit. Die Post-Börsencrash-Kids, die nur zum Zeitvertreib schlitzen und ficken, wie die Bösen in Folterfilmen oder die U-Bahn-Schläger auf den unscharfen Fotos – sie bekommen hier erstmals ihre musikalische Stimme, und die klingt schön genug für die kleinen, weißen iPods. Eminem, Tylers größtes Vorbild, war ja pathetisch dagegen mit seinem Mutter-Tochter-Blabla.

„Kill people, burn shit, fuck school!“, skandieren Tyler, Hodgy Beats und Left Brain, der Refrain von „Radicals“, zu einem Zeitpunkt ihres Auftritts am selben Abend im Cassiopeia, an dem sie sich längst alle Skimasken und Hemden vom Leib gerissen haben. Hodgy, mit dem „MellowHype“-Tattoo über der Brust, balanciert auf den Decks von Syd The Kyd, dirigiert wie mit Adlerschwingen die Menge. Ein Geheimsignal wird aufgeschnappt, die jungen Leute mit den Mützen und „Free Earl!“-T-Shirts entern die Bühne, bis sie voll ist. Ende. Man wird noch den Schulfreunden der Enkelkinder davon erzählen: Damals, als Odd Future zum ersten Mal … Und Tyler hat durchgehalten. Ein „Billboard“-Showcase beim SXSW-Festival brach er nach drei Stücken ab. Weil „Billboard“ doch irgendwie scheiße sei.

„Ich vermisse die Zeit, als alles nur Spaß war“, twittert Tyler ein paar Stunden nach der Berliner Show. „Jetzt ist es Arbeit.“ Bitte nicht schon nostalgisch werden, Dicker! Ein bisschen Arbeit schadet ja nicht.

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